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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

Kapitel 1

Elternhaus, Studium, Soldat, Pfarrer und Studienleiter. Theologische Grundlinien

Als Gerhard Heintze am 8. April 1965 zum Landesbischof der Braunschweigischen Landeskirche gewählt wurde, war er 53 Jahre alt. Er stammte aus einem Pastorenhaushalt. Sein Vater Karl Heintze (1878-1960) war Pfarrer in Wehre bei Goslar gewesen, wo Gerhard Heintze als zweiter Sohn von insgesamt vier Geschwistern am 14. November 1912 geboren worden war. 1917 hatte der Vater in die Arbeitergemeinde im Industriedorf Hemelingen bei Bremen gewechselt.1 „Zu Hause lebten wir sehr einfach. Das Gehalt meines Vaters war nicht hoch, und Mutter hatte keinerlei eigene Einnahmen.2 Am Ende des 1. Weltkrieges und in den Jahren danach, in denen bis Ende 1923 die Inflation geradezu galoppierend anstieg, haben wir manchmal richtig gehungert.“3 Die vier Heintzekinder Hans4, Gerhard, Irmela5 und Wolfgang6 wurden 1923 für sechs Wochen nach Holland verschickt, um dort durchgefüttert zu werden. „Auch nach dem Ende der Inflation blieb der Lebensstandard unserer Familie bescheiden. Gemeinsame Reisen waren eine Seltenheit, und es musste vorher lange darauf gespart werden. So waren wir in den Sommerferien 1926 für drei Wochen mit der ganzen Familie auf Norderney und genossen das sehr.“ 7 „In der Regel verbrachten wir Schulferien zu Hause, badeten im Sommer viel in der Weser und ich machte mit dem Fahrrad häufiger größere Ausflüge in die weitere Umgebung, z.B. nach Verden und Rotenburg. Nicht allzu häufig besuchten wir nach der Konfirmation auch Konzerte und Theateraufführungen in Bremen, natürlich auf den billigsten Plätzen, aber immer mit großer Begeisterung. Ein jährlicher Höhepunkt war für mich seit 1925 der Besuch der Matthäuspassion von J. S. Bach an jedem Karfreitagnachmittag, Einmal durfte ich im Knabenchor auch mitsingen.“8 Seinen Konfirmationsspruch, unter dem sein Vater ihn am 3.4.1927 einsegnete, hat er nicht vergessen: Phil. 3,12: „ Nicht, dass ich’s schon ergriffen hätte oder vollkommen wäre. Ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin“. Das Bibelwort begegnete ihm elf Jahre später erneut.

Am althumanistischen Gymnasium in Bremen machte Gerhard Heintze 1931 Abitur, ohne in den Fächern besondere Schwerpunkte zu entwickeln. 1931- 1933 studierte er in Tübingen bei den Professoren Hans Rückert (Kirchengeschichte), Karl Fezer (Praktische Theologie) und dem damals 30jährigen Karl Heinrich Rengstorf (Neues Testament), wurde Mitglied der Hochschulgruppe der Bekennenden Kirche und schloss Freundschaft mit Albrecht Stumpf, dem Assistenten des Professors für Neues Testament Gerhard Kittel. „Einer Studentenverbindung trat ich in Tübingen nicht bei, obwohl ich von verschiedenen Verbindungen eingeladen wurde. Vielleicht geschah das aus einem heimlichen Protest gegen meinen Vater, der als Student dem Wingolf angehört hatte und gern davon erzählte, aber vor allem wohl wegen meiner Neigung zum Individualismus, der mir das betonte Kameradschaftsleben in den Verbindungen nicht als attraktiv erschienen ließ. Aber gern machte ich in meiner Studentenzeit besonders von Tübingen aus, mit einzelnen Freunden und Bekannten längere Radtouren, etwa in den Schwarzwald oder an den Bodensee, oder auch ins Elsass und gelegentlich auch in die Schweiz.“ 9

Die letzten Semester 1933-1935 studierte Heintze, wie die meisten angehenden Pfarrer der Hannoverschen Landeskirche, in Göttingen, wohnte wie die Hannoveraner im „Stillen Ochsen“, dem „Theologischen Stift“ und hörte bei Prof. Johannes Hempel Altes Testament, Johannes Meyer und Hermann Dörries Kirchengeschichte und Emanuel Hirsch Dogmatik. Er beendete das Studium 1935 mit dem ersten theologischen Examen.

Über den Deutschen Akademischen Austauschdienst und durch Vermittlung seines Freundes Albrecht Stumpf erhielt Heintze ein Auslandsstipendium und besuchte 1935/36 ein methodistisches College in Manchester, beherrschte seither die englische Sprache und erhielt erste Anstöße für die ökumenische Arbeit der Kirche. „Mit Schrecken denke ich an den ersten Abend im College in Manchester zurück. Ich wurde vom Rektor des College offiziell willkommen geheißen, natürlich auf englisch. Ich verstand so gut wie nichts, musste aber gleich für die Begrüßung danken, und zwar gleichfalls auf englisch, was natürlich ein großes und wohl kaum verständliches Gestottere wurde. Aber weil vom ersten Tag meiner Anwesenheit im College niemand mit mir deutsch sprach, auch nicht die Professoren, von denen einige deutsch konnten, kam ich schnell ins Verstehen und Sprechen der englischen Sprache hinein und konnte nach sechs Wochen sogar zum ersten Mal eine Predigt auf englisch halten.“10

Von seiner folgenden Zeit im Predigerseminar Loccum 1936-1938 sagte Heintze, „die Zeit im Predigerseminar war für mich fruchtbarer als das ganze Theologiestudium.“ Nach dem zweiten theologischen Examen im September 1938, das Heintze mit „sehr gut“ abschloss, wurde er am 15. Oktober 1938 in Lüneburg von Landessuperintendenten Feltrup ordiniert und erhielt als Ordinationsspruch seinen Konfirmationsspruch aus dem Philipperbrief.

Heintze hat seinen Konfirmations- und Ordinationsspruch sehr ernst genommen. „Er hat mich mein ganzes Leben begleitet und mir geholfen, mich bis zum Alter als unfertig und weiteren Lernens bedürftig zu verstehen“, erinnerte sich Heintze.11

Heintze hat über dieses Bibelwort auch wiederholt öffentlich nachgedacht. Als die Generalsynode der VELKD 1967 in Goslar tagte, hat Heintze 55jährig als Braunschweiger Landesbischof in einem persönlich gehaltenen Abendvortrag sein Verständnis dieses Bibelwortes ausgebreitet. Die VELKD Tagung hatte als Leitthema „Bekenntnis und Schriftauslegung in der Gemeinde“. Nicht nur in der eigenen Landeskirche herrschte nervöse Unruhe über das kritische Verständnis der Heiligen Schrift. Es hätte nahe gelegen, über das Thema „Die Bedeutung des kritisch-wissenschaftlichen Umgangs mit der Bibel für das Bibelverständnis der Gemeinde“, zu reden, wie Heintze eingangs zugab, wichtiger war ihm an diesem Abend und vor diesem Forum die Auslegung seines Konfirmationsspruches unter der Überschrift: „Was heißt: Ich glaube an Jesus Christus?“ Das Pauluswort aus dem Philipperbrief habe für ihn in seiner Entwicklung große Bedeutung gehabt und bisher behalten. „Ich habe bis heute manches Mal Gelegenheit gehabt, mich an dieses Wort zu erinnern, darüber nachzudenken und mich angesichts auf mich zukommender Fragen und notwendiger Entscheidungen von daher zu orientieren.“12 Heintze sprach von drei Grunderfahrungen des Glaubens als des „von Christus Jesus Ergriffenseins“: erstens „das Gehaltenwerden angesichts der Bedrohung durch ein übermächtiges Schicksal und durch die Macht des Todes“, zweitens die Erfahrung der Vergebung von denen, „deren Lebensweg vor allem durch das eigene Schuldiggewordensein geprägt ist, die mit der vielfältigen Schuld ihres Lebens nicht fertig werden“, und drittens „ganz und vorbehaltlos für den Dienst eben dieses Herrn beschlagnahmt zu werden.“ Dieser drastischen Auslegung folgten indes keine Beispiele zur Veranschaulichung aus dem Leben Heintzes. Da wurde er zurückhaltend und eher schweigsam.

Als er 1978 zum Leitenden Bischof der VELKD gewählt worden war, berief sich Heintze auf seinen Konfirmationsspruch als einer, der „es“ nicht ergriffen hätte, also Anfänger im Glauben und Verstehen sei.13 Als er 1981 den drei Kandidaten gegenüberstand, von denen einer sein Nachfolger werden sollte, erinnerte er die Synodalgemeinde in der Eröffnungsandacht wiederum an Phil. 3,12.14 Auch über die Todesanzeige seines Ordinators Landessuperintendent Johannes Feltrup war dieses Bibelwort gesetzt worden.15

Nach seiner Ordination 1938 wurde Heintze Hilfsprediger in der Johanniskirche in Stuttgart und in Besigheim. Die im Lutherischen Rat vereinten Kirchen hatten nämlich einen Austausch ihrer Nachwuchskräfte vereinbart. Heintze wäre damals ganz gerne in Süddeutschland geblieben. Er kehrte jedoch zurück und versorgte in den ersten beiden Kriegsjahren von der Pfarrstelle in Gifhorn aus zehn umliegende Dörfer mit dem Fahrrad und vertrat die von dort eingezogenen Pfarrer und den Superintendenten. Für ein Jahr versah er die Stelle und Aufgabe eines Studieninspektors in Loccum (das es in der späteren Form damals noch nicht gab) und wurde im August 1941 als Soldat eingezogen.

Am 6. Oktober dieses Jahr heirateten Gerhard Heintze und Ilse Hoppe und wurden in der Celler Stadtkirche vom Stadtsuperintendenten Hans Hoppe getraut. Sie hatte das Berliner Burckhardthaus zur Ausbildung als Gemeindehelferin absolviert. Die Mitwirkung in der Gemeinde war ihr und ihren Geschwistern von Haus aus selbstverständlich. Der ältere Bruder Heinrich wurde später als Lüneburger Landgerichtspräsident lange Zeit einflussreiches Mitglied der Hannoverschen Landessynode, ihre Schwester Friedeburg verlobte sich mit dem jüngsten Heintze Bruder Wolfgang, der jedoch im Oktober 1944 in Memel als Soldat fiel. Später heiratete sie den Pfarrer Gerhard Badenhop, und die andere Schwester Elisabeth heiratete den späteren Theologieprofessor Wolf Dieter Marsch, ein weit verzweigtes kirchliches Engagement. 1942 wurde dem jungen Ehepaar Gerhard und Ilse Heintze die Tochter Anna-Maria geboren. Die Pfarrfrau Heintze hatte inzwischen das Pfarrhaus in Twielenfleth-Hollern bezogen, wo Gerhard Heintze 1943 auf einem Heimaturlaub in die Pfarrstelle eingeführt worden war, ohne selber die Pfarrstelle dauerhaft versorgen zu können. Diese Aufgabe griff die junge 25jährige Pfarrfrau Ilse Heintze energisch an. Als Mitglied der Geheimen Feldpolizei wurde Heintze in Frankreich („hier hatten wir bequeme Unterkünfte und eine sehr ruhige Zeit“), in Russland („mir selber blieben auch dort ausgesprochen kritische Situationen im wesentlichen erspart“), zum Schluss in Ungarn und Österreich eingesetzt. „Ich brauchte keinen einzigen scharfen Schuss abzugeben“, kalauerte er später über diese Zeit, allerdings auch: „beim Rückzug nach Ostpreußen einmal aufs Haar in russische Gefangenschaft geraten.“16

Weder der Abstand vom Ausland, noch die Stille des Kloster Loccums, noch die Schrecken des Krieges bewirkten beim Studenten und Soldaten Heintze ein näheres Nachdenken über den Nationalsozialismus. Bei der März“wahl“ 1936 schrieb er auf den „Wahl“zettel „Hitler: Ja, Rosenberg nein“.17 Das entsprach der vom Hannoverschen Landesbischof August Marahrens in seinen Rundbriefen veröffentlichten Auffassung. „Wie verderblich der Nationalsozialismus von Anfang an war, habe ich in vollem Umfang erst nach dem Kriege erkannt“, erzählte der Großvater Heintze seinem Enkelkind.18 Das ist ein interessantes Detail eines, der schon in der Schule 1930 von seinem Lehrer vor dem Nationalsozialismus gewarnt worden war. Die politische Sogwirkung des „Führers“ hatte auch Mitglieder der Bekennenden Kirche erfasst. Und auch dieses Detail gehört in diesen Zusammenhang: Einmal begegnete der Student Heintze Adolf Hitler ganz nah. „Damals“ – bei einer Wahlkundgebung in Reutlingen – „ging er auf dem Weg zum Rednerpult direkt an mir vorüber. Die anwesende große Menge, zum guten Teil Studenten, schrieen in frenetischer Begeisterung immer wieder ‚Heil Hitler‘ und ‚Sieg Heil‘, was mir aber schon damals als unverständlich und abstoßend vorkam.“19 Es gibt auch gegenteilige Geschichten, wonach ein Hitlerablehner vom Paulus zum Saulus wurde, als Hitler an ihm vorbeikam und ihn fixierte.

Mit der Kapitulation im Mai 1945 geriet Heintze in amerikanische Gefangenschaft, wurde früh entlassen und radelte von Nürnberg durch ein sonniges, besetztes Deutschland in seine norddeutsche Gemeinde Twielenfleth-Hollern zurück. Hier wurde im August die zweite Tochter Irmela geboren. Seit Sommer 1945 konnte er mit seiner pastoralen Arbeit dauerhaft beginnen. Das ging nur ein dreiviertel Jahr gut.

Denn der Ortspfarrer Heintze wurde wegen seiner Mitgliedschaft bei der Feldgendarmerie überraschend in seiner Gemeinde im März 1946 von der englischen Besatzungsmacht verhaftet: ein Schrecken für die Gemeindeglieder und die Familie, deren Zukunft plötzlich verstellt schien. Heintze erinnert sich so: „Einen Schrecken erlebten wir freilich, als ich im März 1946 von den Engländern wegen meiner früheren Zugehörigkeit zu einer Einheit der Geheimen Feldpolizei plötzlich verhaftet und zuerst in das Gefängnis in Stade und danach in ein Konzentrationslager in der Zevener Gegend gebracht wurde. Obwohl ich selber mir keine Kriegsverbrechen vorzuwerfen brauchte, empfand ich nach allem, was auch mir inzwischen über die vielfältige deutsche Schuld am und im 2. Weltkrieg bekannt und bewusst geworden war, meine Verhaftung nicht als ein großes Unglück und Unrecht, sondern als vom Standpunkt der Kriegsfeinde Deutschlands als begreiflich … Wir mussten im Lager hart arbeiten, und die Verpflegung war oft sehr dürftig. Aber unter den Mitgefangenen konnte ich zugleich als Pfarrer wirken. Und nach 10 Wochen wurde ich schon wieder entlassen, ohne dass es zu einer gerichtlichen Verhandlung gekommen war.“20 Dieser spätere Bericht unterschlägt die quälende Ungewissheit für die Familie und die Gemeinde. Heintze wirbt für ein Verständnis der unverhofften Maßnahme und vermeidet jeden Opfergedanken.

Die vierköpfige Pfarrersfamilie blieb nicht in Twielenfleth-Hollern, sondern zog noch im selben Jahr nach Hermannsburg,. Der Direktor der Hermannsburger Mission hatte Heintze aufgefordert, die Stelle eines Missionsinspektors und theologischen Lehrers am Missionsseminar zu übernehmen. Heintze reizte insbesondere der theologische Unterricht an beiden Seminaren. Die Familie lebte sich rasch in das Gemeinschaftsleben mit gemeinsamem Mittagstisch, Musizieren, Lehren und Lernen ein. Im strengen Winter wurde das dritte Kind, der Sohn Michael geboren. Aber Heintze lernte in Hermannsburg auch die Schattenseite der damaligen Mission kennen. Zur Mission gehörte für ihn ohne Zweifel auch das gründliche Bemühen dazu, Nichtchristen und nichtchristliche Religionen wirklich zu verstehen und die vielen Fehler, die die Kirche in der Missionsarbeit begangen habe „und leider immer noch“ begehe, offen zu erkennen und zuzugeben.21

Das Landeskirchenamt wurde auf Heintze aufmerksam, berief ihn in die theologische Prüfungskommission und 1949 in die Leitung des Predigerseminars auf der damals ziemlich einsamen südhannoverschen Erichsburg. Das war nach nur dreijähriger Zeit ein unerwarteter Orts- und Tätigkeitswechsel. Die Erichsburg bestand aus einem Schlossgebäude und einem Gestüt mit wenigen Nebengebäude für die Bediensteten. Der Ort selber, der Bahnhof, Kirche und die einklassige Volksschule waren zwei Kilometer entfernt, wenig Gelegenheit für die Kandidaten zum „Ausbrechen“. Für die Verlobten unter den Kandidaten gab es einmal im Jahr einen Wochenendurlaub. Zölibat auf evangelisch. Die Tätigkeit des Studiendirektors bestand in der Leitung des täglichen zweistündigen Seminars, in dem die Kandidaten Referate hielten, und in der Besprechung von Predigten und Konfirmandenstundenentwürfen der Kandidaten, die vom Studiendirektor einer „Generalkritik“ unterzogen wurden. Heintze war erst 37 Jahre alt und musste sich anfangs durchsetzen. „Zu Beginn meiner Tätigkeit als Studiendirektor waren auch diese Kandidaten größtenteils im Krieg Soldaten gewesen, einige waren sogar wesentlich älter als ich. So war es nicht ganz einfach für mich, mich in die neue Aufgabe einzuleben, zumal einige Kandidaten theologisch besonders bewandert waren und sich mir gegenüber auch überlegen fühlten. Ich arbeitete mich trotzdem ganz gut ein.“22 Die Familie war auf fünf Kinder angewachsen: Anna-Maria (geb.1942), Irmela (geb. 1945), Michael (geb. 1947), Dorothea (geb. 1949) und Andreas (geb. 1952). Ausflüge in den Solling mit Familie und Kandidaten, das regelmäßige Musizieren in einem Streichquartett, wobei die Ehefrau Bratsche und der Ehemann Cello spielten, ein freundschaftlicher Kontakt zu den Nachbarpfarrern hinterließen in der Erinnerung idyllische Eindrücke.


Theologische Grundlinien

Ungern verließen Heintzes schon nach vier Jahren die Erichsburg, weil auf Betreiben von Stadtsuperintendent Kurt Degener das Predigerseminar 1953 in die immer noch stark zerstörte Stadt Hildesheim verlegt wurde, wo ein neues Gebäude neben der im Wiederaufbau befindlichen Michaeliskirche errichtet worden war, für die Vikare ein Umzug in das städtische Angebot, für Familie Heintze ein große Umstellung von der Idylle in die Trümmer einer furchtbar zerstörten Innenstadt. An den Aufgaben des Studiendirektors änderte sich in der Stadt nichts, Heintze vermisste das regelmäßige Predigen, denn in der Michaelisgemeinde predigten der Stadtsuperintendent Degener und der befreundete Pfarrer Dieter Andersen, der spätere Lüneburger Landessuperintendent, und zwar anziehend. Die junge Theologengeneration war fasziniert von einer heftigen Diskussion um die historische Kritik an den neutestamentlichen Schriften. Dazu waren zwei Theologien des Neuen Testamentes mit völlig gegensätzlichen Positionen erschienen, die eine von Rudolf Bultmann, Professor in Marburg, die andere vom Erlanger Professor Ethelberg Stauffer. Bultmann hatte 1941 vor einem Pfarrkonvent einen Vortrag zur mythologischen Form der Texte des Neuen Testamentes gehalten und veröffentlicht. Er wurde nach dem Krieg noch einmal aufgelegt und löste auch in den Kirchengemeinden Interesse aus. Dazu hielt Studienleiter Heintze in Hildesheim ein Referat „Die Frage der Entmythologisierung des Neuen Testamentes.“ Das Manuskript Heintzes zu diesem Thema ist auf den 30.12.1953 datiert. Es ist mit allerlei handschriftlichen Bemerkungen versehen, ein möglicher Grund, dass es sich nicht in dem Vorträgebestand befindet, den das Bischofsreferat später an das Archiv abgegeben hat.23 Es ist unklar, vor wem der Leiter des Predigerseminars, das gerade nach Hildesheim umgezogen war, diesen Abendvortrag gehalten hat. Es sei ein „heißes Eisen“, aber die Gemeindemitglieder seien durch das, was sie von Bultmanns Programm gehört haben, erschreckt und beunruhigt. Andere wiederum seien neugierig und versprächen sich vielleicht sogar eine wirkliche Erneuerung der Predigt der Kirche. Heintze ging also von der Situation des Predigthörers aus. Er gliederte das Anliegen Bultmanns in folgende Gesichtspunkte: (1) Das dreistöckige Weltbild der Bibel und die Vorstellung eines unmittelbaren, übernatürlichen Eingreifens Gottes in das Leben der Menschen und besonders des Weges Jesu von seiner Geburt bis zu seiner Auferstehung sei mythisch. (2) Dieses mythische Weltbild entspreche nicht dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft. Das Weltbild der Menschen habe sich völlig geändert. (3) Beim Predigen und Verstehen der biblischen Texte müssten diese mythischen Beschreibungen erklärt, aber keinesfalls beseitigt werden. „Der mythische Stoff soll nicht eliminiert, sondern interpretiert werden.“ Heintze, der seine Zuhörer möglichst vollständig informieren wollte, beschrieb dann die zwei Seinsweisen des Menschen, des natürlichen, selbstherrlichen, der nach Erfolg und Sicherheit strebe, aber von Angst vor seiner Vergänglichkeit und Sterblichkeit befangen sei und den anderen, neuen Menschen, der vom Christusgeschehen ergriffen sei. Es sind die zwei Seinsweisen, des sündigen und des gerechtfertigten Menschen. In diesem Abschnitt behandelte Heintze auch die die Gemeindemitglieder vor allem interessierende historische Frage. Die in den Evangelien geschilderten Texte über das Leben Jesu wollten nach Bultmann keine historischen Tatsachen berichten, sondern seien Glaubenszeugnisse, die ihrerseits Glauben wecken wollten. Die Verkündigung dieser Glaubenszeugnisse nannte Bultmann Kerygma. „Die Auferstehung Jesu ist kein beglaubigendes Mirakel, durch das dem Glauben an Christus seine Sicherheit gegeben und ihm der Entscheidungscharakter erspart würde“, zitiert Heintze Bultmann. Ostern sei für Bultmann unwesentlich als einmaliges historisches Ereignis in der Vergangenheit, aber entscheidend in seiner Bedeutung als Heil für den modernen Menschen. In einem zweiten Teil untersuchte Heintze kritisch dieses Entmythologisierungsprogramm Bultmanns und kam dessen Ansichten zunächst weit entgegen. Das Anliegen Bultmanns müsste auch die jedes evangelischen Predigers sein. „Die biblische Botschaft soll nicht unverstandener, toter Überlieferungsstoff aus einer fernen, vergangenen Zeit bleiben, sondern als aktueller Anspruch den Hörer von heute erreichen.“24 Heintze unterstützte Bultmanns Ansichten mit Lutherzitaten, u.a. mit folgendem: „Es ist nicht genug, dass du glaubest, die Historien sei wahr, wie sie lautet. Denn das hilft nichts … sondern das ist der rechte gnadenreiche Glaub, den Gottes Wort und Werk fordert, dass du festiglich glaubest, Christus sei dir geboren und seine Geburt dein sei, dir zu gut geschehen.“ Heintze hat vor allem den predigenden Pfarrer und die hörende Gemeinde vor Augen, wenn er sagt: „Wir haben allen Anlass, den radikalen Ruf Bultmanns zu wirklich aktuellem Predigen zu hören, denn die Versuchung ist für uns Prediger immer wieder sehr groß, in altgewohnten allgemeinen historischen oder dogmatischen Formulierungen stecken zu bleiben und uns zu wenig darum zu bemühen, das Evangelium wirklich dem Hörer von heute in der Sprache von heute zu sagen. Bultmann hat schon Recht mit seiner Befürchtung, dass es durchaus möglich ist, in der Form ganz orthodox, ganz überlieferungsgetreu zu reden, einfach die biblischen Aussagen in der Sprache vergangener Zeiten zu wiederholen, ohne dass es zu einer echten, unser heutiges Leben gestaltenden und umprägenden Aneignung kommt, weder beim Prediger selbst, noch bei der Gemeinde.“ Es wäre uns selbst und unserer Kirche sehr zum Schaden, wenn wir uns an dieser Stelle dem radikalen Aufruf Bultmanns, der hier einfach mit Luther übereinstimmt, voreilig entziehen wollten.“25 Heintze machte einen weiteren Schritt auf Bultmann zu, indem er den biblischen Texten den Charakter des Kerygmas zusprach und nicht eines historischen Tatsachenberichtes. Man könne nicht vom Standpunkt eines neutralen Beobachters aus zunächst die Göttlichkeit Jesu historisch nachweisen und sich dann nachträglich auf Grund des Ergebnisses zum Glauben entschließen. „Es gibt keinen andern Weg zu Jesus als durch das Zeugnis der Apostel und Evangelisten hindurch, das selber nicht neutrale historische Berichterstattung, sondern Glaubenszeugnis ist.“ Heintze vermisste im Entmythologisierungsprogramm Bultmanns die absolute Vorrangstellung der Gottesoffenbarung und der Christusherrschaft vor deren Bedeutsamkeit für den modernen Menschen. „Dass Christus der Herr ist, der sich zwar ganz und gar mir zuwendet, aber gerade in dieser Zuwendung doch mir gegenüber bleibt, verschieden von mir selber, das wird bei Bultmann nicht klar. Bei ihm besteht die Tendenz, dass Christus einfach im neuen Selbstverständnis des Glaubenden aufgeht.“26 Es werde bei Bultmann nicht beachtet, dass in der Schrift die theologischen und christologischen Aussagen immer den unbedingt sachlichen Vorrang vor den anthropologischen Aussagen behalten, auch wenn sie von diesen nicht getrennt werden könnten. Man dürfe diese Rangordnung um keinen Preis umkehren. Da Heintze diesen Verdacht bei Bultmanns Theologie nicht los wurde, kam er zu dem scharfen Urteil, dass Bultmanns Darstellung „eine Verzerrung“ der biblischen Botschaft sei und den Grundaussagen der Bibel widerspreche. Bultmann übertreibe auch mit seiner Kritik an den neutestamentlichen Texten, die er viel zu sehr in Abhängigkeit von der gedanklichen Umwelt des Neuen Testamentes sehe und ziehe zu wenig „die Möglichkeit der Eigenständigkeit des Zeugnisses der Apostel und Evangelisten in Betracht.“27 Zum Schluss aber wünschte Heintze eine Fortsetzung der weiteren Beschäftigung mit Bultmanns Theologie und ermunterte seine Hörer: „Wir brauchen bei dem allen keine Angst zu haben, dass die Kirche an dieser Auseinandersetzung sterben und das Evangelium zu Grunde gehen könnte. Gottlob bleibt es bei der Verheißung „Das Wort unsres Gottes bleibt in Ewigkeit“. Es bleibt immer größer als unsere theologische Erkenntnis und setzt sich selber immer wieder durch sowohl gegenüber aller vermeintlichen guten wie auch gegenüber der schlechten Theologie. Das gilt für Bultmann, aber nicht weniger für unsere eigenen theologischen Versuche. Beide mögen sich als untauglich erweisen, veralten und vergessen werden, und wir bleiben hoffentlich nüchtern und sachlich genug auch für uns selbst nichts anderes zu erwarten als: das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit. Die Hörer dieses Abends konnten in Hildesheim durchaus zufrieden nach Hause gehen. Die Kritischen wurden ermuntert, sich mit Bultmann zu beschäftigen und ihren Glauben nicht mehr durch historische Fakten absichern zu müssen. Die Kirche verlangte also nicht diesen „Glauben“ an derlei Historisches. Die Frommen hingegen blieben in ihrer Gewissheit getröstet, dass an der Wirklichkeit Gottes nicht herumentmythologisiert werde, sondern diese wie auch die Christusherrschaft die unangefochtene und indiskutable Voraussetzung ihres Glaubens bleibe. Heintze hatte sich mit dieser Position 1953 weit vorausgewagt, denn die Normaltheologie in der Pfarrerschaft in Westdeutschland und auch in der Hannoverschen wie auch der Braunschweigischen Landeskirche war beherrscht von der Theologie der „Heilstatsachen“, und zwar in Form der weitgehenden Historisierung der neutestamentlichen Aussagen. Diese Behauptung wurden durch den Erlanger Professor Ethelbert Stauffer durch die von ihm entwickelte „Realtheologie“ aufgestellt. 1952 war der von Hans Werner Bartsch herausgegebene zweite Band „Kerygma und Mythos“ erschienen, in dem unterschiedliche Diskussionsbeiträge von Universitätsprofessoren veröffentlicht worden waren, darunter auch der Aufsatz Stauffers „Entmythologisierung oder Realtheologie?“28 Stauffer berief sich auf archäologische Funde der letzten 50 Jahre, die seiner Ansicht nach eine völlig neue Sicht eröffneten. Die Ergebnisse der Formgeschichte der letzten 50 Jahre seien überholt, der historische Quellenwert und Tatsachengehalt der Evangelien sei wesentlich höher als Bultmann es wahr haben wolle. „Wie, wenn z.B. die Wundertätigkeit Jesu und das leere Grab am Ostermorgen zu dem nudum factum des Heilsgeschehens gehörten?“29 Die deutschen Pfarrervereine hatten Stauffer zu einem Grundsatzreferat bei ihrem ersten Zusammentreffen nach dem Kriege in Neustadt eingeladen, und seine Thesen lösten bei der großen Mehrzahl Begeisterung aus. Inmitten der gespensterhaften Kirchenruinenlandschaft in ganz Deutschland (und auch in Hildesheim und Braunschweig), die der totale Krieg hinterlassen hatte, war die versprochene historische Sicherheit wenigstens der biblischen „Tatsachen“ ein großer Trost. Andere, liberal geschulte Pfarrer empfanden derlei Theologie als platt, aber eingängig. Die enorme Wirkung der von Stauffer eloquent vorgetragenen „Realtheologie“ auf die westdeutsche Pfarrerschaft und ihre Predigthörer ist noch nicht beschrieben. Die Zuflucht zu den historisch angeblich gesicherten Heilstatsachen wurde zur Normaltheologie des ebenfalls in Frage gestellten, aber wieder aufgerichteten Programms der Volkskirche. Die Generalsynode der Vereinigten Ev.-luth. Kirche hatte zu ihrer Tagung im April 1952 in Flensburg unter den drei Referenten zum Thema der Entmythologisierung den exponierten Bultmanngegner Prof. Walter Künneth aus Erlangen eingeladen, der sich deutlich gegen das Bultmann Programm aussprach. Die Kirche stünde in einer Entscheidung. „Die Substanzverdünnung, ja Substanzzerstörung der christlichen Kirche durch Bultmanns Ideologie ist nicht zu bestreiten“,30 die anderen (Prof. Wendland, Kiel und Prof. Georg Merz) waren auch ablehnend, nur gemäßigter. Immerhin sprach die Generalsynode kein Verdammungsurteil über Bultmann aus, sondern bat die Bischofskonferenz, „die entscheidenden Fragen einer Klärung zuzuführen“ und Bischöfe und Lehrer der Kirche dazu zu helfen, dass in Predigt und Unterweisung das Wort Gottes recht ausgelegt und den Menschen unserer Tage nahegebracht werde. Sie sah allerdings auch besorgt die Gefahr, „dass die Heilstatsachen Gottes in Lehre und Verkündigung zurückgedrängt, verflüchtigt und zuletzt preisgegeben werden.“31 Die Diskussion, ob überhaupt und wenn ja, wie weit eine Predigt die Ergebnisse der historischen Forschung widerspiegeln und eine Predigtgemeinde damit „befasst“ und darin „eingeweiht“ werden dürfte, hielt noch lange an. Noch 1965 tobte auf der Synode der EKD in Frankfurt ein unversöhnliches Gegeneinander. „Kann man alles glauben, was die Bibel sagt?“ fasste der Kommentator der WELT seinen Eindruck von der Diskussion zusammen. Sein Artikel mit dem Untertitel „Ungewissheit“ wurde auch im Braunschweiger SONNTAG abgedruckt.32 Für den Kommentator reduzierte sich das theologische Programm Bultmanns auf eine einzige Frage: „Ist „es“ nun passiert oder nicht? Ist er aus dem Grab gekommen oder nicht? Ist er über den See gegangen oder nicht? Ist er in Bethlehem geboren oder nicht?“ Wer in der Antwort Zweifel zuließ und intellektuelle Redlichkeit einforderte, musste sich vor dem Vorwurf eines Unruhestifters von Ungewissheit rechtfertigen.

Der Umzug nach Hildesheim brachte Heintze in die Nähe eines anderen Problems, das ihn sein Leben lang nicht mehr losließ. Hildesheim war eine angesehene historische katholische Bischofsstadt. Aber die Stadtbevölkerung war zu Zweidrittel evangelisch, ein Drittel katholisch.33 Seit 1934 residierte dort in einem Bischofspalais der katholische Bischof Machens.34 Das Verhältnis beider Kirchen zueinander war traditionell abgrenzend und auf die Pflege der je eigenen Herde bedacht. Da war es etwas Besonderes, dass der Studienleiter Gerhard Heintze 1955 über „Die Gegenwart Christi im Gottesdienst nach Auffassung der römisch-katholischen liturgischen Bewegung“ referierte.35 Heintze hatte sich mit der Literatur der liturgischen Bewegung der Gegenwart beschäftigt und insbesondere mit den Anschauungen des Benediktiners Ildafons Herwegen, dem langjährigen Abt von Maria Laach (gest.1946) und dem Benediktiner Odo Casel, Spiritual in Herstelle bei Höxter (gest. 1948). Heintze suchte das ihm eigentlich fremde Gelände danach zu erkunden, wo ein Brückenschlag möglich sei und wo er noch undenkbar erschien. Heintze stellte zu Beginn des Referates heraus, dass die Agendenreform der lutherischen Kirchen von 1950 „eine beträchtliche Annäherung der zukünftigen Form des lutherischen Gottesdienstes an die römisch-katholische Messordnung“ bedeute, da beide auf den frühmittelalterlichen Typ der Messliturgie zurückgingen. Heintze fragte nach der theologischen Bedeutung dieser Annäherung und „wieweit kann man auch von einer Annäherung im grundsätzlichen Verständnis des Gottesdienstes und darüber hinaus der Offenbarung überhaupt sprechen?“ Heintze gab einen kurzen Überblick über die Entwicklung der katholischen liturgischen Bewegung auf deutschem Boden anhand von Theodor Boglers Sammelbericht „Liturgische Erneuerung in aller Welt“ Maria Laach 1950. Er stellte in einem zweiten Teil die Lehre von der Gegenwart Christi im Gottesdienst der katholischen liturgischen Bewegung, besonders bei Odo Casel dar, beschrieb in einem dritten Teil das Verhältnis der „Mysterientheologie Odo Casels zur traditionellen katholischen Lehre36 und schloss mit dem Versuch einer Stellungnahme vom ev.-luth. Standpunkt aus.37

Heintze sah mehrere Anknüpfungspunkte für einen fruchtbaren Dialog. Da Odo Casel die subjektivistischen Elemente im Gottesdienst zurückdrängen wollte und stattdessen das aktive Handeln Christi gerade im Abendmahl betonte, müsse man auf evangelischer Seite wohl selbstkritisch überlegen, ob die übliche Darstellung der katholischen Messe als verderbliche menschliche Opferleistung so pauschal aufrecht erhalten werden könne. Für Casel stand die Frage der Transsubstantiation keineswegs im Vordergrund. Damit verliere kontroverstheologisch ein wichtiges Thema seine entscheidende Bedeutung. Es gebe, stellte Heintze fest, „ohne Zweifel Parallelen in den Bestrebungen der katholischen und evangelischen liturgischen Bewegung“, „echte“ fügte Heintze handschriftlich hinzu. Er formulierte auch deutlich die Unterschiede zu Casels Mysterientheologie, die er in der Wiederholbarkeit der Opferhandlung sah, die dem „ein für alle mal (ephhapax)“ von Römerbrief Kapitel sechs widerstrebe, sowie im mangelnden Verkündigungscharakter des Sakraments. Heintze: „Im Sakrament ereignet sich nichts anderes, als was sich durch die Verkündigung des Evangeliums ereignet“. Das Einswerden mit Christus, das Mitsterben und Mitauferstehen vollziehe sich nach Luther im Glaubensgehorsam gegenüber dem verkündeten Wort, aber nicht im miterlebenden Aufgehen im Kultusmysterium. Schließlich sei die Identifizierung der Kirche mit dem Leib Christi für den evangelischen Glauben bedenklich. Trotz der Gegensätze warnte Heintze am Schluss vor einer „Kontroverstheologie um jeden Preis“ und wünschte, dass eine Fühlungnahme aufrechterhalten bleibe und das theologische Gespräch weitergeführt werde. Tatsächlich sollten sich erste persönliche Kontakte nach dem katholischen Bischofswechsel anbahnen.

Während seiner Zeit als Studienleiter schrieb Heintze eine Doktorarbeit über die Predigten Luthers. Er promovierte bei Prof. Ernst Wolf, Göttingen. Unter dem Titel „Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium“ erschien sie 1958 im Kaiserverlag. Das Thema erschien unverfänglich, denn unter dem Denkschema „Gesetz und Evangelium“ beschrieb die traditionelle lutherische Theologie die Sündenerkenntnis des Gläubigen und seine Verworfenheit anhand der Zehn Gebote, sowie das darauf folgende Gnadenangebot des Evangeliums, das den Sünder errettete und ihm Heil und Seligkeit vermittelte. Karl Barth hatte mit der 1935 erschienenen Schrift „Evangelium und Gesetz“ dieses Verhältnis umgedreht und beschrieben, wie der Sündenerkenntnis immer Heil und Gnade vorausgehen. Erst in der Erkenntnis seines Heils erkenne der Mensch die Möglichkeit und Tiefe seiner Sünde. Gesetz und Evangelium seien nicht zwei gegensätzliche Wörter Gottes, sondern es gebe nur ein Wort Gottes, verkörpert in Jesus Christus. Barths Vortrag war die theologische Ausführung der ersten Barmer These „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes..“ Das in der Heiligen Schrift herausragende erste Gebot „Ich bin der Herr, dein Gott“, verstand Barth demnach als Verheißung und Evangelium. Heintze schilderte im ersten Kapitel seiner Arbeit die ablehnenden Positionen (Elert, Sommerlath, Asmussen, Echternach, Thielecke) und die zustimmenden (Wolf, Diem). In seiner Arbeit wies Heintze nach, dass schon Martin Luther in seinen Predigten dem Evangelium den Vorrang vor dem Gesetz gab und im ersten Gebot das Gnadenangebot Gottes sah. „Ich bin dein Gott“ war für Luther der stärkste Trotz in der Anfechtung. Heintze sah in Luthers Predigten Gesetz und Evangelium nicht in einem Nacheinander, sondern in einem wechselseitigen Ineinander. Heintze tendierte also mit gewissen Abgrenzungen zur Barthschen Position. Johann P. Boendermaker, emeritierter Professor in Hilversum, schilderte in der zweiten Festschrift für Heintze 2002 seine Begeisterung für Heintzes Position. „Ich selbst war und bin immer am meisten betroffen von dem meisterhaften Kapitel in Heintzes Buch über Luthers Predigt des ersten Gebotes“38 und Andreas Wöhle schrieb in seinem dortigen Beitrag „Dilectio legis“ von der Lektüre des Heintze Buches: „Hier begegnete ich dem Braunschweiger Altbischof als einem von Luther inspirierten und andere inspirierenden Kenner Luthers, der sich gerade nicht auf die seinerzeit gebräuchliche Schiene der theologischen Nachkriegsliteratur begab, auf der ‚Gesetz und Evangelium‘ zum zentralen auch innerevangelisch- konfessionellen Unterscheidungskriterium erklärt (und reduziert) worden war.“39 Mit Recht verwies Wöhle auf die Bedeutung von Heintzes Schrift für das Zustandekommen der Leuenberger Konkordie. Auf Grund seiner Doktorarbeit erhielt Heintze Angebote für eine Professur in Praktischer Theologie von den Universitäten Bonn, Münster, Göttingen, Erlangen und Heidelberg, die er aber allesamt ablehnte, „was ich bis heute nicht bedauert habe“, erzählte er lakonisch. Er strebte in die Gemeinde.


Anmerkungen zu Kapitel 1

1 Den Vater Karl Heintze (1878-1960) schilderte Gerhard Heintze so: „Mein Vater war liberaler und kritischer als mein Großvater. So bejahte er z.B. auch die Abschaffung der Monarchie in der Revolution am Ende des 1. Weltkrieges 1918 und den neuen demokratischen Weimarer Staat. Mein Vater hatte ein umfangreiches historisches Wissen. Er war aber nicht sehr kommunikationsfähig und tat sich in Diskussionen schwer. Er litt wohl auch darunter, dass er in seinen Gemeinden nicht so selbstverständlich wie sein Vater als Prediger und Seelsorger angenommen wurde... In der Erinnerung an meinen Vater denke ich besonders an seine große Musikalität. Er war ein ausgezeichneter Geigenspieler. Wir Kinder freuten uns immer, wenn wir abends schon im Bett lagen und hörten, wie Vater, von Mutter auf dem Klavier begleitet, Geige spielte, vor allem Bach und Beethoven.“ Unvollständige Lebenserinnerungen S. 2 R.
2 Die Mutter Cölestine Heintze, geb. Schwerdtmann (1881-1962) entstammte ebenfalls einer Pfarrfamilie. „Meine Mutter war noch klüger als mein Vater, literarisch sehr interessiert, energisch und auch kontaktfähiger als mein Vater. Vor ihrer Ehe war sie eine gute Lehrerin und hätte wohl gern ihren Beruf weiter ausgeübt.“ Unvollständige Lebenserinnerungen 3 R.
3 Unvollständige Lebenserinnerungen 7.
4 Hans Heintze, geb. 1911 war der spätere langjährige Professor und Kantor am Bremer Dom mit dessen berühmtem Domchor.
5 Irmela Heintze, geb. 1915 heiratete den Lüneburger Studienrat Winter.
6 Wolfgang Heintze, geb. 1918 sollte wie sein Bruder Kirchenmusiker werden, fiel jedoch an der Ostfront 1944.
7 Unvollständige Lebenserinnerungen S. 8.
8 ebd. 8.
9 ebd. 9 Rückseite (R).
10 ebd. 12.
11 ebd. 9.
12 Lutherische Generalsynode 1967 Goslar Darstellungen und Dokumente zur Geschichte der Lutherischen Kirchen, Hamburg 1974 1 – 16.
13 Rundbrief 3.11.1978 ; LAW LBf 16.
14 KURIER Juni 1981 37 f.
15 SONNTAG 17.6. 1973.
16 Unvollständige Lebenserinnerungen 20 Rückseite.
17 ebd. 14.
18 ebd. 14 Rückseite.
19 ebd. 13 Rückseite.
20 ebd. 22 f.
21 ebd. 25.
22 ebd. 27.
23 Das Manuskript befindet sich beim Verfasser.
24 ebd. 7.
25 ebd. 8.
26 ebd. 10.
27 ebd. 12.
28 H.W. Bartsch (Hg) Kerygma und Mythos Hamburg 1952 13 – 29.
29 ebd. 22.
30 Lutherische Generalsynode 1952 in Flensburg Darstellung und Dokumente, Hamburg 1975 151.
31 ebd. 500.
32 SONNTAG 18.4.1965 S. 10 „Nach der Synode der EKD“.
33 1933: 62,1 % evangelisch; 34,2 % katholisch / 1958: 60,4 % evangelisch; 32,2 % katholisch nach Statistisches Jahrbuch für die Hauptstadt des Regierungsbezirkes Hildesheim 1958 / 59 S. 20.
34 Josef Godehard Machens (1886-1956), seit 1934 Bischof der Diözese Hildesheim.
35 Aktenband „Heintze Aufsätze“ beim Verfasser.
36 ebd. 13-21.
37 ebd. 21-26.
38 Festschrift 2002, Johann P. Boendermaker, Luther über das primum praeceptum 219-221.
39 Festschrift 2002, Andreas H. Wöhle, Dilectio legis Bemerkungen zu Luthers Gesetzesverständnis 27-30.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk