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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

Kapitel 10

Lernende Kirche auf dem Weg von der Volkskirche zur Diasporakirche

Die drei Säulen der Volkskirche / die Erosion der Volkskirche / Kirchenaustritte in der Braunschweiger Landeskirche / Der Blick in die Situation der Kirchen in der DDR / Heintze als Mitglied der EKD-Beratergruppe / Heintze zu Gast bei der Synode in Dresden Juli 1972 / Umfrage Wie stabil ist die Kirche? / Die brüderliche Freundschaft zwischen Bischof Heintze und Bischof Krusche / Heintzes Lagebericht 1974 / Albrecht Schönherr: Lernende Kirche / Eine Richtungswahl im Oktober 1973: Oelker oder Wanderleb / Zustimmung zur Leuenberger Konkordie / EKD Synode Freiburg 1975 / Perspektiven für eine Kirche am Ende der achtziger Jahre / Personelle Veränderungen / die Zukunft der Volkskirche / Volkskirche im Wandel

Wer von der Volkskirche schreibt, begibt sich auf ein glitschiges Gelände. Der Begriff ist verbraucht, undeutlich und hat doch ein zähes Leben. Er reizt immer noch viele zu apologetischen Ausschweifungen.1 Der Begriff „Volk“ ist durch seinen Missbrauch vor und während der nationalsozialistischen Zeit belastet. Er wird heute in der Regel durch „Bevölkerung“ ersetzt. Damit ist ein erheblicher Bedeutungswandel verbunden. Das Wort Volkskirche ist vieldeutig: mal meint es, dass die ganze Bevölkerung christlich sein müsse. Nachdem diese Aussicht zerstoben ist, meinen die Apologeten: es bedeute die grundsätzliche Offenheit der Kirche für alle, nicht für alles. Wer nicht Jahrzehnte lang das Elend der Volkskirche in einem Pfarramt mit der damit verbundenen Anspruchshaltung und unverhohlenen Versorgungsmentalität durchlebt hatte, sollte mit seinen Überlegungen über die Volkskirche vorsichtig sein.


Die drei Säulen der Volkskirche

Die Volkskirche beruhte auf drei Säulen: auf dem Bewusstsein, dass die Bevölkerung selbstverständlich dem christlichen Glauben angehört. Dieses Bewusstsein hatte sich durch die Jahrhunderte lange Zwangszugehörigkeit der gesamten Bevölkerung zur Kirche gebildet, die durch die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgehobenen Zwangstaufe verursacht worden war. Es war unmöglich, aus der Kirche auszutreten. Mit dieser Zwangszugehörigkeit war, als zweite Säule, die selbstverständliche Akzeptanz von christlichen Dogmen, Anschauungen und Werten verbunden, die durch die alljährlich wiederkehrenden, teils sehr beliebten Kirchenfeste, vertieft wurde. Die christlichen Werte beanspruchten die alleinige oder doch tragende Geltung in der deutschen Bevölkerung. Die dritte Säule war die vom Staat eingezogene, allgemeine Kirchensteuer. Die Volkskirche habe nach der Niederlage im 1. Weltkrieg 1918 die Staatskirche aus dem Kaiserreich abgelöst, und nach dem 2. Weltkrieg wieder Auftrieb erhalten, während sie sich zur Zeit des Nationalsozialismus nicht habe frei bewegen können. Die Bundesrepublik verstand sich unter Kanzler Adenauer als ein dem Christentum verpflichteter Staat. So habe die Volkskirche wieder aufleben können. Tatsächlich war die Volkskirche von Anfang an eine Ausschließungskirche. Abweichler von der christlich-gesellschaftlichen Norm wurden an den Rand der Volkskirche oder gar aus ihr herausgedrängt. Dazu gehörten u.a. bis in die 50er Jahre die unehelichen Kinder, deren Taufe nur unter einem diskriminierenden, reduzierten Ritual vollzogen wurde. Aus der Norm fielen Anhänger der bald verbotenen Kommunistischen Partei und linken Nebenorganisationen, die von der westdeutschen Justiz verdächtigt und zu Zehntausenden zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Das Wolfenbütteler Gefängnis war zu jener Zeit überfüllt mit Verurteilten jener Gesinnungsjustiz. Aus der gesellschaftlichen Norm fielen weiterhin Homosexuelle, die nach den im Dritten Reich verschärften Gesetzen zu Tausenden verurteilt wurden und in der Kirche öffentlich nicht geduldet wurden. Das sichtbarste Symbol für den Charakter der Volkskirche als einer Ausschließungskirche ist bis heute die Feier des Abendmahls. Es schließt nur jene mit dem passenden Konfessionssignal ein, alle anderen sind ausgeschlossen. Eine Teilnahme der Anderen ist unerwünscht.


Die Erosion der Volkskirche

Jene drei Säulen der Volkskirche kamen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in der evangelischen Kirche in Deutschland ins Wanken. Die zunehmenden Kirchenaustritte der 60er und 70er Jahre in der Bundesrepublik bewirkten ein neues Nachdenken über die Volkskirche. In der DDR war diese Entwicklung bereits heftig im Gange.2 Der Kirchenaustritt war dort keine Ausnahme, sondern wurde zur Regel. Es gab eine Anweisung des Zentralkomitees an die Parteigliederung als Plansoll, die Mitgliedschaft in der Kirche pro Jahr um jeweils ein Prozent des Vorjahres zu dezimieren. Eine selbstverständliche Zugehörigkeit zur christlichen Kirche gehörte nicht mehr zum gesellschaftlichen Standard. Die Doktrin des historischen Materialismus war in Kindergarten, Schule und Betrieben seit Gründung der DDR 1949 die offiziöse Regel und hatte gezielt die selbstverständliche Akzeptanz christlicher Anschauungen erfolgreich ausgehöhlt. Seit 1949 war auch der staatliche Einzug der Kirchensteuer beendet worden und die Kirche zu einem kircheneigenen System der Einziehung eines Kirchenbeitrages genötigt worden. Der volkskirchliche Charakter der evangelischen Kirche war in der DDR allmählich beseitigt und die Kirche zu einer Minderheitenkirche geworden. „Volkskirche im Zerfall begriffen“, lautete eine Überschrift zum Bericht von Bischof Schönherr.3 Aber das Bewusstsein, in der Vergangenheit eine Mehrheitskirche in der Bevölkerung gewesen zu sein, war in vielen Gemeinden noch stark ausgeprägt und als Zielvorstellung noch nicht aufgegeben. Es war die Frage, ob sich die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik ebenfalls, zwar langsamer aber allmählich, spürbarer und keineswegs freiwillig auf dem Weg von der Volkskirche zu einer Minderheitenkirche befanden. Zum Thema „Was ist mit der Kirche los?“ hatte Bischof Lilje zu einem Journalistengespräch im Dezember 1969 in die Loccumer Evangelische Akademie eingeladen und führte aus, die Kirche stehe in einer Zeit revolutionärer Wandlungen, deren Vorboten deutlich spürbar seien.4 „Auszehrung der Volkskirche“ bilanzierte der Hamburger Bischof Wölber vor der Hamburger Synode im März 1971.5 Wölber berichtete, die Kirchenaustritte hätten sich in Hamburg seit 1967 verfünffacht. 1970 waren 13.272 Gemeindemitglieder ausgetreten. Die Erosion sei begründet in der Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen. „Wo gemeinsame sittliche Wertvorstellungen schwinden, verliert die Volkskirche, die im wesentlichen eine religiös-sittliche Beziehung war, ihren Rückhalt.“6 Er sah die Kirche in einer „Schlacht zwischen Glauben und Säkularismus“7 Wölber sah abschließend diese Krise der Gesellschaft als Chance für eine andere Kirche. Ähnlich sah der bayrische Landesbischof Hermann Dietzfelbinger die kirchliche Lage und fragte in seinem Bericht vor der Synode der EKD: „Haben diejenigen ganz unrecht, die von einer Epoche geistlicher Verwirrung und Verzweiflung reden, in deren Anfang wir uns befinden? Anders gesagt: Wenn nicht alles täuscht, so stehen wir heute in einem Glaubenskampf, einem Kirchenkampf, gegenüber dem der Kirchenkampf des Dritten Reiches ein Vorhutgefecht war?“8 Für diese Sicht sprach die Tatsache, dass die Austrittsziffern der 70er Jahre höher waren als die zur Zeit des Nationalsozialismus.


Kirchenaustritte in der Braunschweiger Landeskirche

In seinem Lagebericht 1969 beschrieb der Bischof die Lage folgendermaßen: „Wir müssen in Zukunft noch viel stärker als bisher damit rechnen, dass Kirchengemeinde und bürgerliche Gemeinde nicht mehr identisch sind und Christen in der „Diaspora“ leben, aber umso mehr über die Grenze des eigenen Ortes oder gar Kreises hinaus die Gemeinschaft mit anderen Christen brauchen. Was auch weiterhin in manchmal vielleicht sehr kleinen Gemeinschaften von Christen an ein und demselben Ort möglich bleibt, – z.B. Gottesdienste und Andachten, auch wenn kein Pfarrer mehr am Ort wohnt oder von außerhalb erwartet werden kann – ist nach wie vor zu ermutigen und zu stärken.“9 Es sei Sorge dafür zu tragen, dass aus der Erkenntnis des Diasporacharakters unserer Gemeindesituation nicht ein ängstlicher Rückzug auf eine innerkirchliche Privatexistenz werde, sondern gerade vom Diasporabewusstsein neue Impulse missionarischer und diakonischer Verantwortung für unsere Umwelt ausgehen“.10 Heintze beschrieb weniger wie Wölber die Fakten einer Krise, sondern zeichnete das Bild einer zukünftigen Kirche. In seinem Rundbrief riet er davon ab, die Austrittswilligen „aus Angst um den Bestand der Kirche oder gar um des Geldes willen zurückzuhalten suchen.“ Eher sei dazu zu raten, einen innerlich längst vollzogenen Bruch auch rechtlich zu besiegeln.11 Die Analyse schien sich zu bestätigen, als auch die Landeskirche von einer „Kirchenaustrittswelle“ erfasst wurde. Das war keine Braunschweiger Besonderheit, sondern betraf alle evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik, die Städte mehr als die Dörfer. Die Austrittsziffer steigerte sich in der Landeskirche von 1.130 Kirchenmitglieder(1967), 1.553 (1968), 2.990 (1969) auf 5.256 (1970), und hielt sich danach auf hohem Niveau: 4.274 (1971): 3.978 (1972) und 4.325 (1973) Gemeindemitglieder. Es traten nach einer landeskirchlichen Zählung 1972 und 1973 vor allem sowohl bei Männern wie bei Frauen die Altersjahrgänge der Zwanzigjährigen und der Dreißgjährigen aus der Landeskirche aus.12 Mit zunehmendem Alter nahmen die Austrittszahlen ab. Das junge Alter der austretenden Männer und Frauen signalisierte den Grad der Säkularisierung. Die Austritte waren noch eine städtische Erscheinung. Von den 5.256 Austritten des Jahres 1970 fielen 2.420 auf die Stadt Braunschweig. Die Austretenden gehörten allen Berufsgruppen an: Angestellte, Beamte, Arbeiter, Selbständige. Während sich früher die Kirche noch auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht stützen konnte, fehlte ihr nun dieser Rückhalt.

Um sich einen genauen Überblick zu verschaffen, begann das Landeskirchenamt eine Befragung bei den Ausgetretenen durchzuführen. Im ersten dreiviertel Jahr 1970 verschickte es 2.456 Fragebogen, auf dem 15 Gründe für den Kirchenaustritt genannt wurden, die mit ja/nein beantwortet werden konnten. Warum sind Sie aus der Kirche ausgetreten: „weil die Kirche sich nicht konsequent an der Bibel ausrichtet? weil die Predigt im Gottesdienst nicht ihren Vorstellungen entspricht? weil die Kirche sich zu wenig engagiert? weil zu wenig Gelegenheit zur Mitgestaltung und Mitbestimmung des kirchlichen Lebens in der Gemeinde geboten wurde?“ Diese Fragen gingen von der irrigen Voraussetzung eines Gemeindekontaktes des Ausgetretenen aus. Dieser war meist seit Jahrzehnten erloschen. Dreiviertel aller Befragten antworteten daher überhaupt nicht.13 Die am häufigsten genannten Gründe für einen Kirchenaustritt der 694 eingegangenen Antworten waren die Höhe der Kirchensteuer (533), die Erhebung eines Kirchgeldes (472), der Einzug der Kirchensteuer durch den Staat (413) und eine mangelnde Unterrichtung über die Verwendung der Mittel. Dieses Ergebnis bestätigte das allgemeine Urteil: „Die Leute treten wegen dem Geld aus der Kirche“. Da der Befragte auch weitere Gründe nennen konnte, erhielt der Bischof zahlreiche persönliche, teils sehr ausführliche Bemerkungen zum Kirchenaustritt, die deutlich machten, dass dem Kirchenaustritt eine lange Phase der Entfremdung vorangegangen war. Einige Beispiele: „Mit diesen paar Fragen kann ich meinen Austritt aus der Kirche nicht erklären. Da gibt es Gründe für stundenlange Diskussionen. Der Hauptgrund ist: ich glaube nicht an Gott.“ „Kurz gesagt ist mein Kirchenaustritt die Folge einer leider viel zu späten Bewußtseins- und Willensbildung. Erst jetzt ist es mir gelungen, eine absolut autoritäre Erziehung durch Eltern, Schule, Lehre, Kirche zu überwinden.“ „Weil die Kirche eine Auffassung vertritt, die zum größten Teil nicht in die heutige Zeit passt.“ „47 Jahre war ich Angehörige Ihrer Kirche. 47 Jahre hat es Sie nicht interessiert, wie es mir geht und was ich denke. Was interessiert Sie nach 47 Jahren nun wirklich? Der Beitragsverlust? Oder der Verlust eines Menschen, der schlechte Erinnerungen an seine frühere Zugehörigkeit zur Kirche mitnimmt?“ Wegen der Stellung der Kirche zu der Oder-Neiße-Linie, wegen der „Bimmelei“ am Sonntag morgen, man will ja schließlich mal ausschlafen, wegen der Kleinkindertaufe – absurd, – das klang nach Phrasen vom Stammtisch nach einem verlorenen Fußballspiel. Das Landeskirchenamt und den Bischof erreichte die schroffe und fest gefügte Kirchenablehnung der säkularen Braunschweiger Region. Sie erschien unrevidierbar. Aber Landesbischof Heintze hatte sich vorgenommen, alle persönlichen Anschreiben auch persönlich zu beantworten. Das war für ihn und seine Sekretärin Lange eine Sisyphusarbeit. Ca 170 Antworten sind erhalten. Mit unendlicher Geduld beantwortete er teilweise ausführlich jedes ernsthafte und auch alberne Argument. Er bedankte sich für die Rückmeldung, rückte falsche Informationen zu recht, empfahl ein Gespräch mit dem Gemeindepfarrer, gab dem Einsender auch recht und verwies auf kritische Stellungnahmen in der Kirche, gelegentlich sprach er die Hoffnung auf eine Revision des Kirchenaustrittes aus. Selbst die dumme Redewendung, Gott sei schließlich überall, nicht bloß in der Kirche, beantwortete Heintze: „Ihr Schlusssatz, dass Gott überall ist, nicht nur in der Kirche, ist natürlich völlig richtig. Ich glaube allerdings, dass diejenigen, die sich wirklich an dem Willen Gottes orientieren möchten, es nötig haben, sich zusammenzufinden. Und dazu sind eben auch Räume notwendig.“ Vor der Landessynode im März 1971 zeigte sich der Bischof erstaunt über „die erschreckende Unkenntnis der wahren Sachverhalte“ und über „groteske Vorstellungen über das, was christlicher Glaube und christliche Verkündigung eigentlich ist“. In den Antworten begegneten ihm in gehäufter Ansammlung die kirchenfernen und kirchenverachtenden breiten volkskirchlichen Ränder einer normalen Kirchengemeinde, die jedoch von ihrem „Himmelskomiker“ nach der Geburt eine Taufe und bei der Hochzeit eine kirchliche Trauung verlangen konnten, weil sie bisher Kirchensteuer bezahlt hatten. Nun verzichteten sie darauf. Zum Jahresende dieser Aktion schlug OLKR Bluhm vor, dass die Gemeindepfarrer eine ähnliche Aktion wie der Landesbischof von ihren Pfarrämtern aus beginnen sollten. Den Pfarrern war der Nutzen einer solchen Aktion indes zweifelhaft. Der Entschluss zum Kirchenaustritt lag schon lange zurück und wartete nur auf einen Anlass. Der Ausgetretene werde einen Besuch als einen spätern Rettungsversuch missdeuten. Die gut gemeinte Aktion des Bischofs zeigt das biblische Bild des guten Hirten, der jedem Verlorenen nachgeht, aber auch eine Art Hilflosigkeit und Fehleinschätzung der religiösen / nichtreligiösen Situation in der Braunschweiger Bevölkerung. Es fehlte im Referat des Bischofs auch nicht der Hinweis auf Anfragen an die Kirche. Die Kirchenaustritte, so bilanzierte Heintze abschließend vor der Landessynode, sei „eine ernste Anfrage an unsere eigene Glaubwürdigkeit und an die Echtheit und Überzeugungskraft unseres eigenen christlichen Zeugnisses und insbesondere sei zu fragen, wie viel wir selber denen, die heute unsere Kirche verlassen, schuldig geblieben sein mögen.“ Diese Einsicht übersah die Tatsache, dass jenes unter die Disteln und Dornen und auf den Weg Gesäte keine Rückfrage an die Güte des ausgesäten Samens / Wortes erlaubte. Die Kirchenaustritte lösten zwar Erstaunen, Unruhe und Kränkung aus. Aber von einer ernsthaften Gefährdung des Bestandes als Volkskirche konnte zahlenmäßig keine Rede sein. Die Austritte betrugen kaum 1 % des Mitgliederbestandes. Auch der befürchtete Einbruch in die Kirchenfinanzen blieb aus. Im Gegenteil: das Kirchensteuereinkommen stieg in der Landeskirche von 17,7 Millionen DM (1965) und 24,3 Millionen DM (1970) auf 57, 0 Millionen DM im Jahre 1973. Die Kränkung bestand in dem Verlust der Hoheit über die Deutung der sittlichen Werte in der Bundesrepublik. Diese war in einem von einer Christlichen Partei regierten Staat lange unangefochten gewesen. Dieser Anspruch schien beschädigt. Es deutete sich ein Milieuwechsel in der Gesellschaft an. War das der Anfang eines Weges in eine Diasporakirche, wie er in der DDR schon seit zwei Jahrzehnten begonnen hatte?


Der Blick in die Situation der Kirchen in der DDR

Die Begegnung mit den Verhältnissen in der DDR war in der Braunschweiger Landeskirche selbstverständlich. Der Blankenburger Teil gehörte seit 1945 zwar zur sowjetischen Besatzungszone, aber trotzdem zur Braunschweiger Landeskirche. Die Blankenburger Propstei lag teils in der sowjetischen und teils in der westlichen Besatzungszone. Bischof Martin Erdmann besuchte unter widrigen Einreiseumständen regelmäßig die Blankenburger Gemeinden. Die zur Landessynode gehörenden Mitglieder von Blankenburg, denen die Ausreise aus der sowjetischen Besatzungszone meist verweigert wurden, wurden jedoch korrekt als abwesende Synodale im Synodalprotokoll geführt. Die Grenze verlief von der Ostsee bis zum bayrischen Wald und berührte die Propstei Vorsfelde im Norden, und verlief an den Propsteien Helmstedt, Schöppenstedt und Bad Harzburg entlang bis in den Harz hinein. Die Grenze, ursprünglich nur eine Demarkationslinie, wurde mit den Jahren immer breiter und militanter befestigt. Das Gebiet jenseits der Grenze nannte man „drüben“, aber es entwickelte sich zum Staat „Deutsche Demokratische Republik“. Eine politische Anerkennung der Grenze als Staatsgrenze oder des Staates DDR galt als kommunistisch verdächtigte Abweichung vom politischen Standard, selbst die Ausdrucksweise der drei Buchstaben „D-D-R“. Man sprach lieber von „drüben“, oder von der „Zone“. Die DDR Regierung war auf den Ausbau ihrer Eigenständigkeit bedacht und betrieb die Spaltung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der bis in die 60er Jahre hinein einzigen, verbliebenen „gesamtdeutschen“ Einrichtung. Ihre Absicht war: zwei deutsche Staaten und zwei von einander getrennte, evangelische Kirchen in beiden deutschen Staaten. Die Staatspropaganda, darunter der Vorsitzende der Ost CDU Harald Götting sowie ein kleiner Kreis regimehöriger evangelischer Christen forderten die Lösung ihrer Landeskirchen von der „Kontrolle“ durch die „westdeutschen Militärkirche“. Dieser Versuch führte im April 1967 zu einer dramatischen Sitzung der EKD Synode in Berlin Spandau, die von Bischof Heintze und den Braunschweiger Delegierten Propst Harborth und Dr. med. Albrecht, Gandersheim besucht wurde. „Kirchliche Einheit in Deutschland nicht preisgeben“ titelte die EZ am 2.4.1967 und schilderte den massiven Druck besonders auch auf den Ratsvorsitzenden Bischof Kurt Scharf, und den energischen Widerspruch von den Bischöfen Jänicke und Fränkel gegen eine Trennung. Die DDR Regierung verweigerte den Delegierten aus der DDR die Teilnahme an der Synode, die daraufhin in Fürstenwalde eine Teilsynode eröffneten. Es musste turnusgemäß ein neuer Rat der EKD und ein neuer Ratsvorsitzender gewählt werden. Dafür war Hanns Lilje vorgesehen. Der Hannoversche Landesbischof war jedoch für die DDR Regierenden ein rot-braunes Tuch, ein „Nato-Bischof“. War eine Aufgabe der Kandidatur nicht ein Zurückweichen vor der DDR Macht? Lilje verzichtete schließlich von sich aus, und als Kompromisslösung wurde der bayrische Landesbischof Hermann Dietzfelbinger von der Fürstenwalder Teilsynode vorgeschlagen, was bei den Delegierter der in Spandau tagenden Teilsynode auf Widerspruch stieß. Sollten die Synodalen in Ost und West sich nun trennen und zwei gesonderte Synoden gründen? Darüber gab es heiße Debatten. Kirchenpräsident Martin Niemöller plädierte für organisatorische Trennung bei unveränderter geistlicher Gemeinschaft, Präses Kurt Scharf wollte an der organisatorischen Einheit festhalten. Ein entscheidendes Votum kam den Delegierten aus der DDR zu, die dem staatlichen Druck ausgesetzt waren. In Fürstenwalde hielt der pommersche Bischof Friedrich Wilhelm Krummacher, der auch dem Rat der EKD angehörte, einen flammenden Appell zugunsten der organisatorischen Einheit der EKD über die Grenze hinweg.14 „Als dieser Bericht von Landesbischof i.R. Haug vor den in Spandau versammelten Synodalen verlesen wurde, herrschte atemlose Stille und angespannteste Aufmerksamkeit im Plenarsaal. Sichtlich bewegt antworteten die Zuhörer mit anhaltendem starken Beifall, ergriffener Dank für das klare, mutige Zeugnis wurde immer wieder zum Ausdruck gebracht.“15 Diese Rede wurde über die Grenze geschmuggelt und lag den Delegierten der West-Synode vor. Heintze brachte den Wortlaut nach Wolfenbüttel mit, und schon zehn Tage nach der Rede gab er den Braunschweiger Pfarrern den bedeutsamen 2. Teil der Rede zur Kenntnis. Dazu schrieb er unter dem Datum vom 12.4.1967 einen kurzen Rundbrief, und steuerte ohne Einleitung auf die Absicht des Briefes zu: „Mit einem herzlichen Gruß möchte ich Ihnen heute vor allem den Abschnitt des Rechenschaftsberichtes Bischof D. Krummachers auf der Synodaltagung in Fürstenwalde zusenden.“16 Heintze war von der Synodaltagung noch ganz erfüllt und möchte die Pfarrerschaft an der Dramatik und an dem geistlichen Ertrag teilnehmen lassen. „Mir scheint dieses Wort nicht nur wegen seiner klaren, freimütigen Sprache in einer schwierigen und für die Kirche in der DDR zunehmend bedrohlichen Situation bemerkenswert zu sein. In ihm wird vor allem nach einer geistlichen Begründung dafür gesucht, weshalb wir trotz des wachsenden Drucks von außen und trotz der grundsätzlich richtigen Feststellung, dass die Frage der organisatorischen Kircheneinheit nicht unbedingt und überall zum „status confessionis“ führen muss, einander in Ost und West nicht loslassen dürfen“. Heintze ließ durchblicken, dass er nicht in jedem Fall an einer organisatorischen Einheit zwischen den Kirchen in der DDR und der BRD festhalten wollte, aber im Jahr 1967 hielt er diese Gemeinschaft für zwingend, weil ihn die Begründung Krummachers überzeugte. Krummacher wies entschieden den Vorwurf der DDR Regierung zurück, er und die evangelischen Kirchen in der DDR lehnten eine Anerkennung der DDR Regierung ab. Schon 1949 habe der Rat der EKD von „beiden deutschen Regierungen“ gesprochen und einen Bevollmächtigten bei der DDR Regierung bestellt. „Aber es wäre ein Anachronismus in unserem ökumenischen Zeitalter und ein Rückfall in überwundene Zeiten des Staatskirchentums, wenn wir ausgerechnet im Mutterland der Reformation auf die uns geschenkte und durch das Schuldbekenntnis von 1945 in geistliche Tiefe neu gewachsene Gemeinschaft von uns aus verzichten würden.“ Schließlich habe Jesus Christus den Aposteln mit der missionarischen Ausbreitung des Evangeliums „zugleich einen grenzüberschreitenden Impuls gegeben“ und das Festhalten sei für jene Kirchen, die in ähnlicher Lage wie wir aus politischen, rassischen, soziologischen und gesellschaftlichen Gründen in ihrem organisatorischen Gefüge bedroht werden, ein Erweis dafür, „dass die Kraft des Glaubens stärker ist als die von außen kommende Trennung“. Schließlich verwies Krummacher auf die längst bestehende geistliche Einheit durch das gemeinsame Gesangbuch, durch Gottesdienste, durch die in ihrer Ordination auf das gemeinsame Bekenntnis verpflichtete Pfarrerschaft. Für die Braunschweigische Landeskirche war die Rede Krummachers mit dem Plädoyer für die organisatorische Einheit der EKD deshalb bedeutsam, weil die in der DDR gelegene östliche Propstei Blankenburg nach wie vor fester Bestandteil der westlichen Landeskirche war. „Ich würde mich freuen, wenn Sie das Wort Krummachers auch Ihren Kirchenvorständen und sonstigen Mitarbeitern bekannt machen und auch sonst von ihm geeigneten Gebrauch machen könnten“, beschloss Heintze diesen Teil des Rundbriefes und ging noch auf die Wahl des bayrischen Landesbischofs zum Ratsvorsitzenden ein. Die Braunschweiger Pfarrerschaft konnte sich von ihrem Bischof über die Kirchenpresse hinaus aktuell und schnell informiert fühlen.17


Heintze als Mitglied der EKD-Beratergruppe

Aber 1968 gab sich die DDR eine Verfassung und die Kirchen mussten schweren Herzens in die Teilung ihrer EKD einwilligen. Es gab seit 1969 eine EKD West und einen Bund der evangelischen Kirchen in der DDR. Der in der DDR gelegene Teil der Propstei Blankenburg wurde 1972 von der Landessynode in die sächsische Landeskirche entlassen. Aber es wurde eine „besondere Gemeinschaft“ zwischen dem Bund und der EKD West festgestellt, denn die geistliche Verbindung untereinander sollte nicht abreißen. Dazu wurde eine kleine Kontakt- und Beratergruppe gegründet, zu der seit 1968 vom Rat der EKD Bischof Heintze berufen wurde und bis 1982 auch deren Mitglied blieb. Sie traf sich regelmäßig mit Mitgliedern der Kirchenleitungen des Bundes zum gegenseitigen Austausch. Die Repressionen in der DDR wurden immer härter, der offiziöse Austausch immer dünner, sodass die Beratergruppe eines der wenigen Instrumente für zuverlässige Informationen wurde. Die Beratergruppe traf sich in der Auguststraße, in Ostberlin, sagten die einen, in der Hauptstadt der DDR sagten die anderen. Es war immer dieselbe Auguststraße, in der Nähe des Übergangsbahnhofs Friedrichstraße, dem „Tränenpalast“ gelegen. Man traf sich anfangs monatlich, später vierteljährlich.

Für Heintze war die Teilung Deutschlands eine Folge der Verbrechen der Nationalsozialisten im Inland wie in Europa und eine Folge der Auslösung des 2. Weltkrieges durch den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Sie war eine Art „Sühne“. Heintze hatte keine Probleme mit dem Aussprechen der drei Buchstaben DDR und der mitgedachten Anerkennung der DDR, obwohl sie in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik immer noch als Signal für die „Anerkennung des Unrechtssystem drüben“ galt. Heintze setzte sich über diese Begrifflichkeit des Kalten Krieges hinweg. Er war in der DDR persona grata. Das allein machte ihn „im Westen“ verdächtig. Leider gibt es bis heute keine Einsicht in die Akten des Verfassungsschutzes jener Zeit. Es war aber im Westen etwas Besonderes, wenn jemand Einreise in die DDR erhielt, zumal als Bischof in der EKD West.


Heintze zu Gast bei der Synode in Dresden Juli 1972

Im Juli 1972 war Heintze offizieller EKD Gast bei der mehrtägigen Synode in Dresden. Die Kirchen in der DDR hatten sich organisatorisch von der West EKD getrennt und zu einem Bund der evangelischer Kirchen in der DDR zusammengeschlossen, nicht ohne die „besondere Gemeinschaft“ mit den evangelischen Kirchen in der BRD zu betonen. Heintze war vom Gottesdienst in der Dresdener Kreuzkirche und von den Referaten während der Synode tief beeindruckt und wollte diese Eindrücke der Braunschweiger Pfarrerschaft umgehend weitergeben. Bald nach seiner Rückkehr in Wolfenbüttel, verfasste er einen 13 Seiten langen Urlaubsbrief, von dem über fünf Seiten den Ereignissen auf der Synode in Dresden gewidmet waren.18 Im Westen sahen sich die Kirchen in der DDR der ständigen Verdächtigung ausgesetzt, zu systemfreundlich zu sein und sich als „Kirche für den Sozialismus“ zu verstehen. In den Parteiorganen der DDR-Öffentlichkeit dagegen hörte die Verdächtigung nicht auf, sie paktierten mit der „NATO-Kirche“ im Westen und seien eine Kirche gegen den Sozialismus. Die Kirchenleitung wiederholte daher in ihrem Bericht, der der Synode vorgelegt wurde, ihre grundsätzliche Position: die Kirchen des Bundes nehmen die Situation bewusst an, dass ihre Gemeindeglieder und Gemeinden in die sozialistische Gesellschaft hineingestellt seien als den Ort, den Gott ihnen für ihr Zeugnis und ihren Dienst zugewiesen habe. Sie wollten ihre Aufgaben „zum Gedeihen der Gesellschaft“ erfüllen. Umgekehrt erwartet sie, dass sie an diesem Ort der DDR „ungeteilt ihres Glaubens leben“ können. „Sie wollen auch im Sozialismus Kirche ihres Herrn bleiben“. Ausführlich zitierte Heintze nun die weitreichende Grundsatzrede von Heino Falcke, der damals Rektor des Predigerseminars in Gnadau war und bald darauf Propst in Erfurt wurde.19 Seine Ansprache hatte das Thema „Christus befreit – darum Kirche für Andere“. Schon der Bonhoeffersche Ansatz des Referates und die Feststellung von der durch Christus bereits geschehenen dreifachen Befreiung zur Mündigkeit, zum Dasein für Andere in der Nachfolge, in der Solidarität mit den Leidenden und in der Entwicklung schöpferischer Phantasie der Liebe entsprach Heintzes theologischen Denkmustern. Den Bischof interessierte nach dieser ausführlichen christologischen Begründung besonders die Feststellungen Falckes, welche Hindernisse in der eigenen Kirche einem Dienst entgegenstehen, der durch Christus zur Mündigkeit und zum Dasein für andere und in die Nachfolge und in der Solidarität mit den Leidenden berufen war. Es war auch in der Braunschweiger Landeskirche das Problem für den Bischof, den Weg in die Nachfolge in die Alltagspraxis umzusetzen. „Warum wirken wir auf viele noch immer wie eine geschlossene Gesellschaft? Stecken wir immer noch in einer kirchlichen Sprachgefangenschaft?“ Falcke beklagt die unbefriedigenden Übersetzungsversuche des befreiend klärenden Wortes. Stattdessen nur ein „Nachsprechen“. „Haben wir schon ins Freie gefunden aus ängstlichem Bewachen von Traditionsschätzen und aus ebenso ängstlicher Anschlusssuche an den Zeitgeist?“ Falcke beschrieb die Gemeinden als Minderheit, die nicht mehr „Spielführer“ in der Gesellschaft seien, auch nicht die Spielregeln bestimmen, aber „Mitspieler unter anderen“ seien. Deutlich, aber behutsam distanzierte sich Falcke von der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“. Diese Losung sei nur dann biblisch, wenn sie das Evangelium für Andere verständlich mache und sich frei von Angst auf geschichtliche Wandlungen einlasse. Bezeichnenderweise referierte Heintze nicht die Passagen vom „verbesserlichen Sozialismus“, deretwegen das Referat auf Betreiben der Stasi nicht in die offiziösen Synodalakten aufgenommen werden durfte, aber unter der Hand hundertfach vervielfältigt weitergereicht wurde. Den antisozialistischen, jedoch volkskirchlichen Triebkräften in den Kirchengemeinden wie auch der Stasi war es indes zuwider, dass Falcke einen Weg „einer aus Glauben mündigen Mitarbeit“ in der DDR Gesellschaft entwickelte. „Können wir im Rechnen auf Christus aber nicht auch freiwerden von skeptischen Vorurteilen und neue Chancen mündiger Mitarbeit entdecken: im Gespräch mit Menschen, die wir für hoffnungslos festgelegt hielten; im Eintreten für vernünftige Sachentscheidungen; auch in gesellschaftlichen Organisationen, in denen sich Möglichkeiten eines konkreten sinnvollen Dienstes auftun können?“ Heintze hatte sich bis zum Überdruss seiner Mitarbeiter gegen jede Abgrenzung gewehrt. Falcke stieß bei dem Verzicht auf Abgrenzung ebenfalls auf heftige Gegenwehr. Vor allem das Bild einer Kirche, die das offene freie Gespräch gerade bei der Vielfalt von Theologien, Frömmigkeitsstilen und Gemeindekonzeptionen und die Respektierung des anderen Gewissens mit der gemeinsamen Verantwortung vor dem Herrn verbindet, hatte Heintze gerade bei seiner Auseinandersetzung mit der Kirchlichen Sammlung immer wieder entworfen. Es gab aus der Sicht des Bischofs ganz offensichtlich ähnliche Probleme und Lösungsversuche und die Hoffung auf eine Kirche, in der es „eine kritische Öffentlichkeit, eine Stätte des freien Wortes, eine Offenheit für radikale Fragen und eine angstfreie Lernbereitschaft“ gebe. Das wirkte in den bedrängten Verhältnissen der DDR begreiflicherweise unvergleichlich dynamischer, aber auch unter der Decke der festgefahrenen Strukturen der lutherischen Westkirchen regten sich solche Hoffnungen und wurden gerne beschwichtigt und gedämpft. Als „besonders schön und wichtig“ empfand Heintze den Schluss des Referates, den er wörtlich zitierte: „Ich darf schließen mit einem Hinweis auf das Herrenmahl. Es ist die Feier der Befreiung, und es wäre gut, wenn das auch in unseren Formen es zu feiern deutlicher würde. Im Herrenmahl bündeln sich die Freiheiten, die Christus austeilt. In dieser Tischgemeinschaft nimmt er die versagenden Jünger an. In dieser Tischrunde ist jeder mündig.. Zu ihr lädt die grenzüberschreitende Liebe und vereinigt die Getrennten. Sie ist das Mahl des leidenden Herrn, der mit den Bedrängten solidarisch wird, und das Mahl des Auferstandenen, der zu neuem Tun sendet. Sie ist das Mahl des kommenden Herrn und die Vorfeier des Reiches der Freiheit mitten in der Geschichte.“ Die nüchterne räumliche Beschreibung des Abendmahls als Tischrunde und Tischgemeinschaft bedeutete eine sympathische Entsakralisierung und Abkehr von liturgisch gestelzter Feierlichkeit. Es ist nicht das Mahl der Frommen und Heiligen und Besseren, sondern der Versagenden. Heintze hatte diese Deutung des Abendmahls als einer Tischgemeinschaft der „versagenden Jünger“ häufig wiederholt. Ihm war die Darstellung des Abendmahls als Opfer und Anbetung des Lammes Gottes, wie es gerne bei den Pfarrern der Kirchlichen Sammlung zelebriert wurde, höchst verdächtig und fremd. Auch die Deutung als Vereinigung der Getrennten, entsprach einer stillen Hoffnung des Bischofs. Denn von geistlichen Trennungen hatte er in der Braunschweiger Landeskirche viel erlebt und erlitten, aber eine Art von Vereinigung der getrennten Brüder und Schwestern beim Abendmahl war, wenn überhaupt, eine Seltenheit. Auch das Motiv einer Solidarität mit den Bedrängten war in der lutherischen Abendmahlsliturgie nicht vorhanden. Was Falcke hier wie im nebenbei entfaltete, müsste eine sonntäglich wiederholbare liturgische Form finden. Es machte überdies deutlich, dass die Minderheitenkirche nicht als Volkskirche en miniature gedacht war, sondern eine wirklich andere Kirche, eine Diasporakirche war. Das Abendmahlsverständnis der Volkskirche quält sich mit der liturgiegeschichtlichen Anlehnung an die Messliturgie, quält sich mit den veralteten Bildern vom Leib und Blut Christi und erstarrt in einer stummen. freudlosen Feierlichkeit. Heintze stand vor dem Problem, dass in einer bröckelnden Volkskirche die Umrisse einer Diasporakirche noch zu undeutlich wirkten, und so andere kaum „mitnehmen“ und überzeugen konnten. Erst am Ende seines Rundbriefes verwies Heintze auf die sich in letzter Zeit verschlechternde Lage für die Kirchen in der DDR. Falcke forderte von der DDR Regierung unverblümt die ungehinderte Möglichkeit des Glaubens. „Nur wenn der Christ mit ganzem Herzen Christ sein kann, wird er auch innerlich frei sein für den Dienst, den Staat und Gesellschaft von ihm erwarten dürfen.“ Heintze war stark beeindruckt und blickte mit viel Sympathie auf die Lage und Zukunft der Kirchen in der DDR, wie sie von Falcke beschrieben worden war und suchte nach Vergleichsmöglichkeiten. Der Blick auf die Lage in die DDR-Kirchen bot ihm viele Anregungen und, wie er hoffte, auch für die Braunschweiger Kirchengemeinden, denen er in diesem Brief davon erzählte.


Umfrage „Wie stabil ist die Kirche?“ 1974

Im Jahr der Dresdener Synode 1972 führten die EKD, die Ev. Kirche in Hessen und der Ev. Gemeindeverband Frankfurt eine Befragung von Gemeindemitgliedern durch, die sich zum Zustand der Kirche, wie stabil sie sei, äußern sollten. Die Ergebnisse wurden 1974 unter dem Titel „Wie stabil ist die Kirche“ veröffentlicht.20 Die Antworten waren vieldeutig. Eindeutig jedoch war das Ergebnis, dass ein Zusammenbruch der Volkskirche in allernächster Zeit nicht zu erwarten sei. Die Befragung liefere Hinweise darauf, „dass die Kirchenmitgliedschaft für die große Mehrheit der Evangelischen in der Bundesrepublik und Berlin (West) im Bereich überkommener Selbstverständlichkeit liege und gegenwärtig nicht gefährdet sei“. So die Zusammenfassung. Die Stabilität sei „nach wie vor erstaunlich groß.“21 Damit war das Tempo auf dem Weg in eine Minderheitenkirche / Diasporakirche erheblich verlangsamt. Eine Säule der Volkskirche war die Kindertaufe. Als Gründe für eine Taufe gaben 85 % der Befragten an, „damit es zur Kirche gehört“, 82 % „damit es in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wird“, 78 % „damit es später kirchlich getraut werden kann“, 75 % „damit es christlich erzogen werden kann.“22 In der Braunschweiger Landeskirche erlebten die meisten Pfarrer einen Taufgottesdienst erheblich anders. Das Glaubensbekenntnis, das die Paten an Stelle des Kindes sprechen sollten, war völlig unbekannt, das Vaterunser kannte eine Minderheit bruchstückhaft. Tauflieder konnten nicht gesungen werden, weil die Melodien unbekannt waren. Der Pfarrer kam sich vor wie ein Palmkübel zur Ausstattung eines Familienfestes. Großeltern und Eltern waren getauft, „die meisten machten es so“, gaben 63 % als Grund an und für 40 % hatte die Taufe keine Bedeutung, sie sei in erster Linie ein Familienfest.23 Bei genauerem Hinsehen der Zahlen ergab sich also noch ein anderes, bedenklicheres Bild. Für die kirchliche Trauung hatte man auf eine entsprechende Erhebung verzichtet. Ganz offenbar erfuhren die üblichen Amtshandlungen einen Bedeutungswandel. Sie veränderten sich in der säkularen Umwelt zu schmückendem Beiwerk des Familienfestes. Die Mitglieder erwarteten, so die Umfrage, „die alte, vertraute Kirche, die verständlich predigt, dem einzelnen in seinen existenziellen Problemen beisteht und für die Hilflosen sorgt. Man will diese ‚alte’ Kirche deutlicher und aktiver als bisher.“24 Die Entscheidung für die „Erneuerung der alten Kirche“ sei ziemlich überwältigend, bilanzierten die Auswerter das Frageergebnis.25 Dies konnte als Schlag gegen jede Art der Kirchenreform verstanden werden. Andrerseits waren die Verfechter einer Kirchenreform nie eine Mehrheit gewesen, sondern die Avangarde einer künftigen Kirche. Auch das Ergebnis, man wolle weder den Rückzug aus den volkskirchlichen Verantwortungen noch die sozialdiakonische und politisch-diakonische Expansion,26 las sich für Heintze nicht ermutigend, der ein gesellschaftspolitisches Engagement andauernd angemahnt hatte. Die befragten Mitglieder wünschten sich eine zentrale Rolle des Pfarrers in der Kirchengemeinde, einen Inhaber eben jenes „geistlichen Amtes“, das Heintze in der Verfassungsdebatte wiederholt strikt abgelehnt hatte.27 Die Bereitschaft zur Mitarbeit schätzten die Auswerter nicht ungünstig, geradezu rosig ein. Die Kirche könnte mit 20 % der Befragten als Mitarbeiter rechnen. Auch bei dieser Frage konnte man aus der Erhebung anderes herauslesen. Von denen, die sich mit der Kirche „sehr verbunden“ fühlten, waren fast die Hälfte (44 %) nicht zu einer Mitarbeit bereit, bei den „ziemlich Verbundenen“ 70 % und bei den „etwas Verbundenen“ 81 % nicht zur Mitarbeit willig.28 Von einem mitarbeitenden „Priestertum aller Glaubenden“ konnte demnach kaum eine Rede sein.


Die brüderliche Freundschaft zwischen Bischof Heintze und Bischof Krusche

Heintze ließ sich von dem Umfrageergebnis nicht grundsätzlich beeindrucken. Prägender war für ihn der Kontakt zu Bischof Krusche. Mit dem nur wenige Jahre jüngeren Magdeburger Bischof Werner Krusche verband Heintze eine herzliche, brüderliche Freundschaft bis ins hohe Alter. Zwischen beiden bestand ein seltsamer Gleichklang der biografischen Entwicklung. Beide stammten aus frommen Elternhäusern. Krusches Vater war Gemeinschaftsprediger in Lauter/Sachsen gewesen. Beide waren Kriegsteilnehmer, aber Krusche wurde an der Ostfront schwer verwundet. Beide waren wissenschaftlich hochqualifiziert, Krusche promovierte in Heidelberg, und war dort eine Zeitlang wissenschaftlicher Assistent. Krusche siedelte mit 37 Jahren vom Westen 1954 in seine sächsische Heimatkirche, und wurde im selben Jahr in der Auferstehungskirche in Dresden zum Pfarrer ordiniert und blieb in der Gemeinde drei Jahre. Beide, Krusche und Heintze leiteten ein Predigerseminar, Krusche seit 1958 in Luckendorf bei Zittau. Für kurze Zeit war Krusche Dozent für Systematische Theologie am Leipziger Seminar. Aber beide zog es in die Gemeinden und in die praktische Theologie. Krusche wurde 1968 Bischof der provinzsächsischen Landeskirche. Beide gerieten mit ausgeprägten theologischen Gründen in ihren gesellschaftlichen Systemen gegen den Strom. Beide waren Kirchenreformer in ihren Landeskirchen, beide waren in der Schrift gegründete Theologen und hatten ihre entscheidenden Impulse von der Theologie Karl Barths erhalten. Beide beriefen sich in ihrem kirchenleitenden Handeln auf den Grundsatz „non vi sed verbo“. Beide waren musikalisch und entspannten sich, Krusche bei der Geige, Heintze beim Cello. Beide hatten ein ähnliches Frömmigkeitsprofil. Als Bischof Krusche gefragt wurde, wie er denn Christ geworden sei, antwortete er, das sei nicht seine Idee und seine Initiative gewesen. Dafür sei Gott verantwortlich. Auch Heintze fühlte sich dazu berufen, „ganz und uneingeschränkt und auf Dauer Gott zu gehören. „Ehe wir angefangen haben nach ihm zu suchen und zu fragen, war seine Menschenliebe schon längst auf dem Plan. Gott hat unbegreiflicherweise Freude daran, uns Menschen in seine Gemeinschaft zu berufen.“29 Beide gingen fast zu gleicher Zeit in den Ruhestand, Heintze 1981, Krusche 1983. Beide beobachteten den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und die entsprechende kirchliche Entwicklung mit Sorge.30 1990 erschien ein Aufsatzband mit Aufsätzen von Werner Krusche unter dem Titel „Verheißung und Verantwortung“, zu dem Heintze eine Buchbesprechung beisteuerte.

Beide machten aus der gegenseitigen Sympathie keinen Hehl. Als Propst Klaus Jürgens Krusche zu einem Referat nach Braunschweig einlud, bedauerte Krusche seine Absage, „zumal mich mit Ihrem Bischof eine herzliche Freundschaft verbindet“.31 Zum 75. Geburtstag Heintzes kam Krusche nach Braunschweig, hielt eine launige Rede und hatte zur Festschrift einen Beitrag verfasst.32 Auch zum 90. Geburtstag von Heintze begegneten sich beide wieder, nun in Stuttgart. Zu dieser Festschrift im Jahr 2002 hatte Krusche seinen Aufsatz „Biblische Orientierung zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR im Wendejahr 1989“ zur Verfügung gestellt.33 Beide waren sich immer wieder bei den Tagungen der KEK begegnet. Ob es auch zu einem Austausch „von Haus zu Haus“ in den Pfarrhäusern kam, ist nicht bekannt. Parallelen schneiden sich erst im Unendlichen. Immer wieder zitierte Heintze Lagebericht aus Ansprachen Krusches. Krusche und Heintze waren vor allem verbunden durch eine gemeinsame Sicht einer zukünftigen Kirche. Mit Zustimmung hatte Heintze den Vortrag Krusches über den Weg der Kirche in die Diaspora gelesen.


Der Vortrag Krusches „Die Gemeinde Jesu Christi auf dem Weg in die Diaspora“

Werner Krusche, hielt am 17. November 1973 vor der provinzsächsischen Synode einen grundlegenden Vortrag „Die Gemeinde Jesu Christi auf dem Weg in die Diaspora.“ 34

Krusche unterschied drei Diasporasituationen, eine konfessionelle Diaspora, z.B. eine evangelische Minderheit in einem katholischen Umfeld, eine säkulare Diaspora, z.B. eine christliche Minderheit im säkularisierten Land, und eine ideologische Diaspora wie die evangelische Kirche in dem erklärt atheistischen Staat der DDR, der neben sich keine Kirche duldet. Die Diasporasituation in der DDR unterscheide sich von der der Jungen Kirche, weil sie von der Volkskirche herkomme und die Diaspora als Defizit empfinde. „Wir sind zur Minderheitskirche geworden, ohne mit unserer Geschichte brechen zu können und wollen. Wir müssen als Minderheitskirche mit der Wirkungsgeschichte der Volkskirche mit ihren Segen und ihrer Last fertig werden und können nicht aus ihr ausscheren.“ (KJ 1973 169) Da diese Minderheitensituation nicht aus geistlicher Einsicht oder aus freiem Antrieb erfolgte, sondern die Kirche durch äußeren Druck in sie hineingedrängt worden sei, sei es kein Wunder, dass diese Situation noch immer nicht wirklich innerlich angenommen, geschweige denn geistlich verarbeitet worden sei. Es gelte, diese Situation als Führung des Herrn anzunehmen und in seiner Nachfolge die nächsten Schritte zu überlegen. Der Weg in die Minderheitenkirche sei der einer lernbereiten Kirche in der Weitergabe des Evangeliums, in der Lebensgestaltung der Gemeinde und zur Mitarbeit in der Gesellschaft.

Der Rückgang der Anzahl der Kirchenmitglieder in der DDR, der Taufen und Trauungen, der Grundkenntnisse der christlichen Überlieferung im Elternhaus beschreibe eine Diasporasituation. Die Kirche werde zwar nicht verfolgt und gewaltsam bekämpft, so Krusche, aber sie sei eine Kirche ohne Privilegien und die Glieder der Kirche seien dauernd der heimlichen Erwartung ausgesetzt, ihren Glauben aufzugeben oder jedenfalls für sich zu behalten und es zu unterlassen, andere dafür gewinnen zu wollen. Sie sei eine „unterprivilegierte Kirche, zu der ein bewusster Staatsbürger eigentlich nicht dazugehören sollte“.35


Heintzes Lagebericht 1974

Die Situation der Kirchen im Westen, auch der Braunschweigischen Landeskirche erschien grundlegend anders, zumal das Ergebnis der Befragung „Wie stabil ist die Kirche?“ so positiv erschien, dass man in seinen perspektivischen Überlegungen von der Aussicht auf eine Minderheitenkirche in der Diaspora Abstand nehmen musste. Aber seinen Lagebericht im März 1974 begann der Bischof mit einer ausführlichen Betrachtung über – so die Überschrift – „Volkskirche und Diaspora-Situation“36 und schilderte zunächst die Situation in den Kirchen der DDR und referierte Krusches grundlegenden, oben angedeuteten Vortrag. Heintze beobachtete in der Landeskirche trotz einer rechtlich ungleich günstigeren Situation eine ähnliche Entwicklung, obwohl die jüngste Prognose in der EKD Umfrage „Wie stabil ist die Kirche?“ „beachtenswert positiv“ ausgefallen sei. „Dennoch meine ich, dass nicht nur die Christen in der DDR, sondern auch wir in der Bundesrepublik uns ganz bewusst darauf einstellen sollten, dass der Weg der Gemeinde Jesu Christi auch bei uns immer deutlicher der Weg in die Diaspora-Situation werden wird.“ 37 Diese Minderheitenkirche in der Diasporasituation sei kein Anlass zu Angst und Panik. Krusche hatte auf das Zeugnis des Neuen Testamentes verwiesen, wonach gerade der bedrängten, versagenden und in der Gefahr totaler Auflösung stehenden Gemeinde die Verheißung gegeben sei, dass der Herr ihr vorangehe: „Die Verheißung des vorangehenden Herrn ist das Licht, das diese Diaspora lebbar, begehbar, voller sinnvoller Möglichkeiten macht – aller „Sprache der Tatsachen“ zum Trotz. Diaspora wird unter dieser Verheißung und der neuen Sendung durch den Auferstandenen nicht zum Ghetto, in dem sich die Gemeinde abschließt und absichert, um bis zum Kommen des Herrn abgekapselt und verpuppt sich durchzuhalten.“38 Das biete, so Heintze, trotz der Unterschiede in der äußeren Situation auch für uns, für die Braunschweigische Landeskirche, einen festen Orientierungspunkt. Die Aussprache der Synode wurde von der Frage der Besetzung des Studentenpfarramtes und von einem Protest gegen eine im Fernsehen gezeigte Abtreibung überlagert. Zu grundsätzlichen Fragen, über die künftige Gestalt der Kirche, die für Heintze im Vordergrund standen, drangen die Synodalen nicht durch.39 Aber der Redakteur Otto griff das Anliegen Heintzes auf und titelte den Synodenbericht im SONNTAG mit „Chancen auf dem Weg in die Minderheit – künftig möglich Diaspora-Situation.“40


Albrecht Schönherr: Lernende Kirche

Anfang Oktober 1974 gab Bischof Heintze seinen Kollegiumsmitgliedern im Landeskirchenamt einen Bericht von Albrecht Schönherr in den Umlauf, der von den Kollegiumsmitgliedern auch abgezeichnet wurde.41 Er wusste nicht, ob sich die Kollegiumsmitglieder mit dem Referat von Krusche vom November 1973 befasst hatten. Albrecht Schönherr, Bischof von Berlin-Brandenburg Region Ost und Vorsitzender des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, hatte Ende September 1974 vor den Synodalen des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR den wegweisenden Vortrag „Die Kirche als Lerngemeinschaft“ gehalten, dem sich Heintze inhaltlich sehr verbunden fühlte. Es war ein weiterer, ähnlicher Schritt wie jener, den Krusche vor der provinzsächsischen Synode getan hatte. Schönherr beschrieb eingangs den Zusammenhang von Glauben und Lernen und die Kirche als Gemeinschaft derer, die in der schöpferischen Nachfolge von, durch und für Christus lernten. Lernen durch Christus bedeute: „Für uns Christen ist der Glaube keine Abendschule, zu der wir uns gemeldet hätten, etwa um besser Bescheid zu wissen oder unsere Persönlichkeit zu entwickeln. Wir stehen nicht unter dem Zwang, einen Stoff zu bewältigen oder uns zu blamieren. Weil uns der Herr berufen und uns selbst an die Hand genommen hat („ergriffen“ D.K.), brauchen wir keine Angst zu haben, wir gäben uns oder etwas auf. Wir blamieren uns nicht, wenn wir umlernen und noch einmal neu lernen müssen. Wir können es uns leisten zu „vergessen, was dahinten ist.“42 Christlicher Glaube sei nicht „Übernahme von ein für alle mal gültigen Wertvorstellungen oder Verhaltensmustern“, sondern das Risiko eines Lebens mit Christus bestehe nach Phil 3, 12-14 in einem ständigen Lernprozess: „Nicht, dass ich schon ergriffen habe, ich jage ihm aber nach.“ „Von Christus lernen heiße, sich als sein Schüler zu verstehen, der nie auslernt. Darin bestehe das Jüngersein. Lernen sei ein wesentlicher Teil schöpferischer Gemeinschaft.“43 „Dahinten“ lag für Schönherr die Volkskirche. „Die Kirchen befinden sich heute in einem der größten Lernprozesse ihrer Geschichte. Sie sind nicht mehr Volkskirchen, bezogen auf eine stabile Gesellschaft. Viele „Selbstverständlichkeiten“ ihrer Moral, die sie Jahrhunderte lang als gottgegeben ansahen, erweisen sich als unstabil, weil sie tatsächlich auf den Wertvorstellungen der Gesamtgesellschaft beruhten. Darum müssen die Kirchen überall auf der Erde ihre Ethik neu überdenken. Sie müssen sich daran gewöhnen, dass alles, was früher als absolut sicher galt, hinterfragt werden kann.“44 „Unsere Kirchen sind in die Situation von Minderheiten geraten. Sie müssen lernen, ohne Privilegien zu leben. Sie können ihr Bestehen nicht mehr mit dem allgemeinen Bedürfnis erklären. Diese Situation hat erhebliche Chancen. Macht- und Frontdenken werden widersinnig. Die Christen sind eine Gruppe geworden, die sich leichter als früher dahin stellen kann, wohin sie gehört – zu den Ohnmächtigen.“ „Sie müssen, ohne von Achtung und Anerkennung der Mitmenschen getragen zu werden, das Evangelium dennoch nicht als zusätzliche Last oder gar als Drohung, sondern als Befreiung und Freude weiterzusagen lernen.“45 Schönherr wandte im Folgenden den Lernprozeß auf die spezifische Situation in der DDR an und verwies auf die Ungleichzeitigkeit des Lernprozesses,46 der in den Randgebieten der großen Städte anders sei als in den Landgemeinden Sachsens. Schönherr bezog sich vielfach mit sehr ausführlichen Zitaten auf das Buch von Karl Rahner „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“. Es komme darauf an, „die Art der anderen zu leben und zu denken, zu beten und zu predigen als Frage an die eigene Kirche zu verstehen.“47 Es sei zu prüfen, was im Bund zentral und was getrennt zu leisten sei. Es dürfe keine Trennungen geben. Ein Nein sollte „immer erst ganz am Ende eines Gespräches und sehr zögernd zu wagen sein.“48 Ob den Wolfenbüttler Kollegiumsmitgliedern die Nähe der kirchenpolitischen Absichten ihres Bischofs zu den Gedankengängen Schönherrs aufgegangen war? Die Hartnäckigkeit, am Gespräch mit dem Andersdenken in der Landeskirche und der Braunschweiger Gesellschaft festzuhalten, das Konzept der ständigen Lernbereitschaft, die Schönherr, unwissend, mit Heintzes Konfirmationsspruch (Phil 3) begründet hatte, der Abschied von der Volkskirche, die Offenheit für verwandte Überlegungen in der katholischen Kirche? Es war die geistliche Dimension, die Heintze an den Verlautbarungen der DDR Kirchenleitung so imponierten. Als die Erinnerung an die Kapitulation der deutschen Truppen am 8. Mai 1945 zum 30. Mal begangen wurde, war, anders als in der Erklärung des Rates der EKD, nach den Rückwirkungen auf die Kirche in der Gegenwart gefragt: „Müsste nicht die Erinnerung an den 8. Mai 1945 in uns Impulse des Evangeliums neu freisetzen? Das heißt kritisch zu werden gegenüber allen Situationen, in denen der Tod noch seine Feste feiert, bereit zu werden im Dienst für andere zu leben und zu leiden? Die Kirche als eine Gemeinschaft von Befreiten und Versöhnten: Gehen wir so miteinander um? Tragen wir unsere Konflikte so aus?... In der Antwort auf die Fragen, die uns die Besinnung auf den 8. Mai 1945 stellt, wird sich erweisen, ob wir die Hoffnung auf Gottes Reich, die uns trägt, weitertragen.“ Heintze war dem selbstkritischen Ton der Erklärung und der Frage nach dem Umgang miteinander in der Kirche, unter dem er in der eigenen Landeskirche durchaus litt, ziemlich nahe. Daher teilte er der Pfarrerschaft die Stellungnahme der DDR Kirchenleitung im Auszug mit. 49


Eine Richtungswahl im Oktober 1973: Oelker oder Wanderleb

Es war ein auffälliges, fruchtbares Zusammenwirken unter den kirchenleitenden Verantwortlichen in der DDR, wie Schönherr, Krusche, Falcke, die die zukünftige Gestalt der Kirche einvernehmlich entwickelten und gemeinsam nach vorwärts dachten, auch gegenüber den Kirchengemeinden immer wieder vortrugen. Das ist ein merklicher Unterschied zur Situation von Bischof Heintze, die sich im Oktober 1973 deutlich verändert hatte. Oberlandeskirchenrat Rudolf Brinckmeier war 1973 mit 67 Jahren aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand gegangen. Damit endete eine von Heintze geschätzte Zusammenarbeit. Brinckmeier als der um wenige Jahre Ältere und in der Braunschweigischen Landeskirche Bewanderte hatte dem Bischof immer wieder den Rücken freigehalten, in der Frage der Vertriebenendenkschrift und vor allem der Ostverträge 1972. Sie waren sich theologisch als barthianisch geprägte Lutheraner und im kirchenpolitischen Kurs (Pastorinnenfrage, Verfassung) einig. Heintze fiel der Abschied von Brinckmeier sichtlich schwer. Nie wieder hat er ein solche Würdigung ausgesprochen wie für diesen seinen Stellvertreter. 50 Heintze, Brinckmeier und Kammerer hatten als gemeinsame Vergangenheit die Erlebnisse in der Bekennenden Kirche, der sie sich zugehörig fühlten. Das war ein offener Gegensatz zu den drei Theologen Erdmann, Röpke und Wedemeyer, von denen sich nur Erdmann der Bekennenden Kirche verpflichtet fühlte. Ich hatte die Vorstellung, dass drei BK Leute in den drei führenden theologischen Positionen der Landeskirche sich verständigen und BK-nahe Projekte andenken, planen und verwirklichen würden. Man kann die Durchführung des Pastorinnengesetzes und die Herausstellung der verantwortlichen Mitwirkung der Laien in der Kirchengemeinde (Vorsitz im Kirchenvorstand u.a.) in der Verfassung unter diesem Gesichtspunkt sehen. Aber es kam zu keinem erkennbaren gemeinsamen Handeln der Drei. Unterschiedliche Ordnungsvorstellungen und Anschauungen von Kirchenleitung standen im Wege. Die Bekennende Kirche war z.B. sichtlich eine Minderheitenkirche in der Deutschen Evangelischen Kirche gewesen. Es hätte nahe gelegen, dass aus dieser Erfahrung die Vorstellung einer zukünftigen Minderheitenkirche konkret geworden wäre. Aber die drei Theologen in der Kirchenbehörde harmonierten nicht zusammen. Kammerer fühlte sich isoliert. Als er fünf Jahre nach Eintritt in den Ruhestand gefragt wurde, ob er noch einmal Oberlandeskircherat werden möchte, antwortete er mit einem entschiedenen „Nein“.51 Er sei der Berufung in das ungeliebte Wolfenbütteler Amt aus Pflichtgefühl gefolgt, hieß es weiter. Und es stand ihm mit der bevorstehenden Wahl die Arbeit in dem Personalreferat noch bevor. Nun musste ein Nachfolger für Rudolf Brinckmeier gewählt werden. Bisher rückte der jeweilige Direktor des Predigerseminars in die Kirchenbehörde nach. So wurde bei der Wahl am 5. Oktober 1973 im Katharinengemeindesaal Hans Adolf Oelker, seit 1969 als seinerzeitiger Nachfolger von Kammerer Direktor des Predigerseminars, vom Nominierungsausschuss aufgestellt. Es kandidierte auch Landeskirchenrat Friedrich Wilhelm Wandersleb. Beide wurden ausführlich im SONNTAG vorgestellt.52 Beide waren von Haus aus in der Landeskirche verwurzelt. Oelkers Vater, Adolf Oelker, war Propst von Börßum gewesen. Der sehr viel ältere Bruder des Kandidaten, Karl Heinz, war bereits amtierender Propst von Wolfenbüttel. Für Oelker sprach seine längere Gemeindeerfahrung. Er war 15 Jahre lang seit 1954 Pfarrer an der Johanniskirche in Lebenstedt gewesen. Auch Friedrich Wilhelm Wandersleb entstammte einer weit verzweigten Braunschweiger Pfarrersfamilie. Der Großvater, der Marienberger Pfarrer Albert Wandersleb, hatte zehn Söhne von denen sechs Pfarrer in der Landeskirche wurden. Einer von ihnen, Justus, war der Vater des Kandidaten. An Gemeindeerfahrung mangelte es ihm. Er war nur zwei Jahre lang Pfarrer an der Helmstedter Walpurgiskirche gewesen, danach zwei Jahre Hilfsreferent im Lutherischen Kirchenamt und danach acht Jahre Militärpfarrer, Oberpfarrer in der Garnison Braunschweig. Dort gab er sich als erklärter Antikommunist. Seit 1967 war er als Landeskirchenrat im Landeskirchenamt für Ökumene und Öffentlichkeitsarbeit und Rundfunkwesen zuständig. Wegen seines Eintretens für einen christlichen Religionsunterricht sei er zusammen mit dem Rektor 1939 von Ministerpräsident Klagges persönlich von der Wolfenbütteler Gr. Schule verwiesen worden.53 „Nach einer weiteren Schulzeit in Magdeburg, nahm er an dem Zweiten Weltkrieg teil, wurde mehrfach verwundet und konnte 1946 sein Abitur ablegen,“ hieß es in der den Synodalen vorliegenden Kurzbiografie. Kriegsteilnahme war ein seinerzeit ausgesprochen positiv besetztes Charaktermerkmal. Dort lerne man Kameradschaft schätzen. Konnte Oelker nicht mit Kriegsteilnahme und Verwundungen aufwarten, so unterschieden sich beide im theologischen Profil und im Charakterlichen. Oelker war der gewandte, bei den theologischen Wochen unter Propst Harborth engagierte, den Fragestellungen der Gegenwart aufgeschlossene Gemeindepfarrer. In der mündlichen Vorstellung vor der Synode plädierte Oelker lebhaft für eine Zusammenarbeit mit den kritischen und abweisenden Gemeindemitgliedern, die ein wesentlicher Bestandteil der Kirchengemeinde seien. Wandersleb war weniger Theologe als ein eher vierschrötiger Kumpeltyp, der die Landeskirche weniger vom Kopf her als vom Kameradschaftsmilieu verwalten würde. Oelker war auf Abstand bedacht, Wandersleb auf Kumpanei. Als der Präsident Gremmels fragte, ob denn noch weitere Kandidaten aus der Synode heraus vorgeschlagen würden, meldete sich Propst Blümel und teilte den Synodalen mit, dass der AK Bugenhagen Warmers aufgestellt habe, dieser jedoch verzichtet habe, als bekannt wurde, dass Landeskirchenrat Wandersleb aufgestellt sei, gegen den er nicht kandidieren wolle. Einmal in Fahrt plauderte Blümel, dass der AK Bugenhagen und auch der AK 70 Wandersleb wählen würde, was sofort vom Synodalen Brackhahn zurückgewiesen wurde. Immerhin war das ein geschäftsordnungswidriges Signal für die unentschlossenen Synodalen. Der Präsident Gremmels spottete, er bitte nicht Namen zu nennen, die aus der Synode heraus nicht kandidieren wollten.54 Der Ältesten- und Nominierungsausschuss hatte sich noch zwei Fragen überlegt, die er nach der Vorstellung den beiden Kandidaten vorlegen wollte. Blümel protestierte gegen das Verfahren, der Synodale Johns beantragte eine Abstimmung, ob die Fragen vorgelegt werden sollten, die Abstimmung ergab ein unklares Ergebnis, sodass Gremmels die Wahl wiederholen wollte, was Blümel wiederum beanstandete, da für ihn das Ergebnis der Abstimmung klar gegen eine Befragung ausgefallen sei. Schließlich einigte man sich auf eine knappe Befragung. Die Fragen lauteten sinngemäß, wie die Kandidaten als Oberlandeskirchenräte auf Polarisierungen in der Pfarrerschaft reagieren würden und was sie von der Volkskirche hielten. Die Antworten Oelkers waren differenziert, aber in dieser Situation zu umständlich. Anders als Oelker votierte Wanderlsleb für eine starke Volkskirche, die große Möglichkeiten in der Öffentlichkeit und für die Diakonie eröffnete. Die Volkskirche sei vor allem auf dem Lande noch längst nicht zu Ende. Das Abstimmungsergebnis ergab 32 Stimmen für Wandersleb, 22 Stimmen für Oelker.55 Die Frage nach der Volkskirche hatte den Ausschlag gegeben. Das Ergebnis bedeutete eine Rückkehr in die Ära Röpke, Breust, Erdmann, dessen Erbe Wandersleb zu verwalten beanspruchte.

Bischof Heintze hatte nun einen Gesprächspartner weniger. Mit Vorstellungen von einer Diasporakirche oder gar mit Karl Barth konnte der frisch gewählte Oberlandeskirchenrat gar nichts anfangen. OLKR Kammerer erhielt das Personalreferat (Ref. I) und OLKR Wandersleb das Gemeindereferat (Ref. II). Kammerer war bereits 63 Jahre alt und würde zwar bis zum 65. Lebensjahr in dem „ungeliebten“ Landeskirchenamt der Landeskirche dienen, aber keinen Tag länger. Er war im Referat I ein Übergangskandidat, und es war für die Synodalen abzusehen, dass Wandersleb in das Referat I nachfolgen würde. Darin lag das eigentliche Gewicht dieser Wahl von 1973.


Zustimmung zur Leuenberger Konkordie

Ein anderes Ergebnis indes erfreute den Bischof. Die Landessynode stimmte mit sehr großer Mehrheit der Leuenberger Konkordie zu. Sie beseitigte die konfessionellen Grabenkämpfe zwischen der lutherischen, reformierten und unierten Kirche in ganz Europa und erklärte die aus der Reformationszeit stammenden dogmatischen Unterschiede für nicht kirchentrennend. Diese drei Kirchen bezeugten ein gemeinsames Verständnis vom Evangelium, nämlich von der Rechtfertigungsbotschaft, von Taufe und Abendmahl. Die früher ausgesprochenen Verwerfungen etwa über die Prädestination, auch über die Person Jesu und das Abendmahl beträfen nicht mehr den gegenwärtigen Stand der Lehre. Sie vereinbarten Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und die gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Ordination. Vielleicht war es eine Hilfe für die Synodalen, dass von der kleiner gewordenen Gruppe der Kirchlichen Sammlung heftiger Protest gegen die Leuenberger Konkordie geäußert worden war, Sie fürchtete um die „Reinheit des Bekenntnisses“. Pfarrer Büscher hatte die Absetzung der Entscheidung von der Tagesordnung der Synode gefordert, fand indes keinen Synodalen, der diesen Antrag aufnahm und in die Verhandlung einführte. Pfarrer Robert Theilemann erhielt als Vorsitzender der Kirchlichen Sammlung Rederecht vor der Synode und brachte deren Argumente vor, aber die Synode wollte keine Neuauflage des Streites um die Bibel, wie er noch von 1966 in Erinnerung war und stimmte der Konkordie zu. Zwei Synodale stimmten dagegen, zwei enthielten sich der Stimme. Die Leuenberger Konkordie beendete ein Ärgernis, das auch nicht der Kirchenkampf beseitigt hatte. Die Synodalen der Bekenntnissynoden 1934 – 1936 konnten nicht gemeinsam Abendmahl feiern. Erst die Preußensynode 1938 in Halle hatte den Beschluss zur Öffnung des Abendmahls gefasst, was jedoch von den Lutheranern nicht erwidert worden war. Die Flüchtlingspfarrer aus den Kirchen der Altpreußischen Union, die nach 1945 in der Landeskirche untergekommen waren, waren einer peinlichen Aufsicht von OLKR Seebaß unterworfen, ob ihre Abendmahlsfeier auch der lutherischen Ordnung entsprach. Dieser geistliche Hochmut hatte nun endlich ein Ende. Es war bedauerlich, dass nicht die Freude über den großen geistlichen Gewinn im europäischem Ausmaß die Aussprache in der Landessynode bestimmte, sondern die Rücksichtnahme auf die Gewissensbedenken einiger Pfarrer.

Die Braunschweiger Landessynode war die erste lutherische Synode, die der Leuenberger Konkordie zugestimmt hatte und nicht das Votum der Generalsynode der VELKD in Lübeck Travemünde abgewartet hatte, was dort in einigen Debattenbeiträgen übel vermerkt wurde. Heintze war sich offenbar nicht sicher, ob die Generalsynode dieses Thema nicht möglicherweise verschleppen würde. Und tatsächlich wurde die Aussprache über die Leuenberger Konkordie durch Voten von Bischof Dietzfelbinger und Landessuperintendent Heubach, Ratzeburg, eröffnet, die für eine Aufschiebung plädierten. Heintze hatte sich in seiner Einschätzung nicht geirrt. Er ergriff bald selber dass Wort und berichtete ohne Schärfe von der Beschlussfassung in Braunschweiger Landeskirche und von der großen Rücksichtnahme auf die Gegner von Leuenberg.56 Leider wurde auch diese Debatte nicht davon bestimmt, die inhaltlichen Aussagen der Leuenberger Konkordie in ihrer Bedeutung für die Gemeinden und für die Ökumene zu entfalten, sondern die Bedenken von Bischof Dietzfelbinger und Landessuperintendent Heubach, Ratzeburg, zu zerstreuen. Wie auch später blockierten die Evangelikalen eine fruchtbare Aussprache. Der Antrag von Heubach, eine Beschlussfassung auszusetzen, wurde mit deutlicher Mehrheit von fünf zustimmenden und 44 ablehnenden Stimmen abgeschmettert. 57


EKD Synode Freiburg 1975

Nachdem die Kirchenaustritte einzelne Landeskirchen der Bundesrepublik zu ersten grundsätzlichen Überlegungen über die künftige Gestalt der Kirche angeregt hatten, wurde diese Frage als Hauptthema auf die Tagesordnung der EKD Synode in Freiburg/Breisgau gesetzt. Dazu hatte Wolfgang Huber, Mitglied der Forschungsgemeinschaft Heidelberg, unter der Fragestellung „Welche Volkskirche meinen wir?“ über die Herkunft und Zukunftsmöglichkeiten von Volkskirche einen gründlichen Aufsatz verfasst.58 Dabei unterschied er fünf verschiedene Bedeutungen in der Geschichte des Begriffes: Volkskirche als Kirche „durch das Volk“, so bei Schleiermachter, als Kirche „hin zum Volk“ bei J.H. Wichern, als national eingefärbtes „Kirche eines Volkes“, das seine Auswüchse Ende des Kaiserreiches und seine Perversion bei den Deutschen Christen erfahren habe, als Kirche „für das Volk“, das in der Kindertaufpraxis sein Fundament sah und schließlich Kirche „für das Volksganze“, wie es Otto Dibelius in seinem Buch „Das Jahrhundert der Kirche“ begründet habe. Diese fünf Bedeutungen von Volkskirche ließen sich nicht aus der Bibel herleiten, sondern waren aus der jeweils sozial-politischen Situation entstanden. In der Gegenwart seien einige Bedeutungsmuster noch gültig, nämlich dass die Verkündigung allen gelte und Volkskirche in ihrem Handeln und ihrer Gestalt offen sein müsse. Ihr „eigne ein Zug zu den Schwachen,“59 und zu einer „demo“kratischen Tendenz. Wenn die Kirche in dieser Hinsicht reformfähig bleibe, habe sie Bestand. Die Bezeichnung „Volkskirche“ sei eine zweitrangige Frage. Dieser Aufsatz bot reichhaltigen Stoff für eine Synodendebatte. An der EKD Synode in Freiburg nahmen aus der Landeskirche außer Bischof Heintze die Synodalen Eberhard v. Bülow, Stadtdirektor Heinrich Gremmels und Präsident Dr. Stampehl, Braunschweig teil. Die westdeutschen Landeskirchen wollten auf Grund der bröckelnden Mitgliederzahlen, auch eines provokanten FDP Grundsatzpapiers, eine Standortbestimmung vornehmen.60 Dazu hatte ein Vorbereitungsausschuss ein Arbeitsergebnis vorgelegt, das zwar das Unbehagen an der Volkskirche thematisierte, sie jedoch nicht grundsätzlich in Frage stellte. Es formulierte zunächst eine Reihe selbstkritischer Beobachtungen wie: die Kirche vernachlässige distanzierte Mitglieder, wecke Scheu vor Bevormundung und spreche vor allem den Intellekt an und machte zahlreiche Verbesserungsvorschläge. Den Zugang zu dem diffusen Begriff der Volkskirche habe sie über die an die Volkskirche gestellten Erwartungen gefunden.61 Dieses Arbeitsergebnis wurde dann in einem weiteren Papier vom Rat der EKD „weiterentwickelt“, und zwar immer unter dem Gesichtspunkt einer verbesserungswürdigen Volkskirche und der Überschrift „Kirche zwischen Auftrag und Erwartungen“.62 Beide Papiere wurden einem weiteren Ausschuss übertragen, der sie zusammenfassend und mit bereits eingetroffenen kritischen Stellungnahmen der Synode vorstellte63 und vorschlug, die beiden Papiere und die Vorschläge aus der Synode dem ständigen Ausschuss für Schrift und Verkündigung“ zu überweisen.64 Schon die Entstehung dieser Synodenvorlage kennzeichnete die Verlegenheit in der EKD gegenüber dem Thema „Volkskirche“. „Die Polarisierungen verhinderten ein erfolgversprechendes Prozedieren schon im Ansatz,“65 beurteilte Wolf Dieter Hauschildt bereits die inhaltliche Vorbereitung. Die folgende Plenardebatte eröffnete Bischof Wölber, Hamburg, und fragte, „ob wir bereit sind, genügende Realitätsnähe in unseren Papieren zu wahren.“66 Der Synodale Dietrich Goldschmidt bestätigte die unrealistische Einschätzung der Lage für die Berliner Verhältnisse; das Ergebnis der Befragung „Wie stabil ist die Kirche“ täusche eine stabilere Lage vor als sie tatsächlich sei.67 Der Synodale Helmut Simon fragte: „Drücken wir uns nicht im Grunde vor dem, was mit dem Stichwort Volkskirche heute verbunden ist?“ Simon nannte die Lage eine „Übergangssituation, die doch stärker in die Minderheitensituation führen werde.“68 Andere, wie der Synodale Hennig aus Württemberg, definierten die Volkskirche als bekenntnishaftes Bollwerk gegen die atheistischen Völker der Welt.69 Die wenigen kritischen Anfragen zum Thema Volkskirche verliefen im Sande. Die Synode brachte kein Ergebnis zu Stande, vor allem deshalb, weil der Druck von außen nicht groß genug war, weil ein brüderlicher Blick in die Äußerungen der DDR-Kirchen fehlte und der Mut, die Situation der Kirche im Zusammenhang der demokratisch-kapitalistischen, fortschreitend säkularen Gesellschaft zu sehen. In den Landeskirchen war die jeweilige Lage zu unterschiedlich, um zu einer einheitlichen Beurteilung zu kommen. Wolf Dieter Hauschildt bezeichnete die Synodendebatte als Kapitulation vor einem grundlegenden, aber wohl zu anspruchsvollen Thema. „Offenbar hat die evangelische Kirche derzeit keine Möglichkeit, ein solches Thema auf breiter Basis d.h. in ihren offiziellen Vertretungsorganen befriedigend zu erörtern,“ meinte er abschließend.70 Die Synodaldebatte zeigte auch, dass die Sicht von Bischof Heintze auf die Lage der Landeskirchen in der DDR, ausgesprochen selten war und von „drüben“ keine Anregungen für die Debatte um die bröckelnde westdeutsche Volkskirche erwartet wurden. Allein ein Blick in die bereits veröffentlichten Anregungen zu einem Weg in die Diasporakirche in den Vorschlägen von Schönherr und Krusche vor den Synoden ihrer Landeskirchen hätten ein brauchbares Fundament für eine gehaltvolle Debatte ermöglicht. Allerdings blieb auch dieser Blick verhangen. So stellte Bischof Lohse fest, trotz des Verlustes vieler Mitglieder und mancher äußeren Erschwerung des Dienstes habe auch die Kirche in der DDR ihre volkskirchliche Struktur nicht aufgegeben, sondern halte sie bewußt fest, um Kirche für andere zu sein.71 Das war ein kräftiges Missverständnis, das den von Krusche entwickelten Weg von der Volkskirche zu Diasporakirche übersah. In der DDR dagegen legte im Jahr der Freiburger EKD Synode die Theologische Studienabteilung beim Bund der evangelischen Kirchen in der DDR eine Diaspora-Studie vor.72 Darin wurden die Konturen des Referates von Krusche von 1973 und Schönherr 1974 fortgesetzt und in einen ausführlichen theologischen Rahmen gesetzt. Aber die Absicht der Kirchenleitung, die Gemeinden auf den Weg zu einer Minderheitenkirche mitzunehmen, wurde erheblich gestört, als Pfarrer Oskar Brüsewitz im August 1976 sich öffentlich auf dem Marktplatz seiner Gemeinde in Zeitz verbrannte. Wem galt der Protest? Auf dem Plakat, das Brüsewitz aufgestellt hatte, hieß es: „Funkspruch an alle: Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an. Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen“. Obwohl sich die Kirchenleitung mit einem verständnisvollen Brief an die Kirchengemeinden der provinzsächsischen Kirche wandte, verlangsamte sich der Weg in die Zukunft.


Personelle Veränderungen

In den drei großen Propsteien der Landeskirche, Braunschweig, Goslar, Lebenstedt, hatte es einen Personalwechsel gegeben. Die beiden Pröpste, die Heintze als Landesuperintendenten in Hildesheim besucht und als einzigen Kandidaten vorgeschlagen und durchgesetzt hatten, v. Schwartz und Harborth, waren aus Altersgründen in den Ruhestand gegangen. v. Schwartz wurde in der Propstei Goslar zum 14.1.1973 von Hans Jürgen Kalberlah abgelöst73; Harborth wurde in der Propstei Lebenstedt zum 1.12.1974 von Hans Martin Brackhahn abgelost. Kalberlah und Brackhahn unterstützten den kirchenreformerischen Kurs des Bischofs. Brackhahn war in der Wolfenbütteler Thomasgemeinde der Gemeindepfarrer des Bischofs gewesen und fühlte sich auch persönlich mit der Familie verbunden. Mit Eckhard Schliephack, der 1972 mit 37 Jahren Propst der Propstei Vechelde geworden war, bildeten diese drei ein zuverlässige Stütze der Kirchenpolitik Heintzes. In der Stadt Braunschweig wurde Siegfried Stange zum 1.10.1975 nach 30jähriger Dienstzeit an Katharinen und zehnjähriger Amtszeit als Braunschweiger Propst von Klaus Jürgens abgelöst.74 Klaus Jürgens war Mitglied der Kirchenregierung und kannte Heintze aus dieser kirchenleitenden Tätigkeit. „Der Bischof ließ diskutieren“, beschreibt Jürgens noch heute die Art, wie Heintze die Sitzungen leitete. Die Propstei Braunschweig war bereits von ihrer Größe, der Anzahl der Pfarrstellen und der finanziellen Möglichkeiten neben den anderen 12 Propsteien eine Ausnahmepropstei. Klaus Jürgens baute in der Nachfolge seines Vaters Otto Jürgens, der die Propstei von 1946 – 1965 regiert hatte, zu einer kleinen Landeskirche aus. Er amtierte bei aller Loyalität zum Bischof in der Stadt Braunschweig, Heintze von Wolfenbüttel aus in der übrigen Landeskirche. In der Stadt Braunschweig kam es zu einem weiteren weitreichenden Personalwechsel. OLKR Quast, seit 1964 am Dom, ging am 30. September 1975 in den Ruhestand, und Nachfolger wurde der erst 33jährige Armin Kraft. Kraft hatte damals bereits die Fünf-Minuten Andachten begonnen, eine der nachhaltigsten Installationen der 70er Jahre in der Landeskirche. Der Domkantor Dr. Wolfgang Herbst war in die Leitung der Kirchenmusikschule Heidelberg berufen worden. Ihm folgte Helmut Kruse, der eine Domsingschule für alle Altersstufen gründete und mit der Krabbelkantorei schon 1976 zum ersten Mal im Dom musizierte. Gerade die Arbeit mit den Jüngsten war ein großer Erfolg. Es meldeten sich nach dem ersten Aufruf 180 Knirpse.75 Diese kirchenmusikalische Arbeit prägte auch weiterhin die Kirche am Dom. Von der Katharienkirche war Uwe Gross zum Leiter der angesehenen westfälischen Landeskirchenmusikschule in Detmold als Nachfolger von Wilhelm Ehmann berufen worden.76 Uwe Groß hatte in den vergangenen 18 Jahren seiner Tätigkeit an Katharinen mit der Katharinenkantorei ca 50 Kantaten von J.S. Bach, dessen Motetten, die Johannespassion und das Magnificat, Werke der Romantik und vor allem für Hörer und Ausführende schwierige zeitgenössische Musik von Fortner, Pepping, Zimmermann, Hessenberg, Hindemith, Stockmeier und M. Kluge aufgeführt. Mit dem Weggang von Stange und Groß endete eine intellektuell-seelsorgerlich- musikalisch verkündigende Phase der Kirchengemeindegeschichte. Unter der Überschrift „Beachtenswerte Akzente Kirchenmusik in der Landeskirche hat Niveau“, beschrieb die EZ ein Bachfestival, das Hans Christoph Schuster in Lebenstedt organisiert hatte und die Tätigkeit von Werner Burkhardt an der Martinikirche, der in regelmäßigen Abendmusiken Werke des 19. und 20. Jahrhunderts an der Orgel vorstellte.77

Im Juni 1975 kam es in der Landessynode zu einer weiteren, weitreichenden personellen Entscheidung. Für den zum Oktober 1975 ausscheidenden Oberlandeskirchenrat Kammerer hatte der Ältesten- und Nominierungsausschuss Eberhard v. Bülow, 47 Jahre alt, und Henje Becker, 38 Jahre, alt aufgestellt. Favorit war Eberhard v. Bülow, der seit 1957 Pfarrer an der Frankenberger Kirche in Goslar war, außerdem Mitglied der Kirchenregierung und Vizepräsident der Landessynode. Henje Becker war 10 Jahre Pfarrer an der Andreaskirche in Braunschweig gewesen und dann seit 1974 Landeskirchenrat im Referat II. Becker hatte Verdienste um die Kindergottesdienstarbeit und als Synodaler um die Öffentlichkeitsarbeit.78 Er war mit 38 Jahren für den Posten eigentlich zu jung. Die Alternative des Ältestenausschusses war dergestalt, dass die Wahl auf E. v. Bülows zulief. Die Landessynode wählte Becker mit 35: 15 Stimmen. Das war ein derart überraschendes Ergebnis, zumal mit dem hohen Stimmenanteil, dass der Synodenpräsident zunächst v. Bülow als Wahlsieger ausrief.79 Becker wurde zu einem von der Pfarrerschaft geschätzten Partner in der Kirchenbehörde. Auch er unterstützte die kirchenpolitische Linie des Bischofs meist aus Überzeugung.

Für das Bauwesen in der Landeskirche wurde die Einstellung von Dipl. Ing. Klaus Renner als Landeskirchenbaurat im Mai 1973 bedeutsam, der bald darauf in der Nachfolge von Werner Taeger Leitender Landeskirchenbaurat wurde. Einen für Heintze schmerzlichen Wechsel gab es in der Zusammensetzung der Landessynode. Die beiden Juristen Dr. Gustav Fricke und Dr. Heinrich Gremmels hatten nicht mehr für die neue Sitzungsperiode kandidiert. Dr. Gustav Fricke, der frühere Vizepräsident des Oberlandesgerichtes in Braunschweig, war Vorsitzender des Rechtsausschusses gewesen und hatte die wichtigen Reformvorhaben (Pastorinnengesetz, Verfassung) juristisch abgesichert und vor der Synode vertreten. Er hatte die Erfahrungen im Rechtsausschuss in der Legislaturperiode 1970-1976 zusammengefasst.80 Er war im März 1977 verstorben. Der Bischof hob vor der Synode seine „so große Bedeutung für die Arbeit unserer Synode und für unsere ganze Kirche“ hervor.81 Dr. Heinrich Gremmels hatte aus Gesundheitsgründen nicht mehr für die Landessynode 1976 kandidiert. Er verstarb in der Weihnachtszeit 1977 mit 64 Jahren im Amt des Stadtdirektors von Königslutter.82 Gremmels war 1964-1976 Mitglied der Landessynode und 1970-76 ihr Präsident gewesen und hatte mit lebhaften Debattenbeiträgen den Kurs von Bischof Heintze unterstützt. Er hat „die 5. Nachkriegs-Synode in der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig“ beschrieben. Sie sei von dem offenkundig gewordenen Willen der Synode bestimmt gewesen, „aus dem kirchlichen Provinzialismus der Vergangenheit aufzubrechen.“83 Zum Nachfolger im Präsidentenamt wählte die Synode den früheren Vorsitzenden des Finanzausschusses, den Helmstedter Kreisdirektor Dr. Karl Heinz Ramser.


Die Zukunft der Volkskirche

Vor den Synodalen der beginnenden dritten und letzten Wahlperiode, die Heintze im Mai 1976 eröffnete, entwarf er das Bild von der „Zukunft der Volkskirche“.84 Obwohl die Anzahl der Kirchenaustritte abgenommen hatte, könne es der Synode nicht gleichgültig sein, „was aus den zusammenschrumpfenden Dörfern und Städten unseres Bereiches“ werde. „Auch für die Zukunft werden wir verstärkt damit rechnen müssen, dass die Zugehörigkeit zur Kirche auch in unserem gesellschaftlichen Bereich noch weniger als bisher als bürgerlich selbstverständlich empfunden werde. „Diejenigen, die sich bewusst zur Kirche halten und Verantwortung in ihr übernehmen, werden immer deutlicher auch zahlenmäßig eine Minderheit darstellen,“85 aber er verweist auf die vorhandenen volkskirchlichen Möglichkeiten. Es gebe keinen Grund „voreilig und ängstlich auf die uns noch gegebenen volkskirchlichen Möglichkeiten zu verzichten“. Jesus Christus erwarte in einer Volkskirche wie in einer Minderheitenkirche „persönliche Nachfolgebereitschaft.“ Diese Bereitschaft zur persönlichen Nachfolge schließe den Mut ein, „wenn nötig zur Minderheit zu gehören oder sogar gegen den Strom zu schwimmen.“86 Es gibt in den westdeutschen lutherischen Landeskirchen keinen, der den Weg der DDR-Kirchen von Krummacher, Schönherr, Falcke, Krusche, Rathke so anhaltend, mitfühlend und selber lernbereit begleitet hatte, wie Bischof Heintze. Vor der Bugenhagengemeinde in Braunschweig hatte Heintze schon 1970 die Vorstellung einer Minderheitenkirche entwickelt. So titelte die EZ „Der Weg zur Minderheitenkirche – eine Chance“. In den nächsten sechs Jahren suchte er immer wieder, besonders angeregt durch die Verbindungen zur DDR, Verständnis für dieses Kirchenmodell zu wecken.


Perspektiven für eine Kirche am Ende der achtzige Jahre

Wie würde es nach gut zehn Jahren in der Kirche aussehen? Das war bereits lange nach dem Ende der Dienstzeit von Bischof Heintze. Zu dieser Frage war Heintze zu einem Referat am 8.12.1976 über „Perspektiven für eine Kirche am Ende der achtziger Jahre“ in die Evangelische Akademie Loccum gebeten worden87 und nannte an erster Stelle „die Frage nach den Möglichkeiten, den Charakter der Volkskirche durchzuhalten.“ „Durchzuhalten“ klang bereits nach erheblichen Anstrengungen für einen Erhalt der Volkskirche. Würden sich diese lohnen, oder sollte ein anderes Bild von Kirche am Ende der 80er Jahre überzeugender sein? Heintze interpretierte dazu die Erhebung von 1974 und warnte schon zu Beginn des Referates, es wäre „verhängnisvoll“, sich damit zu beruhigen, dass der Zustand der Volkskirche als „noch einigermaßen stabil“ eingeschätzt werde. Dazu verwies er auf andere Ergebnisse der Erhebung: auf den fortschreitenden Distanzierungsprozess vieler Kirchenmitglieder, insbesondere bei der jüngeren Generation und auf das negative Verhältnis von Bildungsniveau und Verbundenheitsgefühl. Beachtlich dagegen fand Heintze, wie Bischof Werner Krusche die „Gemeinde auf dem Weg in die Diaspora-Situation“ beschrieben hatte.88 Trotz aller Unterschiede zwischen den Kirchen in der DDR und der BRD „sollten wir uns im Vorblick auf die achtziger Jahren bewusst auf diese Möglichkeit einrichten.“89 Es gelte, keine Angst vor kleinen Zahlen zu haben. Die zahlenmäßig geschrumpften Gemeinden sollten sich „auf keinen Fall“ ängstlich nach außen abschirmen und sich auf sich selbst zurückziehen. „Wir haben deshalb keine Rückzugskonzeptionen aus der Volkskirche anzubieten, die aus der Angst um Überleben entstehen“.90 Heintze rechnete mit einer grundlegenden Veränderung des Kirchensteuersystems. Die bisherige automatische Angleichung der Gehälter und Löhne an das staatliche Lohn- und Gehaltsgefüge würde aufgegeben werden müssen. Beim zu erwartenden Mitgliederschwund müsste die Zahl der Pfarrstellen überprüft werden. Die überschaubare Gemeinde und das überschaubare Tätigkeitsfeld bleibe auch in Zukunft anzustreben, und die Stärkung eines „anonymen, unpersönlichen Verwaltungsbürokratismus“ sei zu vermeiden91 Heintze bekräftigte die Vielzahl verschiedener gleichberechtigter Dienste in einer Gemeinde und die Notwendigkeit übergemeindlicher Arbeit. Dazu hatte Krusche eine vierjährige Grundausbildung für alle kirchlichen Mitarbeiter empfohlen, die in Stand gesetzt werden, „auch in einer ganz überwiegend nichtchristlich geprägten Umgebung zur ‚christlichen Bezugsperson’ zu werden.“92 Soweit sich die Landeskirchen zu größeren Gebietseinheiten entwickeln würden, sollte die vielseitige Mitverantwortung der Gemeinden und Gemeindemitglieder keinesfalls gehindert, vielmehr gefördert werden. Es komme dabei auf eine „koordinierte Dezentralisation“ an.93 Der Vortrag Heintzes hörte sich wie eine große Wunschliste an, deren Umsetzung jedoch unklar blieb. Zur Umsetzung war ein Bewusstseinswandel in den Kirchengemeinden und im Landeskirchenamt notwendig. Dieser setzte nicht ein. Gemeinden und Behörde überließen sich stattdessen dem bequemen allmählichen Gefälle des Faktischen. Dem Landesbischof blieb vorwiegend das Forum der Landessynode, um für diese Perspektive zu werben.


Anmerkungen zu Kapitel 10

1 Huber/Schröer, Artikel Volkskirche im Lexikon für Theologie und Kirche, 249-262.
2 Zur Situation der Kirchen in der DDR: Claudia Lepp/Kurt Nowak, Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90), Göttingen 2001; Rudolf Mau, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945-1990), (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen IV/3) Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2005.
3 JK 1973, 146-149: „Bischof Schönherr vor der Synode Ost am 20. Februar 1973“.
4 SONNTAG 7.12.1969 8 „Was ist mit der Kirche los?“
5 EK 1971, 283-285 Hans Otto Wölber: Auszehrung der Volkskirche Vor der hamburgischen Synode am 18. März 1971; auch KJ 1971, 6-12.
6 ebd. 283.
7 ebd. 284 Wölber beschrieb das allgemeine Krisengefühl folgendermaßen: „Die Labilität der Menschen nimmt zu. Sie vereinsamen. Sie fühlen sich leer, sie emigrieren in die Traumwelten, in den Ausbruch der Proteste, in die Bewusstseinserweiterung mit der Droge oder mit der blöden Tröstung durch die Wunderwelten der Reklame und die Schaugeschäfte der Massenkommunikationsmittel. Es besteht einfach keine Harmonie mehr mit dem Leben des Geistes und der ganze Horizont des Gemütes ist ausgeklammert. Darum beginn ein neuer Mystizismus.“ ebd. 284; KJ 1971, 10-11.
8 KJ 1971, 3-4.
9 LAW Syn 225 Lagebericht 1969.
10 ebd. 14. Siehe auch Rundbrief 5.6.1969, wo Heintze von weiteren Absterben der Volkskirche spricht und dass „der volkskirchliche Rahmen sich von selber mehr und mehr auflösen wird.“
11 LAW LBf 8, Rundbrief 5.6.1969.
12 LAW acc 44/94 61. Nach einer landeskirchlichen Zählung traten 1972 von insgesamt 2.765 Männern 1.177 Männer im Alter bis 29 Jahre und 829 im Alter von 30 bis 39 Jahre aus. Auch bei den Frauen verzeichneten die jüngeren Jahrgänge die meisten Austritte: von 1.180 Frauen traten 1972 504 im Alter bis 30 Jahre und 207 bis 40 Jahre aus der Landeskirche aus. Die Zahlen sind für das Jahr 1973 noch ungünstiger, obwohl die Gesamtzahl der Austritte geringer war. Von 2.936 Männern traten 1.271 im Alter bis 29 Jahre und 893 im Alter bis 39 Jahre aus der Kirche. Bei den Frauen ist die Tendenz ähnlich: von 1.357 Austritten waren 598 Frauen bis 29 Jahre alt und 275 bis 39 Jahre alt.
13 Nach einer weiteren Zählung zu einem späteren Zeitpunkt sollen nach Angaben von Bischof Heintze im Tätigkeitsbericht vor der Landessynode im März 1971 40 % der Angeschriebenen geantwortet haben.
14 dieser Teil der Rede Krummachers in KJ 1967, 23 – 27. Friedrich Wilhelm Krummacher (1901-1974) seit 1955 Bischof der pommerschen Landeskirche, Mitglied des Rates, 1969 Vorsitzender der kirchlichen Ostkonferenz, kirchenpolitisch ein Gegenspieler des regimefreundlicheren Thüringer Bischofs Moritz Mitzenheim.
15 Gottfried Niemeier in KJ 1967, 23.
16 LAW LBf 12 Rundbrief 12.4.1967.
17 Bericht im SONNTAG 9.4.1967 über den Bericht des Rates „Unbeschönigtes Bild des deutschen Protestantismus“ und von Reinhard Henkys „Die Einheit bekräftigt“ SONNTAG 23.4.1967.
18 LAW LBf 14 Brief vom 27.7.1972. Die Rede Falckes in KJ 1972, 242 – 255.
19 Die Rede Falckes in: Zwischen Anpassung und Verweigerung (hrsg.) Christoph Demke, Manfred Falkenau, Helmut Zeddies, Leipzig 1994, 14 – 33.
20 Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung Ergebnisse einer Meinungsbefragung herausgegeben von Helmut Hild, Berlin 1984. 21 ebd. 288. 22 ebd. 85. 23 ebd. 352 und 353. 24 ebd. 211. 25 ebd. 211. 26 ebd. 254. 27 ebd. 65 und 69. 28 ebd. 57. 29 LAW acc 102/07 Predigt über Röm 8,14 – 17 im ökumenischen Festgottesdienst am
25. Juni 1975 in der Klosterkirche Riddagshausen 3. 30 Gerhard Heintze: „Meine Wünsche für die Kirchen in der DDR“, Werner Krusche „Meine Wünsche für die Kirchen in der BRD“ KvU Nr. 42 Dezember 1989, 3-7. Heintze: „Ich wünsche den Kirchen in der DDR, dass sie ihre mühsam erworbene innere Glaubwürdigkeit und Eigenständigkeit behalten. Es wäre schlimm, wenn der ideologische Kommunismus, wie er bislang drüben herrschte, von einer Anpassung an einen oberflächlichen praktischen Materialismus, wie er weithin in den westlichen Gesellschaften herrscht, abgelöst würde und die Kirchenmitglieder in der DDR sich daran beteiligen würden.“ (S. 5) „Was ich den Kirchengemeinden in der Bundesrepublik wünsche, wäre, dass sie dem Wiedervereinigungsrummel nun nicht etwa eine noch kräftige Variante hinzufügten und den Wiederanschluss der Kirchen des Bundes an die EKD für gekommen hielten, dass sie vielmehr die „besondere Gemeinschaft“, die zwischen uns nie aufgehört hat (weswegen wir keine „Wieder“vereinigung brauchen) in Ausschöpfung der neuen Möglichkeiten noch intensiver praktizierten.“ (S. 6).
31 Krusche an Jürgens 27.2.1979 in Archiv Magdeburg Rep B 3 Nr. 451.
32 Werner Krusche: Gott ins Herz und den Leuten aufs Maul sehen, Festschrift: „Gib ewigliche Freiheit“, 1987, 119-132.
33 Werner Krusche: Biblische Orientierung zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR im Wendejahr 1989, in: Festschrift „Gott dem Herrn Dank sagen“ 2002 341-349.
34 epd Dokumentation 2/74 vom 21.1.1974; auch KJ 1973, 167 – 175; Werner Krusche Verheißung und Verantwortung Berlin 1990, 94 – 114;
35 ebd. 3.
36 LAW Syn 286 Lagebericht 1974, Verhandlungen.
37 ebd. 4.
38 ebd. 5.
39 KURIER April 1974 5 – 13: Auszug aus dem Bericht zur Lage, Fragestunde, Aussprache und Antwort des Bischofs.
40 SONNTAG 24.3.1974.
41 LAW acc 022/82 Fremdvorträge I 2.Tagung der 2. Synode des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR mit der handschriftlichen Eintragung von Heintze 27.9.-1.10.1974 Bericht Bischof Schönherr und den Abzeichnungen von Kammerer, Wandersleb, Kaulitz, Becker.
42 ebd. 4.
43 ebd. 10 ff.
44 ebd. 14.
45 ebd. 15.
46 ebd. 18 f.
47 ebd. 20.
48 ebd. 22.
49 LAW LBf 15 Rundbrief 6.5.1975.
50 KURIER 5/73 Dezember 1973, 1-2 Gerhard Heintze: Zum Abschied von Oberlandeskirchenrat Rudolf Brinckmeier aus seinem aktiven Dienst. „Der Dank gilt einem Mann, dessen Wirken durch betonte Nüchternheit und Sachlichkeit gekennzeichnet war. In einer Zeit, in der es auch in der Kirche zu leicht zur Herrschaft unguter Emotionen und fixierter Vorurteile kommt, ist die Fähigkeit, sachlich und unvoreingenommen zu urteilen, eine besondere Gottesgabe. Sie schloss bei Rudolf Brinckmeier auch ein, sich realistisch auf neue Situationen einstellen zu können, wenn er etwa im Kollegium des Landeskirchenamtes oder sonstwo mit eigenen Vorstellungen und Ratschlägen nicht durchdrang. Dass ich persönlich besonderen Grund habe, ihm als meinem Stellvertreter für seine unaufdringliche Zurückhaltung wie für die unbedingte Loyalität und viel gutem Rat, mit dem er mir zur Seite stand, zu danken, möchte ich auch ausdrücklich unterstreichen.“
51 EZ 30. 8. 1980 „Ruhestand ohne schlechtes Gewissen“. Oberlandeskirchenrat i.R. Ernst Heinrich Kammerer wird 70.“
52 SONNTAG 7.10.1973 eine auffällige, groß gedruckte Aufmachung.
53 KURIER 5/73 Dezember 1973, 6-7 die Vorstellungsrede von Wandersleb vor der Synode: „Das Elternhaus war keine Idylle. Die Nationalsozialisten waren zur Macht gekommen und Konfrontationen zeichneten sich mehr und mehr ab. Ganz automatisch wurde ich als Schüler mit hineingezogen. Im Gymnasium in Wolfenbüttel traten wir mit einem Kreis von Schülern für den christlichen Religionsunterricht ein, und ich wurde wegen meines Engagements vom damaligen Ministerpräsident Klagges von der Schule verwiesen“. Wandersleb stilisierte sich gerne als Mitwisser des Attentats auf Hitler. Sein Regimentskommandeur hätte 1944 verlauten lassen, es ginge jetzt los. In einem Grußwort zur Vortragsreihe „Staat und Kirche im Braunschweiger Land“ (Hg Werner Köhler 1982) erklärte Wandersleb, er habe „ zu denen gehört, die ohne es gleich zu wissen, mit den Leuten des 20. Juli 1944 Verbindung hatte.“ S. 9.
54 Diese und die folgende Beschreibung ist dem Tonbandprotokoll der Sitzung entnommen, das allerdings nur zu Anfang in Ordnung ist, danach ist das Band fast unbrauchbar.
55 LAW Syn 284. EZ 14.10.1973 „Wandersleb neuer Oberlandeskirchenrat. Die Wahlprozedur war eine Nervenprobe.“
56 Lutherische Generalsynode 1973 in Travemünde-Lübeck Darstellungen und Dokumente Hamburg 1974
57 268 – 272. OLKR Kaulitz sprach sich in einem Debattenbeitrag für die Zustimmung aus. Andere Mitglieder der EKD nicht zum Abendmahls zuzulassen, sei „heute nicht mehr verkraftbar.“ ebd. 293. ebd. 298.
58 Evangelische Kommentare 1975, 481 – 486 Wolfgang Huber: „Welche Volkskirche meinen wir? Über Herkunft und Zukunft eines Begriffes“.
59 ebd. 485.
60 Freiburg/Breisgau 1975 Bericht über die vierte Tagung der fünften Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 2.November bis 7. November 1975 Hannover 1976. Auf dem Hamburger Parteitag der FDP 1974 war ein Kirchenpapier verabschiedet worden, das unter dem Titel „Freie Kirche im Freien Staat“ eine weitere Trennung von Staat und Kirche in der Bundesrepublik vorsah.
61 ebd. 410-421.
62 ebd. 399-410.
63 ebd. 154-157.
64 ebd. 157.
65 KJ 1975, 23 Das Zitat stammt von Wolf Dieter Hauschildt.
66 ebd. 162.
67 ebd. 168.
68 ebd. 173.
69 ebd. 170.
70 ebd. 32.
71 KJ 1975, 22.
72 in: Kirche als Lerngemeinschaft, Berlin 1981, Diaspora 186 – 205.
73 Mit Kalberlah kandidierten Horst Länger und Dr. Eberhard Leppin. Alle drei berichteten von ihrer Arbeit, Kalberlah wurde im ersten Wahlgang gewählt.
74 Am 27.4.1975 kandidierten Hartmut Padel und Klaus Jürgens. Die Propsteisynode entschied sich mit 41: 24 Stimmen für Klaus Jürgens.
75 EZ 26.12.1976, 12 „Mit Feuereifer dabei“.
76 EZ 16.11.1975, 10 „Uwe Gross verlässt Braunschweig.“ Aufzeichnungen im Besitz von Familie Uwe Groß
77 EZ 25.5.1975 „Beachtenswerte Akzente.“
78 EZ 8.6.1975 Vorstellung der Kandidaten.
79 EZ 29.6 1975 „Henje Becker wurde gewählt.“
80 KURIER Februar 1976, 32 – 34.
81 KURIER Juli 1977, 1 Nachruf des Bischofs.
82 KURIER Februar 1978, 1 „Dr. Heinrich Gremmels gest. Nachruf von Bischof Heintze“ .
83 KURIER Februar 1976, 29 – 30 „die 5. Nachkriegs-Synode in der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig.
84 LAW acc 102/07 Rundbriefe; auch KURIER 3/76 Oktober 1976.
85 ebd. 5 / KURIER 3.
86 ebd. 6 / KURIER 3.
87 Das Referat fand am 8.12.1976 statt. Der Text beim Vf.
88 epd 2/74 vom 21.1.1974 und Nr. 49/75 vom 7.11.1975.
89 Anm 24 S. 4.
90 ebd. 5.
91 ebd. 9.
92 ebd. 10.
93 ebd. 11.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk