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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

Kapitel 3

Bischofswahl und Einführung im Frühjahr und Herbst 1965

Der grundlegende Personenwechsel / der Bischofskandidat OLKR Max Wedemeyer / die Entscheidung für Landessuperintendenten Heintze als einzigen Kandidaten / die Ansprache Heintzes nach der Wahl / die Predigt nach der Einführung im Braunschweiger Dom / der Landesbischof vor dem Braunschweiger Pfarrerverein November 1965

Die Wahl Gerhard Heintzes zum Landesbischof im April 1965 war der Schlusspunkt eines grundlegenden Personalwechsels in der Braunschweiger Landeskirche.


Der grundlegende Personenwechsel in den Leitungsebenen der Landeskirche

Im Mai 1963 war der Personalreferent und Stellvertreter des Landesbischofs OLKR Wilhelm Röpke 70jährig in Pension gegangen. Er war 1934 Oberkirchenrat geworden und repräsentierte die Epoche der kirchlichen Mitte im Dritten Reich und der Rechristianisierung in der Nachkriegszeit.1 Der ihm auf diesem Posten nachfolgende OLKR Max Wedemeyer blieb in der vorgezeichneten Tradition. Der leitende Jurist Dr. Reinhold Breust hatte im Herbst 1963 70jährig sein 40jähriges Dienstjubiläum als Oberlandeskirchenrat gefeiert. Er hatte große Mühe gehabt, 1946 wegen ununterbrochener Zugehörigkeit zur NSDAP und zu den DC (Deutsche Christen) erneut in die Organisationsstrukturen der landeskirchlichen Ämter eingefügt zu werden.2 Für ihn war OLKR Jürgen Kaulitz ins Rechtsreferat eingerückt, der eine Tochter von OLKR Röpke geheiratet hatte, und dessen Erbe hütete. Überraschend war am 2.Weihnachstag 1962 mit 61 Jahren der Finanzreferent OLKR Dr. Walter Lerche verstorben.3 Für ihn wurde Dr. Konrad Bluhm zum Oberlandeskirchenrat gewählt. Ins Landeskirchenamt war als neuer Oberlandeskirchenrat der bisherige Direktor des Predigerseminars Rudolf Brinckmeier eingezogen, ein ausgewiesener Mann der Bekennenden Kirche.4 Für ihn hatte Heinz Kammerer, ebenfalls von Anfang an Mitglied des Braunschweiger Pfarrernotbundes, das Direktorat des Predigerseminars übernommen. Am 5. Mai 1965 übergab der 70jährige Otto Jürgens, der 40 Jahre lang Pfarrer an der Braunschweiger Johanniskirche und seit 1946 Propst der Stadt Braunschweig gewesen war, sein Amt an den 55jährigen Pommern Siegfried Stange.5 Zwei Wochen vorher hatten Bischof Erdmann und Propst Jürgens noch die Braunschweiger Andreaskirche wieder eingeweiht, ein letzter Akt aus der Phase des Versuchs der repräsentativen Rechristianisierung der 40iger und 50iger Jahre ohne ein überzeugendes Programm für die künftige Benutzung der fünf großen Kirchen auf derart engem Raum, ein drückendes Problem bis heute. An der Kirchentür habe die pluralistische Gesellschaft ihre Grenze, hatte Propst Jürgens in der Festpredigt programmatisch erklärt.6 20 Jahre lang waren die 11.000 Gemeindemitglieder der Andreasgemeinde von einem einzigen Pfarrer, dem Flüchtlingspfarrer Gotthardt Gläser, versorgt worden. Die Gottesdienste hatten im Dom stattgefunden. Den Bericht über die Einweihung der Andreaskirche im SONNTAG schrieb der 29jährige Pfarrer Henje Becker, seit einem Jahr an der Andreaskirche, auch ein Generationswechsel und mehr. Als Becker Weihnachten 1964 im Dom gepredigt hatte, ereiferten sich einige Gottesdienstbesucher öffentlich, dass nicht „Stille Nacht“ gesungen worden wäre. Siegfried Stange war nur einer von den sieben zwischen 1961 und 1965 neu berufenen Pröpsten. Hans Harborth war 1961 Propst von Salzgitter-Lebenstedt geworden und konfrontierte seine Propstei durch die dortigen Hochschulwochen mit der modernen Theologie. Bischof Erdmann hatte dagegen während seiner letzten Predigt vor der Braunschweiger Pfarrerschaft im Januar 1965 die vielen Neuerungen in der Theologie, besonders durch Rudolf Bultmann, beklagt. 1963 war der 55jährige Karl Adolf v. Schwartz Propst von Goslar geworden, der wohl 1945 Bischofskandidat der BK geworden wäre, wenn er nicht in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten wäre. Er war erst am 30. September 1953 entlassen worden und sah zu seiner Verwunderung eben dieselben Leute in der Kirchenleitung, die seinerzeit seinen Vater, den Domprediger Karl v. Schwartz 1942 zwangspensioniert hatten. Karl Adolf v. Schwartz gehörte in der Braunschweiger Bekennenden Kirche 1933-1938 zu den entschiedenen Bekämpfern eines Kurses der „Kirchlichen Mitte“, zu denen auch OLKR Wilhelm Röpke gehörte. 1963 war Gerhard Frühling, ein bekennender Antisemit, Propst von Seesen geworden, und Wilhelm Hobom, ein Deutscher Christ noch 1938, Propst von Helmstedt. 1965 hatte Gotthold Lutschewitz die Nachfolge von Rudolf Peineke in Vorsfelde angetreten, der mit 54 Jahren nach nur dreijähriger Amtszeit verstorben war, und Friedrich Seefeldt war Propst der Propstei Lehre geworden, deren Gemeinden später auf die Propsteien Braunschweig und Königslutter aufgeteilt wurden. Dieser Personalwechsel im Propstamt bedeutete keinen Richtungswechsel, aber die alten Nachkriegsseilschaften hatten ausgedient, und es mussten sich unter ihnen, wenn überhaupt, neue kirchenpolitische Gruppen bilden.

„Wir haben, wie auf der Tagesordnung vermerkt ist, die Kundgebung des Herrn Landesbischofs in den Ruhestand zu gehen, entgegenzunehmen“, erklärte der Präsident der Landessynode, der konservative Landwirt Otto Buhbe, in der 2. Sitzung der neuen Landessynode am 9. November 1964 geschwollen.7 Es charakterisierte die von Wertschätzung und Untertänigkeit gemischte Haltung des Präsidenten zu Landesbischof Erdmann, der die Anrede „Hochwürden“ in den kirchlichen Sprachgebrauch im Braunschweigischen eingeführt hatte. Bischof Erdmann erläuterte den Synodalen seinen Brief vom 1. Juli 1964 an die Kirchenregierung, dass er, obwohl auf Lebenszeit gewählt, doch schon mit 69 Jahren zum 1. August 1965 in den Ruhestand gehen wolle. Vom „Rücktritt“ war in der Tagespresse zu lesen, was der Bischof zurückwies. Der Synodalpräsident äußerte seine Überraschung. Man habe mit einer Neuwahl erst innerhalb der nächsten sechs Jahre gerechnet.


Der Bischofskandidat OLKR Max Wedemeyer

Seit Sommer 1964 waren also in der Landeskirche Überlegungen über einen künftigen Landesbischof angestellt worden, und diese liefen wie von selbst auf den stellvertretenden Landesbischof Max Wedemeyer zu. Es war nur wichtig, dass dieser Kandidat nicht frühzeitig benannt und verbrannt würde, daher die Bemerkung von einer „Überraschung“. Max Wedemeyer hatte alle in der Landeskirche üblichen kirchenpolitischen Voraussetzungen, um gewählt zu werden. Er war 53 Jahre jung, gebürtiger Braunschweiger. In der Michaeliskirche war er getraut worden. Er war Landpfarrer in Süpplingen und Emmerstedt gewesen, dann an der Stadtkirche Jakobi in seiner Heimatstadt. Als Propst der Propstei Helmstedt hatte er kirchenleitende Erfahrungen gesammelt. Als Pressesprecher der Landeskirche hatte er das Informationsblatt „Die Aussprache“ herausgegeben. Wedemeyer war durch seine schriftstellerische Tätigkeit populär geworden. Seine Soldatenzeit und Fronterlebnisse hatte er in dem viel gelesenen Roman „In der Welt habt ihr Angst“ verarbeitet. Seit 1946 war er Mitglied der Landessynode und von ihr 1957 als Nachfolger des plötzlich verstorbenen Hans Eduard Seebaß zum Oberlandeskirchenrat im Gemeindereferat gewählt worden. Als dann Wilhelm Röpke in den Ruhestand ging, war er dessen Nachfolger im Personalreferat und Stellvertreter des Landesbischofs geworden. Mit diesem Werdegang lief die Entwicklung wie von selbst auf Max Wedemeyer als Bischofsnachfolger zu. Diese einleuchtenden Voraussetzungen, die für ihn sprachen, sprachen zugleich gegen ihn bei denen, die einen Wechsel in der Landeskirche wünschten. Wedemeyer war der Kandidat ungebrochener Kontinuität, aber viele Synodale wünschten den Wechsel. Die 1964 neu gewählte Landessynode bestand zu mehr als der Hälfte aus neuen Synodalen. Das war ein weiterer entscheidender Personalwechsel. Unter ihnen waren Pfarrer Bruno Haferburg, überzeugter BK Mann, sowie der 35jährige Pfarrer Hans Martin Brackhahn und Pfarrer Joachim Klieme, die eine reformfreudige, dialogische Kirche erstrebten. Bei der unterschwellig diskutierten Bischofsnachfolgefrage spielte die Zusammensetzung des Ältesten- und Nominierungsausschusses eine entscheidende Rolle. In ihn wurden in der konstituierenden Sitzung am 4. Mai 1964 en bloc u.a. die Pröpste v. Schwartz, Harborth, Cieslar und Stange, außerdem Dr. Fricke, v. Carlowitz und Dr. Albrecht gewählt. Als in der nächsten Sitzung am 9. November 1964 die Mitglieder der Kirchenregierung gewählt wurden, erhielt von 44 Stimmen v. Schwartz nur 34 und Stange 36 Stimmen. Damit waren zwar beide gewählt, aber es war eine Reserve deutlich zu spüren. Die nicht-theologischen Mitglieder erhielten klar mehr Stimmen.8

Die bevorstehende Bischofswahl löste in dieser Sitzung am 9. November 1964 noch einige Turbulenz aus, denn der neue Synodale Karl Bruno Haferburg aus Neu-Büddenstedt wollte die Rechte der Basis stärken und schlug vor, dass neun Synodale ebenfalls das Recht haben sollten, einen Bischofskandidaten vorzuschlagen.9 Der Antrag Haferburgs wurde von den Synodalen v. Carlowitz,

v. Schwartz, Stange und Dr. Gremmels sofort unterstützt. Der Synodalpräsidenten Buhbe, der zum inneren Entscheidungskreis der Landeskirche gehörte, erklärte sich entschieden gegen den Antrag: „Ich halte die Einfügung des Antrags Haferburg für absolut gefährlich für die ganze Bischofswahl“. Aber die Synodalen wollten sich das Recht sichern, noch einen weiteren, und zwar auswärtigen Kandidaten vorzuschlagen, wenn nun doch Max Wedemeyer als einziger Kandidat präsentiert werden sollte, was auf der Hand lag. Die Landessynode nahm den Antrag Haferburgs an, aber die neue Kirchenregierung legte überraschend Einspruch gegen die Entscheidung ein. Die Landessynode tagte vier Wochen später erneut am 7. und 8. Dezember, und Bischof Erdmann gab einen auf der Tagesordnung gar nicht vorgesehenen Bericht zur Lage der Landeskirche ab.10 Möglicherweise war dieser als krönender Abschluss erst in der Frühjahrssitzung 1965 vorgesehen gewesen, nun sollte schon im Mai 1965 die Bischofswahl stattfinden. Zur Aussprache meldete sich nur ein Synodaler und beklagte die Dürftigkeit der Gottesdienste. Danach gab es eine turbulente Debatte um das Wahlgesetz, wobei sich OLKR Wedemeyer deutlich gegen den Vorschlag Haferburgs aussprach. Aber die Landessynode beschloss mit der überwältigenden Mehrheit von 39:3 Stimmen, den Antrag Haferburgs in das Gesetz aufzunehmen. Damit war Wedemeyer nicht mehr der einzig mögliche Kandidat, wie es jene, die seine Wahl betrieben, vorgesehen hatten. Es tat sich ein Konflikt auf, der erst mit dem Rücktritt des 58jährigen OLKR Wedemeyer im Jahre 1969 sein Ende nahm. Die Alternative zu Wedemeyer war ein Kandidat von auswärts. Dazu besuchten das Mitglied des Nominierungsausschusses und der Kirchenregierung Propst v. Schwartz sowie Propst Harborth den Landessuperintendenten von Hildesheim Dr. Gerhard Heintze und trugen ihm die Kandidatur an. Heintze war für sie der gegebene Kandidat. Er war lange Jahre Direktor des Predigerseminars gewesen und hatte als Superintendent und Landessuperintendent gründliche kirchenleitende Erfahrungen, sogar mit den bischöflichen Funktonen der Visitation. Sie berichteten von der Struktur des Wolfenbütteler Bischofsamtes, das durch den Vorsitz im Kollegium mit Verwaltungsaufgaben belastet war, was den Kandidaten nicht sonderlich entzückte. Als die Braunschweiger Abgesandten Heintze unvorsichtiger Weise fragten, wie er denn politisch und kirchenpolitisch stünde, hätte der Kandidat die Antwort verweigern und erwidern können, das würden sie noch merken, aber er entgegnete mit entwaffnender Offenheit „eher links“. Daran erinnerte Propst Harborth seinen Bischof, als sich dieser sieben Jahre später massiv und öffentlich für die Annahme der umstrittenen Ostverträge durch den Bundestag 1972 einsetzte.11 Heintze erbat sich eine vierwöchige Bedenkzeit, beriet sich mit seinem Landesbischof Dr. Hanns Lilje, der ihm dringend zuriet, das Braunschweiger Angebot anzunehmen12 und sagte dann zu. Auf Bitten von Propst v. Schwartz trat die Kirchenregierung zu einer kurzfristig einberufenen Sitzung mit dem Nominierungssausschuss am 5. Januar 1965 zusammen und v. Schwartz nannte den Name Heintzes als einzigen Kandidaten. Man habe die Sitzung so kurzfristig einberufen, „damit die begreifliche Unruhe, die der bevorstehende Wechsel im Amt des Landesbischofs nun einmal mit sich bringe, möglichst schnell beendet werde.“13 Tatsächlich wollten die Bischofsmacher möglichst rasch den Namen Wedemeyer aus der Diskussion schaffen. In der Kirchenregierungssitzung vom

22. Januar 1965 verbreitete sich Erdmann ausführlich über sein Bischofskreuz, das nur aus vergoldetem Messing bestünde, und die Kette, die sein persönlicher Besitz wäre.14 Die Kirchenregierung beschloss, dass er dieses Kreuz seinem Nachfolger übergeben sollte und ihm, dem scheidenden Landesbischof, ein massiv goldenes als Abschiedsgeschenk überreicht werden sollte.


Die Entscheidung für Landessuperintendenten Heintze als einzigen Kandidaten

Am 15. Februar 1965 entschied der Ältesten- und Nominierungsausschuss auf seiner letzten Sitzung in dieser Sache, dass er der Synode Heintze als einzigen Kandidaten vorschlagen werde. Andere Kandidaten waren auch nicht ernstlich vorgeschlagen worden. Am 19. Februar „empfing“ der Herr Landesbischof das Ehepaar Heintze. Der Kandidat überraschte den amtierenden Bischof mit der Nachricht, dass die Bischofswohnung zu laut für wissenschaftliche Arbeit wäre. Er bäte um eine Dienstwohnung in einem ruhiger gelegenen Gebäude. Sie sollte „möglichst auch wirtschaftlicher eingerichtet sein“, das war die Beobachtung der mitgereisten, praktischen Ehefrau.15 Erdmann berichtete der Kirchenregierung darüber am 1. März; eine Einführung könne auf Wunsch von Heintzes erst ab 1. Oktober stattfinden, der Wunsch Heintzes auf Vertraulichkeit bis zu seiner Wahl sei nicht durchsetzbar, die Presse sollte mit einer Sperrfrist am 15. März 1965 informiert werden.16 Die Synodalen erhielten Mitte März die Nachricht von Heintzes Kandidatur, aber keine Gelegenheit, ihn persönlich kennen zu lernen. Pfarrer Hans Martin Brackhahn fuhr mit anderen Synodalen nach Hildesheim und besuchte einen Abendgottesdienst, den Heintze in der Michaeliskirche hielt. „Sehr genau erinnere ich mich noch an die erste Begegnung mit Ihnen. Wir waren mit einigen Synodalen nach Hildesheim gefahren, um in einem Abendgottesdienst in der Michaeliskirche den Bischofskandidaten Dr. Heintze kennen zu lernen. Eine Abendandacht kann wenig darüber aussagen, wie ein Bischof sein Amt führen wird. Vom ersten Augenblick an aber hatte ich den Eindruck, dies wird kein Bischof, der durch seine Würde unnahbar ist. Mit ihm kann man reden, auch wenn es einmal Schwierigkeiten gibt. Er wird nicht über den Gemeinden schweben, sondern mit ihnen leben.“17 Um ein Gespräch baten Pfr. Dr. Heinrich Ulbrich, Bettingerode, Pfr. Erich Warmers und einige andere. Die theologische Position des Landessuperintendenten war Warmers gut vertraut. Heintze erinnerte sich an den Besuch so: „Einige wenige erschienen vor der Wahl bei mir in Hildesheim und bekundeten, dass sie mit der Beschränkung auf einen Kandidaten von außerhalb nicht einverstanden seien. Vor allem hätten sie Bedenken gegen mich wegen meiner positiven Einstellung zur Frauenordination.

Ich sagte ihnen, dass ich mich für den Fall meiner Wahl in Braunschweig auch für die Freigabe der Frauenordination einsetzen würde und riet ihnen, sie sollten versuchen, in der Landessynode für sich eine Mehrheit zu gewinnen.“18 Im übrigen würde er auch gerne Landessuperintendent in Hildesheim bleiben. Dort wie auch anderswo gab es Leute, die erstaunt waren, dass Heintze überhaupt das Bischofsamt angetragen wurde. „Er galt als der schlichte Landpastor“, erinnerte sich sein jüngerer Freund Dieter Andersen.19 Am Wahltag, dem 8. April 1965, war Heintze in Hildesheim geblieben. Er wurde im ersten Wahlgang mit der großen Mehrheit von 41: 4 Stimmen gewählt.20 Diese Höhe des Ergebnisses war eine Überraschung, Offenbar hatte der Nominierungsausschuss eine synodengerechte Personalentscheidung getroffen. Nun schickte der Präsident einen Wagen nach Hildesheim, und die Synodalen bekamen Heintze zur Mittagsstunde zum ersten Mal zu sehen. Das Pressebild zeigt den gewählten Landesuperintendenten im Lutherrock mit dem Amtskreuz, der mit ernsten Mienen von Bischof Erdmann im Lutherrock mit dem Amtskreuz und dem Präsidenten der Landessynode Buhbe begrüßt wurde.21 Die hatten sich die Wahl ganz anders vorgestellt. Präses Scharf und Bischof Lilje hingegen schickten Glückwunschtelegramme.


Die Ansprache Heintzes nach seiner Wahl zum Landesbischof

Der gewählte Kandidat erbat sich ein Wort an die Synodalen, das später an die Pfarrer verschickt wurde. Es ist im Folgenden vollständig abgedruckt, weil sich ein solches Wort im Kontext noch besser erschließt als im Anhang.

Herr Präsident, Hochwürdige Synode!

Es seien mir in diesem Augenblick noch ein paar kurze Worte gestattet.

Ich möchte Allen herzlichen Dank für das große Vertrauen aussprechen, das Sie mir mit der Wahl und mit diesem Wahlergebnis bewiesen haben. Dieses Vertrauen empfinde ich nicht nur als eine große Ehre für mich. Es beschämt mich auch zugleich. Denn ich bin ja den meisten von Ihnen bislang ein Unbekannter, und ich bin mir bewusst, dass sich erst in meiner zukünftigen Arbeit erweisen muss, ob der Vertrauensvorschuss, den Sie mir heute gewähren, berechtigt ist oder nicht.

Es liegt mir in dieser Stunde sehr daran, auch allen denen ausdrücklich zu danken, die mir ihre Stimme nicht gegeben haben und die lieber einen anderen als Nachfolger von Herrn Landesbischof D. Erdmann gesehen hätten. Ich möchte in meinen Dank auch alle die einschließen, denen ihr „Ja“ zu meiner Person aus diesem oder jenem Grunde schwer gefallen ist. Ich habe durchaus Verständnis dafür, wenn unter Ihnen oder in der Braunschweigischen Landeskirche doch auch mancherlei Menschen sind, die kritische Fragen an mich stellen möchten, Fragen, die etwa meine theologische Position betreffen, oder die befürchten, dass ich als einer, der nun sozusagen von außen her in ihre Kirche hineinkommt, vielleicht doch zu wenig Voraussetzungen mitbringen könnte, um den gerade hier bestehenden Aufgaben und Notwendigkeiten gerecht zu werden. Ich halte viel von dem Recht freier Meinungsäußerung und auch von dem Recht einer begründeten sachlichen Opposition in unserer Kirche, und ich weiß, dass einmütige Entscheidungen nicht einfach identisch sind mit der Entscheidung des Heiligen Geistes.

Sie wählen in mir ja keinen unfehlbaren Papst, sondern einen irrtumsfähigen Menschen, dem seine Grenzen gesetzt sind, dem auch Versuchungen und Anfechtungen, die zum Fall führen können, in dem neuen Amt gewiss nicht erspart werden bleiben. Ich kann deshalb gewiss das neue Amt nur dann recht führen, wenn ich annehmen darf, dass Sie mir zur Seite stehen werden, Sie Alle mit Ihrem brüderlichen Rat und Ihrer brüderlichen Hilfe, in die ich die Bereitschaft zur sachlichen Kritik mit einschließe. Und ich wünsche mir selber, dass ich solcher sachlichen Kritik immer zugänglich bleiben möchte und umgekehrt, dass ich dort, wo ich meine, eine Sache vertreten zu müssen, das immer klar, offen und sachlich tun kann, ohne die Gewissen anderer zu verletzen oder zu überfahren. Vor allem wünsche ich mir, dass wir dort, wo es einmal zu Meinungsverschiedenheiten und Spannungen zwischen uns kommen sollte, miteinander beherzigen können, was Martin Luther einmal so ausgesprochen hat: In der Kirche gilt nichts was ich sage oder was du sagst, sondern entscheidend ist, was der HERR sagt. Es wird darauf ankommen, dass wir lernen, immer neu miteinander danach zu fragen, was dieses „Was sagt der HERR“ heute für uns und unsere Kirche bedeutet.

Es wäre sicher verfrüht, wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon so etwas wie eine umfassende „Regierungserklärung“ versuchen wollte. Ich werde ja mit vielem, was mir in Ihrer Kirche – ich hoffe, bald sagen zu lernen: in unserer Kirche – noch fremd ist, erst vertraut werden müssen. Ich werde viel zu lernen haben und darauf freue ich mich.

Sie wissen allerdings, dass mir der Abschied aus meinem bisherigen Wirkungsbereich nicht leicht fällt und ich denke in dieser Stunde sehr dankbar an alle diejenigen, mit denen ich bis jetzt zusammen arbeiten durfte und die mir auf meinem bisherigen Weg, gerade auch in den Entscheidungen, um die es in den letzten Wochen für mich ging, treu und fürbittend zur Seite gestanden haben. Ich habe aber die zuversichtliche Hoffnung, dass ich in Ihrer, in unserer Kirche viel Bereitschaft erwarten darf, an dem einen großen Auftrag mitzuhelfen, den der HERR seiner Kirche gegeben hat und an den die Jahreslosung uns alle miteinander in diesen Jahre immer wieder erinnert. Ich danke allen denen deshalb, die bislang in Ihrer, unserer Kirche schon in diesem Dienst gestanden haben und noch stehen, ganz besonders auch dem Hochverehrten Herrn Landesbischof D. Erdmann. Und es ist mir geradezu ein Trost und eine Beruhigung, dass er mit den heutigen Tage das Steuer noch nicht aus der Hand zu geben braucht, sondern dass noch einige Monate bis zur Amtsübergabe vergehen werden. Es liegt mir sehr daran, in dieser Stunde auch die Gemeinden jenseits der Grenze in meine Gedanken einzuschließen, die zur Braunschweiger Landeskirche gehören. Ich meine, dass eine Kirche in solcher Grenzlage, wie es die Braunschweigische Landeskirche ist, hier vielleicht vor anderen Kirchen in Deutschland die Aufgabe hat, immer wieder darüber nachzudenken, welche Aufgabe mit der Not dieser Grenze gerade uns als Christen gesetzt ist und beharrlich und geduldig immer wieder nach Wegen Ausschau zu halten, die zueinander führen statt bestehende Spannungen zu zementieren.

Woran mir im Blick auf mein künftiges Arbeiten hier auf unserem gemeinsamen Weg vor allem gelegen ist, das ist in einem Gebetsvers, der mir seit jeher sehr lieb gewesen ist, sehr knapp zusammengefasst. Es ist der letzte Vers aus dem Lied Ludwig Helmbolds, der nicht allzu weit von hier sein Amt geführt hat, nämlich in Mühlhausen in Thüringen

„Nun lasst uns Gott dem Herrn Dank sagen und ihn ehren.“

Der Vers beginnt mit der Bitte: „Erhalt uns in der Wahrheit.“

Ich glaube, dass diese Bitte uns allen in unserer Zeit besonders not tut. Wir durchleben schwere Spannungen in der Theologie der Gegenwart und auch in den Fragen, wie das kirchliche Leben gestaltet werden soll. Ich bin der Überzeugung, dass wir den uns gestellten Fragen und Problemen nicht ausweichen können, und dass es mit einem bloßen Rezitieren früher gegebener Antworten nicht getan ist. Aber es kommt darauf an, dass wir in den sicher oft notvollen und bedrängenden Auseinandersetzungen bei dem bleiben und neu zu dem hinfinden, der selber die Wahrheit ist.

In dem Gebetsvers Helmbolds ist weiter von dem Geschenk der Freiheit die Rede. Ich bin der Meinung, dass das Bestehen in der durch Christus uns geschenkten Freiheit gerade von unserem lutherischen Erbe her uns heute besonders aufgetragen ist und dass wir alle gerade an dieser Lektion noch sehr viel zu lernen haben. Es ist nicht leicht, in der Freiheit des Evangeliums zu leben, und wir werden oft in Verlegenheit geraten, was es heißt, nun Ordnung und Freiheit, ökumenische Weite und Bekenntnistreue, berechtigte Rücksicht auf das Erbe der Väter und Beherzigung des reformatorischen Grundsatzes ecclesia semper est reformanda miteinander zu vereinigen. Die Lösung dieser Frage wird uns nicht einfach wie ein leichtes Patent in den Schoß fallen, aber ich bin der Überzeugung, dass wir dort, wo wir von dem Geschenk der Freiheit ausgehen, die wir in Christus haben, auf dem rechten Wege sind, der dann immer wieder auch in neue Freiheit führt.

Die Freiheit, zu der wir berufen sind, führt nicht in die Willkür, sondern weckt und stärkt die Bereitschaft zu dem einen Dienst, der uns alle angeht. Ludwig Helmbold redet in diesem Vers deshalb davon, dass es sich darum handelt, vor allem anderen den Namen des HERRN zu preisen. Ich meine, wir haben wahrscheinlich doch alle in unserer Kirche, einerlei, wo wir unseren Dienst tun und wo wir leben, die berechtigte Sorge, dass dieser eigentliche Auftrag viel zu schwach und für Christen und Nichtchristen viel zu wenig befreiend und überzeugend unter uns geschieht. Es kann und darf auch gar nicht anders sein, als dass uns diese innerste Not unserer Kirche, die Schwäche und mangelnde Überzeugungskraft in dem uns anvertrauten Zeugnis in Wort und Tat vor allen anderen Fragen organisatorischer Art zu schaffen macht. Dietrich Bonhoeffer, dessen Todestag sich ja morgen zum 20. Mal jährt, hat in seiner Gefangenschaft leidenschaftlich über die Frage nachgedacht: Wie kann Christus gerade auch der Herr der Religionslosen in unserer Zeit werden. Ich meine, es wäre gut, wenn wir von dieser Frage heute nicht weniger leidenschaftlich bewegt würden. Wie bezeugen wir das soli deo gloria, Christus als unseren Erlöser und als unseren Herrn in einer Welt, die sich so gewandelt hat und sich noch weiter wandelt, so, dass diese Welt merken kann, dass Jesus Christus nicht nur gestern, sondern auch heute und in alle Ewigkeit der HERR ist. Und wir können immer nur beschämt fragen: warum versagen wir an diesem Hauptauftrag, der uns und unserer Kirche gegeben ist, fortgesetzt? Weil aber der HERR, der die Wahrheit ist, lebt, und weil er uns den Anteil an seiner Freiheit verheißt, und weil er unbegreiflicherweise nicht nur Engel, sondern uns arme, schwache und irrende Menschen in seinem Dienst haben will, darum dürfen wir mit Zuversicht darum bitten:

„Gib ewigliche Freiheit, zu preisen deinen Namen.“

Es ist mein herzlicher Wunsch, dass wir in dieser Bitte über alle möglichen Spannungen und Besorgnisse hinweg uns immer wieder zusammenfinden.

Wenn ich jetzt einen Vorschlag machen darf, dann möchte ich darum bitten, dass wir uns erheben und miteinander diesen Gebetsvers singen.

„Erhalt uns in der Wahrheit, gib ewigliche Freiheit zu preisen deinen Namen durch Jesum Christum. Amen.“

Heintze kam zu Beginn seiner Ansprache sofort auf diejenigen zu sprechen, die mit seiner Theologie und kirchenpolitischen Linie Schwierigkeiten hatten, auch auf die Tatsache, dass er „von außen“ komme. Heintze pochte nicht auf die Größe seiner Landessuperintendentur und auf seine kirchenleitende Kompetenz mit dem von ihm bereits ausgeübten bischöflichen Recht zur Ordination. Stattdessen schuf er Raum für Kritik und Opposition. „Ich halte viel von dem Recht freier Meinungsäußerung und auch von dem Recht einer begründeten sachlichen Opposition in unserer Kirche, und ich weiß, dass einmütige Entscheidungen nicht einfach identisch sind mit der Entscheidung des Heiligen Geistes.“ Heintze pochte auch nicht auf die Autorität des ihm nunmehr verliehenen Amtes und forderte Gehorsam ein, sondern er empfinde sich als Christ unter Christen. „Sie wählen in mir ja keinen unfehlbaren Papst, sondern einen irrtumsfähigen Menschen, dem seine Grenzen gesetzt sind, dem auch Versuchungen und Anfechtungen, die zum Fall führen können, in dem neuen Amt gewiss nicht erspart werden bleiben.“ Er beschloss seine Rede mit einer kleinen Liedinterpretation. Er legte den letzten Vers des Liedes „Nun lasst uns Gott dem Herren, Dank sagen und ihn ehren“ aus und begründet die Notwendigkeit der Bitte „Erhalt uns in der Wahrheit“ mit gegenwärtigen Spannungen in der Theologie. „Wir durchleben schwere Spannungen in der Theologie der Gegenwart und auch in den Fragen, wie das kirchliche Leben gestaltet werden soll. Ich bin der Überzeugung, dass wir den uns gestellten Fragen und Problemen nicht ausweichen können, und dass es mit einem bloßen Rezitieren früher gegebener Antworten nicht getan ist.“ Mit der Rezitation von Bekenntnisschriften und Bibelversen hatte er bereits den Brüdernpfarrer Lieberg und die Gegner der Frauenordination erlebt. Der gewählte Kandidat versteckte sich nicht, und das wird die große Synodenmehrheit erfreut haben. Die eben durchmeditierte Liedstrophe nun auch noch gemeinsam mit den Synodalen zu singen, gestattet nicht nur einen Blick in die musikliebenden Frömmigkeit des Kandidaten, sondern war ein Zeichen für die von ihm erbetene, im Choral praktizierte Einigkeit im Geiste.

Am Vormittag des 9. Oktober 1965 war die Einführung im Braunschweiger Dom.22 Der stellvertretende Landesbischof, Oberlandeskirchenrat Max Wedemeyer, hatte einen langen, demonstrativen Zug der ca. 300 Pfarrer, Bischöfe und Kirchenpräsidenten vom Katharinengemeindesaal durch die Innenstadt in den Dom zum Einführungsgottesdienst organisiert. Die Beachtung der Braunschweiger Bevölkerung an diesem Mittwoch Vormittag war gering. Aber endlich stand einmal die kleine Landeskirche im Blickpunkt der ganzen evangelischen Kirche in Deutschland.23 Das Foto mit den zum Dom schreitenden Bischöfen unterschrieb die Braunschweiger Zeitung: „Dr. Gerhard Heintze geht der Ruf voraus, ein Mann zu sein, der nach neuen Wegen sucht, um der Kirche noch mehr Gehör zu verschaffen.“ Er werde „ein weites Feld zu fruchtbarer Arbeit vorfinden.“24 Die Einführung nahm der leitende Bischof der VELKD, Hanns Lilje, vor. Als der Ratsvorsitzende der EKD, der Berliner Bischof Kurt Scharf, segnend die Hände auf den Kopf des neuen Bischofs Heintze legte, spürte der junge Wilfried Steen, der sich in seiner Jugend der Brüdernkirche angeschlossen hatte und neben Lieberg saß, wie es diesen körperlich durchfuhr, als ob der Segen aus den Händen des unierten Berliner Bischofs sich in einen Fluch verwandelte. Eine sehr große Mehrheit der Pfarrerschaft begrüßte die Wahl und setzte erhebliche Hoffnungen auf den neuen Bischof.

Die Predigt Heintzes nach der Einführung im Braunschweiger Dom

Heintze predigte über den Lehrtext des Tages: „Gott hat das Gedeihen gegeben“(1. Kor. 3,6), passend für eine Rückschau und Vorschau, wie er einleitend meinte, denn es gehe allein um Gottes Sache und nicht um eine kirchliche Selbstdarstellung. Aber das Zutrauen zu Gottes lebendigem, gegenwärtigen Wirken sei heutzutage verlorengegangen. Dazu zitierte Heintze Bert Brecht „Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels und dass er nicht weiß euren Nam noch Gesicht. Niemand weiß, dass ihr noch da seid“, und schloss die Frage Bonhoeffers an, wie Christus der Herr dieser religionslos gewordenen Welt werde könne. Das müsse jeden Pastor und Bischof umtreiben. Da mögen manche aufgehorcht haben. Brecht und Bonhoeffer waren bisher in diesem Zusammenhang im Dom nicht zitiert worden. Das waren neue Töne in einer Mittelklassekirche. Mit einem „Dennoch“ leitete Heintze zu einem Grundgedanken seiner Theologie über. „Dennoch gilt als Erstes: Wir können und brauchen Gott nicht erst durch unser Bemühen zum Leben erwecken. Vor all unserm Tun ist er selbst am Werk und hört nicht auf, sich selbst als den Lebendigen zu bezeugen und seine Sache voranzutreiben.“ Das war nun der krasse Gegensatz zu Brecht: Gott war immer schon da und bleibt und handelt und machte die Gemeinde in Korinth zu Gottes Ackerfeld und die dortige Gemeinde zu Gottes Mitarbeiter. Nicht nur in Korinth. Damit waren dem Prediger eine Reihe von Stichworten für weitere Assoziationen gegeben. Das Ackerfeld sei mehr als die organisierte Kirche, denn Kirche gebe es außerhalb der Kirche, Heintze kam auf den Kölner Kirchentag zu sprechen, in Korinth sei die Gemeinde in Gefahr gewesen „zu viel Aufhebens von ihren repräsentativen Amtsträgern zu machen und über der Diskussion ihrer größeren oder geringeren Tüchtigkeit den Herrn und seine Sache zu vergessen“, ein Schuft, wer eine Anspielung auf die bischofsgefüllte Domgemeinde heraushörte, von Korinth war doch die Rede! Die Dennoch-Behauptung veranlasste den Prediger zu durchgängig kritischen Bemerkungen an den kirchlichen Verhältnissen. „Mag es heute noch so viel ungerechte und leichtfertige Kirchenkritik geben: es ist nun einmal so, dass wir als Kirche dem, was wir eigentlich sein sollten und unser Herr von uns erwartet, immer wieder höchst betrüblich und ärgerlich selbst im Wege stehen, oft viel mehr, als uns bewusst ist. Und das ist allemal gefährlicher als alle Anfeindungen, die die Kirche von außerhalb erfährt.“

Dazu auch selbstkritisch: „Wer ein Bischofsamt übertragen bekommt, ist damit nicht automatisch davor geschützt, in der Gefangenschaft seines eigenen Ich zu bleiben, sich als anfällig zu erweisen für Empfindlichkeit oder Eitelkeit und sich mehr durch Menschenfurcht oder Menschenlob bestimmen zu lassen, als es dem mit dem Amt verbundenen Auftrag gut tun kann. Darum brauche ich heute und in Zukunft viele Menschen, die mich in den Gefahren und Versuchungen dieses Amtes nicht allein lassen, sondern mitdenken, mitraten, auch offene brüderliche Kritik üben und vor allem Fürbitte tun.“ Das ließ die weit über 250 Pfarrer der Landeskirche im Dom aufhorchen. „Brüderliche Kritik am Bischof? Mitraten? Mitdenken? Ist er denn nicht unser Führer, unser Hirte und sind wir etwas anderes als die Schafe seiner Herde? So ungefähr war es doch gewesen. „Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst“, war auch in der Kirche ein geflügeltes Wort. Und ab heute: brüderliche Kritik? Man konnte gespannt sein. Zum Schluss eine Reihe von frommen Absichtserklärungen: er wolle sein Amt als Besuchsdienst verstehen, er dürfe nicht dem ständigen Gehetztsein verfallen, es sollte vorrangig Zeit bleiben für das jeweils nötige und wichtige Gespräch. Das war keine eins, zwei, drei gegliederte Predigt, die man behältlich zu Hause repetieren konnte, es war auch keine Homilie in dem Sinne, dass der Prediger meditativ den Text umkreist, sondern Heintze griff stichwortartig jene Bilder und Verse auf, an die er seine ihm aktuell wichtigen Bemerkungen anknüpfte. Dabei ging er von dem Grundsatz seiner Theologie aus: Gott ist schon immer im Dasein und am Werke, bevor wir da und am Machen sind. Das klang wie eine etwas zu schlichte Kindergottesdienstweisheit. Aber sie war gut biblisch in dem bekannten Psalmwort präsent „flöge ich gen Himmel, siehe so bist du da, bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.“ (Psalm 139,8) Paul Gerhardt besang diese Frömmigkeit so: „Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon an mich gedacht, wie du mein wolltest werden.“ Heintze kam auf dieses theologische Allgemeingut durch den Konfirmationsspruch Phil 3,12, in dem es heißt, dass Paulus resp. Gerhard Heintze von Christus bereits ergriffen ist. Gottes jeweils vorausgehendes Handeln prägte geradezu biografisch das persönliche Frömmigkeitsprofil von Gerhard Heintze. Es löste unterschiedliche Wirkungen aus, von denen noch zu lesen ist.

Am Nachmittag trafen hohe Gäste aus Politik und Kirche, Eminenzen und Viktoria Luise mit der gesamten Pfarrerschaft in der gerade neu erbauten Stadthalle ein, vor allem, um den alten Bischof Martin Erdmann gebührend zu verabschieden und dann auch den neuen zu begrüßen. Es war eine, auch kirchenmusikalisch ziemlich anspruchslose Veranstaltung. Wedemeyer erlaubte sich noch einen rhetorischen Schlenker, wonach die Anrede „Hochwürden“ im Braunschweigischen nicht üblich sei, was sich Lilje, auf den die Bemerkung gemünzt war, nicht entgehen ließ und in seiner Rede für die „geschmackvollen“ Ausführungen des stellvertretenden Bischofs dankte.25 In einem ersten Pfarrerrundbrief vom 25. Oktober 1965 erklärte sich Bischof Heintze zurückhaltend zum großen klerikalen Demonstrationszug und dass für die Teilnahme am Gottesdienst im Dom hätten Karten ausgegeben werden müssen. „Seien Sie überzeugt, dass ich selber zu denen gehöre, die sehr wenig von den Möglichkeiten öffentlicher kirchlicher Demonstrationen in unserer Zeit halten. Aber so habe ich den Zug auch gar nicht aufgefasst. Wenn so viele Amtsbrüder im Talar teilnehmen, bedarf es nun einmal einer Ordnung, und die Aufstellung kann dann nicht unmittelbar vor dem Einzugsort erfolgen, sondern ein etwas längerer Anmarschweg ist dann für eine übersichtliche Ordnung das Einfachste.“26


Bischof Heintze vor dem Pfarrerverein November 1965

Man war allseits gespannt, wie sich der neue, landesfremde Bischof in Kirche und Landschaft einfügen würde. Als Bischof Weber sich zu Beginn seiner Tätigkeit beim hiesigen Pfarrerverein vorstellen wollte, wurde ihm bedeutet, das sei zwecklos, einen solchen Pfarrerverein gebe es nicht im Braunschweigischen. Das war vor 45 Jahren noch anders. Der Pfarrerverein hatte Bischof Heintze zu einem Vortrag bei der Jahreshauptversammlung am 3. November 1965 über ein offenbar selbstgewähltes Thema eingeladen. Der Saal der Gaststätte „Grüner Jäger“ in Riddagshausen konnte die Menge der angereisten Pfarrer nicht fassen. Heintze hatte als Thema „Christus als Ursprung und Maßstab der Mitmenschlichkeit“ gewählt.27 Das Wort „Mitmenschlichkeit“ war ein Reizwort der damaligen theologischen Diskussion. Es begegnete bei der Frage, ob Theologie in Anthropologie und Ethik aufgelöst werde, wenn bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel ausschließlich historisch-kritische Methoden angewendet würden und wenn ein Gottesbegriff „außerhalb von uns und Welt“ (extra nos) bestritten werde. Wie würde sich der neue Bischof entscheiden? Das stachelte die Neugierde der Pfarrerschaft an. Mitmenschlichkeit war für Heintze kein Privileg der Kirche. Im Gegenteil: die Geschichte vom barmherzigen Samariter mit der Gestalt des Leviten zeige warnend, wie der am Überfallenen vorübergehende Kirchenmann (Levit) es an der fälligen Mitmenschlichkeit habe fehlen lassen. Der mangelnden Mitmenschlichkeit in der Kirche stellte Heintze „die geübte Mitmenschlichkeit von Vertretern eines nichtchristlichen Kommunismus, Humanismus und Marxismus“ gegenüber. Diese Beobachtung mache das Thema dringend und fügte an: „Wir haben also wirklich keinen Grund, uns über die Mitmenschlichkeit, die es bei Heiden und Atheisten gibt, anmaßend zu überheben.“ Diese Würdigung des Kommunismus konnte in einer Landeskirche mit einer sehr langen „Zonengrenze“ zur DDR schon als gelinde Provokation verstanden werden. Das passte jedenfalls nicht in das Bild des gesellschaftlich geforderten Antikommunismus. Gegenüber dieser „heidnischen Mitmenschlichkeit“ habe die Kirche „allen Grund nach Christus als dem Ursprung der Mitmenschlichkeit zu fragen.“ Es gebe im Neuen Testament kein Wort für „Mitmenschlichkeit“, aber „das ganze Leben Jesu, das uns im Kerygma des Neuen Testamentes begegnet, habe dieses eine Thema: „Jesus ist der, der für andere da ist“. Heintze nannte als Gewährsmann Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer hatte Heintze bei seiner Dankesrede vor den Synodalen am 8. April erwähnt, Bonhoeffer hatte er in seiner Predigt im Dom nach seiner Einführung zitiert und jetzt wieder: Bonhoeffer. Die Besonderheit der Mitmenschlichkeit Jesu werde beim Abendmahl anschaulich. Das letzte Abendmahl werde zum „Mahl der Versager“, „die Türen werden weit aufgemacht, die Liebe Jesu zum Menschen kennt keinerlei Grenzen“. Von hier aus wäre jeder Humanismus nach seinem Grund zu befragen. „Kann er von gleicher Unbedingtheit sein, wenn er Jesus nicht kennt?“ Christus setze aber auch den Maßstab für die Mitmenschlichkeit, nämlich die Nachfolge. Wie die Nachfolge praktisch aussehe, müsse jeweils neu aus der Situation herausgearbeitet werden und könne nicht gesetzlich aus der Bibel entnommen werden. Als Beispiel nannte Heintze die Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß und „die Schande der Apartheid in Südafrika“ als mangelnde Nachfolge. „Die Nachfolge setzt immer neu den Herrn voraus.“ So schloss Heintze nach dem Bericht im SONNTAG: „Jesus Christus will uns zum Wagnis immer neuer Mitmenschlichkeit in immer wieder unbekanntes Land und immer wieder offene Zukunft führen.“ Mit dem Vortrag hatte der Bischof viele Positionslichter gesetzt. Mit dem hingeworfenen Wort vom „Kerygma“ deutete er seine distanzierte Nähe zur Bultmannschen Theologie an, dass Röm. 13 für das Verhalten der Christen in der Demokratie nicht gelte, machte ihn establishmentkritisch, dass aus dem „Gebot der Stunde“, wie es die Deutschen Christen formuliert hatten, keine Ethik zu entwerfen sei, signalisierte, das er im Kirchenkampf auf der „richtigen“ Seite gestanden hatte.

Es ergab sich prompt eine muntere, längere Diskussion. Die Schüler von Prof. Herbert Braun, der Gott als „Chiffre der Mitmenschlichkeit“ bezeichnet hatte, verteidigten ihren Meister, der doch das „extra nos“ kenne, jedoch nicht „über uns“ sondern im Gegenüber des Wortes. Lange wurde über die Ausführungen des Bischofs zum Abendmahl diskutiert. Sollte der Kreis der Teilnehmer auf die Gläubigen begrenzt oder offen für die Welt sein? Bischof Heintze konnte einen durchaus sympathischen Eindruck von der Braunschweiger Pfarrerschaft mitnehmen.


Anmerkungen zu Kapitel 3

1 BBL 407 Klaus Jürgens Artikel Wilhelm Röpke.
2 BBL 98 Klaus Jürgens Artikel Reinhold Breust. Die Bemerkung von Jürgens, „Anfang 1940 hob die Kirchenregierung die Beurlaubung auf, ohne dass B. jedoch in das Landeskirchenamt zurückkehrte“, muss insofern ergänzt werden, dass Breust laut Stellenpan 1943 als Oberlandeskircherat im Referat III der Finanzabteilung im Landeskirchenamt beschäftigt war.
3 BBL 378 Klaus Erich Pollmann über Dr. Walter Lerche.
4 BBL 101 Dietrich Kuessner über Rudolf Brinckmeier.
5 BBL 308 Klaus Jürgens über Otto Jürgens. Über den ausscheidenden 70jährigen Propst Otto Jürgens SONNTAG 4.4.1965 8 „Am 4. April begeht Propst Kirchenrat Otto Jürgens von St. Johannis seinen 70. Geburtstag“, und die Einführung von Siegfried Stange als Propst SONNTAG 2.5.1965 9 „Der neue Propst von Braunschweig Pastor Siegfried Stange in Katharinen.“
6 SONNTAG 9.5.1965 6 „Die Wiedereinweihung der St. Andreaskirche in Braunschweig.“
7 LAW Syn 212 Bd 19 Sitzungsprotokoll 2.
8 Dr. Albrecht 40; Kantor Gutmann 39 und Prof. Dr. Schneider 37 Stimmen.
9 ebd. 23.
10 LAW Syn 212 Sitzungsprotokoll vom 7.12.1964 2 – 11.
11 LAW acc 22/82 Ostverträge Schreiben Harborth an Heintze am 24.4.1972.
12 Unvollständige Lebenserinnerungen 37.
13 LAW acc 54/91 Protokoll der Kirchenregierung Nr. 340 vom 5.1.1965.
14 ebd. Protokoll der Kirchenregierung Nr. 341 vom 22.1.1965.
15 LAW acc 21/77 Nr. 6 Sitzung der Kirchenregierung Nr. 342 vom 1.3.1965.
16 LAW acc 54/91 Kirchenregierungsprotokoll Nr. 342 vom 1.3.1965.
17 KURIER 1/82 S. 1 Hans Martin Brackhahn „Abschied von Landesbischof Dr. Heintze.“
18 Unvollständige Lebenserinnerungen 39.
19 Dieter Andersen in Festschrift 1987 90.
20 LAW Syn 213.
21 SONNTAG 18.4.1965 2 „Bischofswahl“; ein Bericht in der BZ 9.4.1965.
22 SONNTAG 3.10.1965 1 „Der neue Landesbischof Dr. Gerhard Heintze“; 2 „Landesbischof
D. Erdmann Abschied und Dank.“
23 SONNTAG 17.10.1965 6-7 „Festlicher Tag der Braunschweiger ev.-luth. Landeskirche. Abschied und Einführung.“
24 BZ 7.10.65.
25 Berichte in BZ 7.10.1965; SONNTAG 17.10.1965 Anm 20.
26 LAW LBf 189 Rundbrief 25.10.1965.
27 Leider ist das Manuskript des Vortrags bisher nicht aufgetaucht. Es gibt nur eine Wiedergabe von Richard Grunow im SONNTAG 28.11.1965 8 „Christus als Ursprung und Maßstab der Mitmenschlichkeit – Heintze sprach im Pfarrerverein“.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk