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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

1. Dank für die große Beteiligung bei der Einführung
– Die Ostdenkschrift

Rundbrief 25.10.1965

An alle Pastoren, Pfarrdiakone und Vikarinnen der Braunschweigischen evangelisch-lutherischen Landeskirche

Liebe Brüder und Schwestern!

In meiner Predigt am Einführungstag und auch im Schlusswort beim Festakt sagte ich, dass ich das mir übertragene Amt gern vor allem als Besuchsamt verstehen und oft in Pfarrhäuser und Gemeinden kommen möchte. Wenn natürlich auch viele andere, Kraft und Zeit in Anspruch nehmende Aufgaben mit ihm verbunden sind, so hoffe ich doch, das gesteckte Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Aber bis ich mit Ihnen allen auch nur erst einmal flüchtig bekannt geworden bin, wird natürlich einige Zeit vergehen. Dafür bitte ich Sie um Ihr Verständnis. Ich freue mich aber, dass erste Anfänge schon gemacht werden konnten. Und ich möchte Sie alle herzlich bitten: Wenn Sie oder irgend jemand von Ihren Mitarbeitern oder Gemeindegliedern irgend etwas Dringendes und Wichtiges gern mit mir persönlich besprechen möchten, suchen Sie mich doch bitte Ihrerseits auf. Eine telefonische Voranmeldung (Amt 4554, privat 3002) ist allerdings dringend zu empfehlen.

Heute möchte ich Ihnen herzlich danken, dass Sie in so großer Zahl am Einführungsgottesdienst und Festakt teilnahmen. Ich weiß, dass einige von Ihnen Bedenken wegen des langen Festzuges vom Katharinengemeindehaus zum Dom und auch wegen der Ausgabe besonderer Einladungskarten für den Gottesdienst und Festakt oder wegen sonstiger Organisationsfragen hatten.1 Seien Sie überzeugt, daß ich selber zu denen gehöre, die sehr wenig von den Möglichkeiten öffentlicher kirchlicher Demonstrationen in unserer Zeit halten. Aber so habe ich den Zug auch gar nicht aufgefasst. Wenn so viele Amtsbrüder im Talar teilnehmen, bedarf es nun einmal einer Ordnung, und die Aufstellung kann dann nicht unmittelbar vor dem Einzugsort erfolgen, sondern ein etwas längerer Anmarschweg ist dann für eine übersichtliche Ordnung das Einfachste. Dass überhaupt Karten ausgegeben werden mussten, tat auch mir leid. Aber wegen der begrenzten Platzzahl war auch das nicht zu vermeiden. Jedenfalls aber war Ihr Dabeisein in so großer Zahl für meinen verehrten Herrn Amtsvorgänger, aber auch für mich selber, eine Freude und Stärkung.

In diesen Tagen ist Ihnen die von der „Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung“ erarbeitete Denkschrift zur Lage der Vertriebenen und zum Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn zugegangen, die jetzt mit Zustimmung des Rates der EKD veröffentlicht wurde.2 Sie wissen, welch heftige Angriffe vor allem von Seiten der Heimatvertriebenenverbände sofort nach ihrem Erscheinen gegen diese Denkschrift erfolgt sind. Wahrscheinlich werden auch Sie selber mehrfach auf die Denkschrift angeredet sein oder noch auf sie angeredet werden. Ich würde meinen, daß sich ein Gespräch nur lohnt, wenn Sie selber die Denkschrift vollständig haben lesen können – darum möchte ich Sie dringend bitten – und wenn auch Ihr Gesprächspartner sie wirklich kennt. Viel Empörung, die sofort nach Erscheinen der Denkschrift laut wurde, scheint mir eine flagrante Unkenntnis ihres wirklichen Inhaltes zu bekunden. Ich habe den Eindruck, daß gerade die schwierigsten grundsätzlichen Fragen, wie etwa die des Rechtes auf Heimat, in sehr sachlicher und umsichtiger und in die Tiefe führender Weise in der Denkschrift behandelt werden. Weiter scheint mir die Denkschrift ein geeigneter Modellfall zu sein, um daran zu verdeutlichen, welche Relevanz derartigen „kirchlichen Worten“ in der Evangelischen Kirche zukommen kann. Sie sind nicht abschließende, bedingungslose Annahme verlangende Kundgaben und nicht etwa mit päpstlichen Enzykliken zu vergleichen. Sie sind vielmehr als Hilfsangebot für die eigene, selbständige und sachliche Urteilsbildung zu verstehen, die durchaus auch kritische Stellungnahmen zu solchen Worten zulässt. Dabei wird allerdings das Maß an Consensus wie erst recht an biblischer Gegründetheit und auch an exakter Sachkenntnis, das jeweils in solchen Worten erkennbar wird, für die Beurteilung ihrer Wirkungsmöglichkeit von erheblichem Gewicht sein. Die vorliegende Denkschrift will nach der im Vorwort gegebenen Erklärung selber nichts anderes, als „einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion und zur Urteilsbildung zu leisten.“ Das scheint mir angesichts des notvollen Problems nicht nur ein erlaubter Versuch, sondern geradezu ein Stück heute geforderter kirchlicher Diakonie zu sein. Sie selber würden in den an der Denkschrift entstandenen Spannungen wahrscheinlich den besten Dienst tun, wenn es Ihnen gelänge, in dafür geeigneten Kreisen die Denkschrift sachlich und gründlich durchzusprechen. Im übrigen verweise ich auf die Ihnen gleichfalls zugehende „Erklärung der Kirchenkanzlei der EKD zur Reaktion auf die Vertriebenen-Denkschrift“ vom 21. Oktober (epd ZA Nr. 243), die m. E. gut geeignet ist, um Missverständnisse aufzuhellen und zu beseitigen. Ferner findet sich in den lutherischen Monatsheften 1965 Heft 5 Seite 212 ff. ein Artikel von Friedrich Spiegel-Schmidt: „Zur theologischen Diskussion auf das Recht um Heimat“, der in diesem Zusammenhang auch heranzuziehen wäre.

Ich mache auch darauf aufmerksam, dass Oberlandeskirchenrat Dr. Quast, Braunschweig, Jasper-Allee 10 (Tel 48757) landeskirchlicherseits den Auftrag hat, sich besonders um die Diskussion über die Vertriebenenfrage zu kümmern. Er steht Ihnen auf Wunsch auch sicher gern zur Verfügung.3

Darf ich noch einen ganz anderen Punkt anschneiden, der mich in diesen Tagen beschäftigt hat? Ich habe schon ein wenig Einblick bekommen können, in welchem Maße im Bereich unserer Landeskirche – keinesfalls in geringerem Umfange als in meiner bisherigen Kirche – Neubauprojekte von Kirchen und sonstigen kirchlichen Gebäuden haben durchgeführt oder gründliche Instandsetzungen haben vorgenommen werden können. Das gibt viel Grund zum Dank gegenüber allen, die in Planung, Durchführung und Finanzierung auf diesem Sektor mitarbeiten und Verantwortung tragen und vor allem gegenüber Gott, der uns solche Möglichkeiten des Bauens und Erneuerns geöffnet hat, die viele andere Kirchen heute auch nicht in entfernt gleicher Weise besitzen.4 Aber nicht nur eine zu erwartende Verknappung der für die kirchlichen Haushalte in den nächsten Jahren zur Verfügung stehenden Mittel nötigt zu sehr genauen Kalkulationen, welche Baupläne wirklich unerlässlich und vordringlich und auch realisierbar sind. Vor allem darf uns die Frage nicht loslassen, in welchem Verhältnis das, was wir für den äußeren Aufbau und Ausbau aufwenden, zu der in unserer Kirche und unseren Gemeinden faktisch vorhandenen geistlichen Kraft steht. Und in dem Maß, wie bei uns im Lande vieles äußerlich neu und schön geworden ist, bekommt auch die Frage, wie sich unsere Bereitschaft zum missionarischen und ökumenischen Engagement dazu verhält, steigendes Gewicht. Sind uns die Nöte unserer Nächsten etwa in den Jungen Kirchen und auf den Missionsfeldern oder auch nur bei den mit uns besonders verbundenen Gemeinden im anderen Teil Deutschlands eben so wichtig, wie unsere eigenen Bedürfnisse und Ansprüche? Und kann die Welt an dem, was wir ihr an „sichtbarer Kirche“ vor Augen stellen, wirklich erkennen, dass es uns zuerst und zuletzt um Bezeugung des Evangeliums und um Dienst der Liebe Christi und nicht um kirchliche Selbstdarstellung zu tun ist? Es ist noch nicht heraus, wie das Urteil unseres Herrn über die gegenwärtige Zeit des kirchlichen Wiederaufbaus einmal lauten wird. Wir sollten uns jedenfalls von daher beunruhigen lassen, um nicht der Selbstzufriedenheit und „Vermessenheit“ zu verfallen.

Herzlich gedenke ich aller derer unter Ihnen, die am bevorstehenden Reformationsfest zu predigen oder Schulgottesdienste zu halten haben. Besonders schwierig scheint mir die Verkündigungsaufgabe in den Schulgottesdiensten zu sein, in denen ja zumeist ganz verschiedene Jahrgänge beieinander sind, und man sich nicht gleichzeitig auf alle einstellen kann. Im Ganzen mag es in solchen Fällen eher geraten sein zu überfordern als zu unterfordern. Jedenfalls sollten gerade die Schüler höherer Klassen bei dieser Gelegenheit nicht zu kurz kommen. Für den Predigttext des Hauptgottesdienstes (Joh.8,31-36) hatte ich Ihnen eigentlich den Versuch einer eigenen Meditation zugedacht.5 Aber dazu bin ich leider nicht mehr gekommen. Vielleicht ein andermal. Besonders wichtig und hilfreich scheint mir die Meditation zum Text von Hans-Joachim Iwand 6 zu sein, die er für die Göttinger Predigtmeditationen für das Kirchenjahr 1956/57 geschrieben hat und die auch im Sonderband seiner Predigtmeditationen (Verlag Vandenhoeck u. Ruprecht) auf Seite 576 zu finden, ist.

Mit herzlichen Grüssen, auch an Ihre Familienangehörigen und im fürbittenden Gedenken Ihr Heintze Landesbischof

Quelle: LAW LBf 189

1 Anlage Erklärung der Kirchenkanzlei zur Reaktion auf die Ostdenkschrift


Anmerkungen

1 Der stellvertretende Landesbischof, Oberlandeskirchenrat Max Wedemeyer, hatte einen langen, demonstrativen Zug der ca. 300 Pfarrer, Bischöfe und Kirchenpräsidenten am Vormittag, dem 9. Oktober 1965, vom Katharinengemeindesaal durch die Innenstadt in den Dom zum Einführungsgottesdienst organisiert.
2 Am 19. Oktober 1965 veröffentlichte der Rat der EKD die sog. Ostdenkschrift, die von der Kammer für öffentliche Verantwortung unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Ludwig Raiser ausgearbeitet worden war. Die Denkschrift war der eigentliche Anlass dieses rsten Bischofsbriefes.
3 Adolf Quast (geb. 1910) war Dompfarrer und Verbindungsmann der Landeskirche zu den Bonner Regierungsstellen. Zu diesem Zweck erhielt Quast aus Repräsentationsgründen den Titel Oberlandeskirchenrat.
4 Leiter der Bauabteilung war Oberlandeskirchenrat Dr. Friedrich Berndt (1903-1983),
5 Joh.8,31-36: „Wenn nun euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“.
6 Hans Joachim Iwand (1899-1960), 1924 Professor des Herder-Instituts in Riga, Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Blöstau/Ostpreußen, ab 1936 mit Reichsredeverbot belegt, seit 1937 Pfarrer in Dortmund, ab 1946 Professor für Systematische Theologie in Göttingen, ab 1952 in Bonn. Entschlossener Linkslutheraner, Mitverfasser des Darmstädter Wortes der Bekennenden Kirche 1947, das von der Mehrheit der westdeutschen Kirchen strikt abgelehnt worden war und Herausgeber der Göttinger Predigtmeditationen.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk