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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

10. Zur inneren Situation unserer Kirche

Rundbrief 12.11.1970

An Pfarrer, Pastorinnen und sonstigen Mitarbeiter der Landeskirche nachrichtlich: an die Vikare und Studenten der Landeskirche sowie an die Pfarrer im Ruhestand, und die Pfarrwitwen aus dem Bereich der Landeskirche

Liebe Brüder! Liebe Schwestern!

Darf ich wieder einmal meinem Denken an Sie in einem Rundbrief Ausdruck verleihen? Lieber wäre es mir, wenn mehr Zeit und Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen mit Ihnen allen wäre, gerade angesichts der vielen Fragen und Sorgen, die uns im Blick auf Gegenwart und Zukunft unserer Kirche bewegen. Ein Rundbrief kann immer nur ein Notbehelf sein. Ich kann auch nur einige wenige Themen anschneiden, die mich zur Zeit besonders beschäftigen, und über die ich gern mit Ihnen sprechen möchte.

I. Zur inneren Situation unserer Kirche

Im Blick auf unsere Gemeinden und den Zustand unserer Kirche im ganzen kann vieles wirklich beunruhigen und besorgt machen. Die von außen kommenden Angriffe nehmen zwar auch zu, sind aber sicher nicht das Bedenklichste. Es kann uns im Grunde nur heilsam sein, wenn unsere christliche und kirchliche Existenz von der Gesellschaft nicht mehr einfach als selbstverständliche Konvention hingenommen wird, sondern wir kritisch nach dem eigentlichen Grund unseres Glaubens und Handelns gefragt werden und darüber Rechenschaft geben müssen. Bedrohlicher ist das Ausmaß innerer Zerrissenheit, tiefgreifender Unsicherheit und zunehmender Resignation, wie es das Bild der Pfarrer- und Mitarbeiterschaft und weithin die Gemeinden kennzeichnet. Das „Forum der Kirche“, das unter dem Leitthema der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Evian1 unlängst von den verschiedenen Werken und Gruppen unserer Kirche in Braunschweig veranstaltet wurde, wurde zum Ventil für die Artikulierung von viel Kritik und Unbehagen, wobei die Analysen wie die Therapievorschläge allerdings sehr gegensätzlicher Art waren. Zur Zeit gibt auch in unserer Kirche der Beschluss des Exekutivkomitees des Weltrats der Kirchen (ÖRK) zur Unterstützung von Organisationen, die den Rassismus bekämpfen und dabei z.T. auch Gewaltaktionen bejahen, besonderen Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen und neuen Polarisierungen. Verschiedene Veröffentlichungen aus dem Bereich der landeskirchlichen Jugendarbeit aus jüngster Zeit haben verbreitet Besorgnis und auch Empörung hervorgerufen. Auch viele andere Phänomene eines sich ausbreitenden Misstrauens und Unbehagens im Blick auf das, was in der Kirche geschieht oder nicht geschieht, könnten genannt werden.

Ich bin nicht der Meinung, daß in dieser wie in anderen umstrittenen Fragen ein relativistischer Pluralismus, der alles gleichermaßen gelten läßt, ein aussichtsreicher und uns erlaubter Ausweg aus dieser notvollen Situation sein könnte. Auch in meiner Bibel steht die apostolische Grundanweisung: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinns, auf daß ihr prüfen mögt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ (Röm. 12,2). Darum halte ich es für gut, wenn, was um uns her und auch in der Kirche geäußert und getan wird, nicht einfach gleichgültig hingenommen wird, sondern viele sich daran beteiligen, genau und kritisch zu prüfen und selber Stellung zu beziehen, um so mehr, wenn wirklich gewichtige Fragen auf dem Spiel stehen. Das gilt auch für die Behandlung der z.Zt. im Vordergrund stehenden Themen.

Zu dem genauen Prüfen gehört aber auch, wirklich sorgfältig auf das zu hören, was denn der andere, von dessen Meinung und Handlungen wir uns meinen abgrenzen zu müssen, eigentlich sagt und vertritt. Und das fällt uns in der Regel nicht leicht, vielleicht uns Deutschen noch schwerer als den Angehörigen anderer Völker. Allzu leicht verzeichnen wir voreingenommen den Standpunkt des anderen und pressen ihn in eine Schablone und tun ihm damit Unrecht. Allzu schnell tritt an die Stelle des Versuchs, den anderen mit besseren Argumenten zu überwinden, emotionale Gereiztheit. Und über der Empörung über den anderen kommt oft der Versuch, vor allem anderen mit ihm selbst zu reden, zu kurz. Wir werden auf der Hut sein müssen, daß uns das in unseren gegenwärtigen Auseinandersetzungen nicht auch so geht. Das achte Gebot mit der Weisung „Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren“ erfordert dabei im Grunde noch sehr viel mehr als nur genau zuzuhören und sachlich zu argumentieren. Und in der Wahrheit Christi kann nur bleiben, wer in seiner Liebe bleibt. Daran zu erinnern heißt nicht, grundsätzlich alles vertuschen oder verharmlosen. Zur Liebe Christi kann durchaus auch eine offene oder gar harte Rede gehören, die dem anderen seinen Irrtum und seine Schuld aufzudecken sucht. Mitunter mag jemand, der selber sehr einseitig und aggressiv redet, im stillen geradezu auf harten aber begründeten Widerspruch hoffen. Aber wenn das Widersprechen in der Liebe Christi geschieht, wird der andere immer zugleich die Bereitschaft zu letzter Solidarität im gemeinsamen Schuldigsein und im gemeinsamen Angewiesensein auf Vergebung spüren. Es wäre wichtig, was uns z.Zt. besorgt macht oder auch empört, im Licht des Wochenspruchs der nächsten Woche zu sehen („Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterthron Christi“) und dabei das „Wir“ zu unterstreichen bzw. unser eigenes Ich an erster Stelle hier einzusetzen. Ich meine auch, dass wir z.Zt. besonders viel Gelegenheit haben, unsere Erfahrungen mit dem zu machen, was Luther in seinem Reformationslied über „groß Macht und viel List“ des „alt bösen Feindes“ aussagt. Zu dieser List gehört sicher auch, dass die gefährlichsten Angriffe gewöhnlich an Stellen erfolgen, wo wir sie kaum wahrnehmen. Welcher Schaden wird z.B. der Sache des Evangeliums auch unter uns fortgesetzt durch persönliche Empfindlichkeiten, Ansprüche und Querelen zugefügt, ganz gewiß unendlich viel mehr, als uns selbst zumeist bewusst ist. Oder wie leicht lassen wir uns in falsche und verhängnisvolle Alternativen drängen, etwa: Entweder Orientierung an Schrift und Bekenntnis oder Ernstnehmen des geschichtlichen Charakters der biblischen Überlieferung; Entweder Konzentration auf den Gottesdienst oder Wahrnehmen gesellschaftlicher und politischer Verantwortung; Entweder Bemühen um Strukturveränderungen oder Bereitschaft zur Einzelseelsorge. Dabei kann man theoretisch das Bedenkliche an solchen Alternativsetzungen durchaus durchschauen und ihnen im eigenen praktischen Verhalten trotzdem verhaftet bleiben. Am gefährlichsten ist aber heute, wie leicht wir uns der Unzufriedenheit, dem Klagen und Anklagen und der Resignation überlassen. Der Versucher kann hier heute besonders viele Erfolge buchen. Um so wichtiger ist es, immer wieder daran zu denken, dass wir zu Zeugen einer frohen und frohmachenden Botschaft berufen sind. Jemand, von dem ich viel halte, sagte neulich einmal, es sei grundverkehrt, daß wir im Blick auf den Zustand der Kirche so oft das Wort „noch“ gebrauchten („noch“ kommen soundsoviele Leute in die Kirche; „noch“ haben wir theologischen Nachwuchs; „noch“ hat die Kirche eine gewisse Öffentlichkeitsgeltung usw.). Wir sollten stattdessen viel häufiger das Wort „schon“ gebrauchen und uns dessen freuen, was schon jetzt hier und da an Wirkungen des Evangeliums erkennbar und erfahrbar ist, und sei es in ersten bescheidenen und unvollkommenen Ansätzen. Das hat mir sehr eingeleuchtet. Wenn wir etwas mehr danach verfahren würden, würden wir trotz alles Betrüblichen und Bedenklichen, unter dem wir in unserer Kirche leiden, ganz gewiß viel mehr Grund zum Staunen und zur Dankbarkeit für die Realität von Gottes Verheißungen finden, als uns jetzt möglich erscheint. Die Adventszeit, der wir entgegengehen, wird uns jedenfalls neu daran erinnern, daß christliche Theologie immer und unter allen Umständen „Theologie der Hoffnung“ bleiben darf.

II. Zum Antirassismus-Beschluss des ÖRK

Beim „Forum der Kirche“ in Braunschweig wurde von einer Gruppe der Antrag gestellt, der Beschluß des ÖRK möge ausdrücklich gebilligt und aus landeskirchlichen Mitteln zusätzlich ein Betrag für den gleichen Zweck zur Verfügung gestellt werden, ähnlich wie vor kurzem die Landessynode von Hessen-Nassau mit knapper Mehrheit eine Entscheidung fällte. (Heute wurde bekannt, dass der grundsätzlich von der Synode von Hessen-Nassau bewilligte Betrag einstweilen gesperrt werden soll). Wie auch sonst in den meisten Kirchen in Deutschland überwiegen aber auch bei uns die kritischen Stimmen. Die wichtigsten kritischen Beiträge werden Ihnen aus der Presse bekannt sein, so die Stellungnahmen des Rates der EKD und von Kirchenleitung, Generalsynode und Bischofskonferenz der VELKD. Die Erklärung der leitenden Juristen der Gliedkirchen der EKD vom 28.10., die vom Pröpstekonvent und Landeskirchenamt unserer Landeskirche als besonders gut und wohlabgewogen begrüßt wurde, ist vor wenigen Tagen allen Pfarrämtern gesondert zugestellt worden. Wer sich über den gesamten Vorgang, die Vorgeschichte und die nachfolgende noch nicht abgeschlossene Diskussion gründlich unterrichten will, sei auf die Sonderdokumentationen des Grünen Dienstes des epd verwiesen (Nr. 40/70 vom 6.10. und Nr. 45/70 vom 5.11.1970).

Auch ich selber halte den Beschluss des Exekutivkomitees für missverständlich und zu wenig in seinen Konsequenzen bedacht. Es sollte nach meiner Meinung von den Gliedkirchen der EKD auch der ausdrückliche Wunsch des Rates der EKD respektiert werden, im Augenblick keine eigenen zusätzlichen Beschlüsse zu fassen. Der wichtigste deutsche Partner des ÖRK sind nun einmal notwendigerweise Rat und Synode der EKD. Und der Rat hat unmittelbare Verhandlungen mit Generalsekretär Blake vom ÖRK, der sich zum Hauptsprecher für den Beschluss des Exekutivkomitees gemacht hatte, für Anfang Dezember vereinbart, denen nicht vorgegriffen werden sollte. Aber dass die mit dem Beschluss zusammenhängenden Grundsatzfragen, vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Gewaltgebrauch, auch bei uns weiterhin diskutiert werden, ist keinesfalls zu unterbinden, sondern durchaus berechtigt und wünschenswert. Darf ich für diese Diskussion meinerseits einige kurze ergänzende Überlegungen anfügen?

1. Wer seinerseits Stellung nehmen will, sollte alle Möglichkeiten einer genauen Information ausnutzen und sich besonders vor emotionalen und unzutreffenden Pauschalbeschuldigungen hüten, die leider in der öffentlichen Diskussion eine beträchtliche Rolle spielen. Nachdrücklich ist darauf hinzuweisen, dass das Exekutivkomitee des ÖRK ausdrücklich versichert hat, die bewilligten Mittel seien ausschließlich für humanitäre Zwecke bestimmt, und von allen beteiligten Empfängern sei auch eine Verwendung in diesem Sinn zugesichert.

In einem Brief an den Ratsvorsitzenden des Rates der EKD vom 6.11.1970 schrieb Generalsekretär Blake u.a.: „Lassen Sie mich in meiner Eigenschaft als Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen noch einmal so fest wie möglich bekräftigen, daß der Ökumenische Rat der Kirchen der Versöhnung auf dem Verhandlungswege, und zwar auf der Grundlage der Gerechtigkeit, immer den Vorzug gibt vor jeglicher gewaltsamen Aktion, sei es zwischen Regierungen oder zwischen Regierungen und Gruppen des eigenen Volkes, die in der Auseinandersetzung mit ihrer Regierung stehen. ... In meinen Augen hat der Exekutivausschuß unverändert an der langjährigen ökumenischen Überzeugung festgehalten. Er handelte aus dem Glauben heraus, daß Gewalt und die durch sie hervorgerufene Gegengewalt nicht der beste Weg sind, wahren Frieden oder wahre Gerechtigkeit zu schaffen; daß gewaltlose Aktionen zu jeder Zeit als das weitaus bessere Mittel zur Erreichung dieser Ziele angesehen werden müssen; daß die christliche Kirche selbst dann, wenn Gewalt angewendet wird, vor allem anderen die Aufgabe besitzt, die Menschen bei der ersten Gelegenheit zum Verlassen des Kriegsschauplatzes und an den Verhandlungstisch zu bewegen. Vergessen wir aber nicht, daß die Wirkungslosigkeit unserer Appelle, den Wandel auf gewaltlosem Wege zu suchen, viel zu der herrschenden Bitternis unter den schwarzen Christen im südlichen Afrika beigetragen hat. Appelle unserer weißen Mitgliedskirchen zu gewaltloser Aktion werden nur dann verstanden, wenn dieselben Mitgliedskirchen gleichzeitig wirksam zur Bekämpfung des Rassismus beitragen“.

Ähnlich hat auch die Synode von Hessen-Nassau bei ihrem Ergänzungsbeschluss ausdrücklich festgestellt, dass die von ihr bewilligten (inzwischen gesperrten) Mittel nicht zur Unterstützung von Gewaltaktionen verwendet werden dürften. So sollte auf jeden Fall dem heute häufig erhobenen pauschalen Vorwurf entgegengetreten werden, „die Kirche“ sei mit dem Beschluß des Exekutivkomitees militant geworden und propagiere jetzt statt der Versöhnung die Gewalt.

2. Der Grundauftrag der Kirche bleibt der Dienst der Versöhnung. Er darf auf keinen Fall verdunkelt werden. Das aber muss befürchtet werden, wenn Organe, die die Kirche im ganzen vertreten, sich unmittelbar zum Parteigänger von politischen Machtgruppen machen, die ihrerseits Gewaltanwendung in ihrem Programm haben. Es ist die Frage, ob das Exekutivkomitee des ÖRK trotz der ausdrücklichen Zusicherung nur humanitärer Unterstützung mit seinem Beschluss nicht in dieser Richtung zu weit gegangen ist und sich nicht genügend gegen Missdeutungen und Missbrauch seiner Aktion geschützt hat. Nicht weniger sorgfältig als z.B. das Rote Kreuz muß die Kirche darüber wachen, dass ihr Dienst der Versöhnung über alle Fronten hinweg bedingungslos allen Menschen gilt. Auf keinen Fall darf kirchlicherseits einer leichtfertigen Ideologisierung von Gewalt das Wort geredet werden, die übersieht, dass jede Gewaltanwendung zugleich neue Schuld hervorruft und nie zum Instrument reiner Gerechtigkeit werden kann. In dieser Hinsicht kann man viel von Dietrich Bonhoeffers Äußerungen über seine eigene Beteiligung am aktiven Widerstand gegen Hitler lernen.

3. Wer sich empört über einen möglichen Gewaltmissbrauch durch revolutionäre Gewalten, sollte erst recht darüber erschrecken, wie es wieder und wieder zum Gewaltmissbrauch auch durch „legitime“ Machthaber gekommen ist und noch kommt, ohne daß die Kirchen alles ihnen Mögliche getan hätten, um solchen Machtmißbrauch aufzudecken und energisch und intensiv genug für Benachteiligte und Unterdrückte einzutreten. Das Letztere gehört aber gerade nach dem Evangelium des kommenden Sonntags (Matth. 25,31 ff.) zu dem Grundauftrag aller Jünger Jesu. Auch als evangelische Christen können wir viel von dem brasilianischen Erzbischof Dom Helder Camara und seinem unermüdlichen, zum persönlichen Risiko bereiten, obwohl ganz und gar gewaltlosen Einsatz zugunsten der sozial Benachteiligten seines Landes lernen. Auf seiner Ansprache in Bonn bei einer Veranstaltung des deutschen Forums für Entwicklungshilfe am 23.10. d.J. sagte er zum Thema der Eskalation der Gewalt:

„Wann werden den Völkern die Augen dafür aufgehen, daß die ursprüngliche Gewalt, die Ursache aller Gewalten, in der allgegenwärtigen sozialen Ungerechtigkeit besteht? Diese, wie ich sie nennen möchte, Gewalt Nr. 1 gebiert immer wieder die Gewalt Nr. 2: die Antwort der Unterdrückten oder der Jugend im Namen der Stimmlosen. In dem Maße, in dem die Unterdrückten auf die Straße gehen, glauben sich die Regierungen im Recht, ja sogar verpflichtet, mit der Gewalt Nr. 3 einzugreifen. Und so verfällt die Welt der gefährlichen Eskalation der Gewalt, die sich vor unser aller Augen vollzieht. Es gibt immer deutlichere Anzeichen, daß die Welt rechten oder linken Gewaltregimen verfällt, daß solche Gewaltregime immer gewalttätiger werden und auf Grund ihrer ihnen innewohnenden, unheilvollen Logik ihre Zuflucht gar zu niederträchtigen Folterungen oder Konzentrationslagern nehmen. Das Deutschland der großen Philosophen und großen Musiker – nicht umsonst sind wir hier im Geiste Beethovens versammelt – beweist uns durch bedrückende Erfahrung, daß auch hochkulitivierte Länder schmerzliche Zeiten erleben müssen, die sie lieber für immer vergäßen“. (Voller Wortlaut der Rede im Grünen Dienst des epd Nr. 43/70 vom 29.10.70). Wir werden danach gefragt, ob unsere Sorgen wegen des fortgesetzten Missbrauchs der Primärgewalt wirklich ebenso stark ist wie die Beunruhigung wegen der „Gewalt Nr. 2“. Die berechtigten kritischen Anfragen an den Beschluss des ÖRK dürfen jedenfalls nicht zur billigen Entschuldigung dafür werden, wie unzureichend bislang auch die Kirchen und auch wir selber ganz persönlich zur Bekämpfung von Rassismus und sonstiger gesellschaftlicher Diskriminierung beigetragen haben. Im eigenen Land sollten wir in diesem Zusammenhang keinesfalls das Gastarbeiterproblem übersehen, auf das zu Recht mit besonderem Nachdruck auf dem „Forum der Kirche“ hingewiesen wurde.

4. Bei dem Beschluss des Exekutivkomitees handelt es sich um eine keineswegs bloß deutsche, sondern um eine ökumenische Angelegenheit. Deshalb ist sorgfältig darauf zu achten, welche Haltung andere beteiligte Kirchen in dieser Sache einnehmen, und wie sie ihre etwaige Zustimmung begründen. Namentlich muß auf die Stimme der jungen Kirchen in der Dritten Welt gehört werden. Offenbar bestehen begründete Zweifel, ob das bei dem Beschluss des Exekutivkomitees zur Genüge der Fall gewesen ist. Vor allem müssen wir acht geben, daß unsere Kritik an dem Beschluss des Exekutivkomitees nicht in den jungen Kirchen und in der Dritten Welt, die nun einmal auf Grund Jahrhunderte langer trüber Erfahrungen mit uns Weißen sehr mißtrauisch sind, als neuer Beweis rassistischer Selbstgerechtigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber ihren Nöten gedeutet werden kann. Es darf auch auf keinen Fall wegen des entstandenen Dissensus zu einem leichtfertigen Rückzug aus der gemeinsamen ökumenischen Verantwortung kommen.

5. Wenn am 1. Advent eine neue Jahresaktion „Brot für die Welt“ beginnt, werden wir uns doppelt darum bemühen müssen, dass sie durch die im Gang befindliche Auseinandersetzung über den Beschluß des Exekutivkomitees keinen Schaden leidet. Etwaiger Skepsis gegenüber kann nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass aus Mitteln von „Brot für die Weit“ keinerlei Beträge in den beanstandeten Sonderfonds des ÖRK geflossen sind. „Brot für die Welt“ hat zwar grundsätzlich eine Beteiligung am Einsatz der Ökumene im Kampf gegen den Rassismus zugesagt, aber sich für jedes einzelne Objekt die eigene Überprüfung vorbehalten. Das auch für die nächste Aktion wieder zur Verfügung stehende und vom Diakonischen Werk unserer Landeskirche zu beziehende Werbematerial weist aus, wie sorgfältig über die Verwendung der gesammelten Gelder Rechenschaft abgelegt wird.

III. Unsere Mitverantwortung für die sittliche Bewusstseinsbildung

Die Deutsche katholische Bischofskonferenz hat vor wenigen Wochen unter der Überschrift „Die deutschen Bischöfe warnen vor Gefahren für die Gesellschaft“ eine Stellungnahme zur Strafrechtsreform, insbesondere zum Schutz des werdenden Lebens und zur Verbreitung pornographischer Erzeugnisse veröffentlicht, die viel Beachtung gefunden hat. Sie warnen dringend vor einem zu weit gehenden Abbau des strafrechtlichen Schutzes, durch den die Unantastbarkeit des werdenden Lebens gefährdet und Freiheit und Würde des Menschen gröblich verletzt würden. Leider ist die vom Rat der EKD in Auftrag gegebene Denkschrift zu Gegenwartsfragen der Sexualethik noch nicht erschienen, in der gewiss auch zu diesen Problemen Stellung genommen wird. Sicher aber ist es wichtig und dringend wünschenswert, dass die Fragen der Strafrechtsreform, vor allem auch der geplanten Änderungen des Ehescheidungsrechts, auch in unseren Gemeinden und in übergemeindlichen Gruppen sorgfältig durchdacht und insbesondere auf ihre ethischen Voraussetzungen und Konsequenzen hin untersucht werden. Allerdings kommt es auch hier viel auf genaue, sachliche Information an. Die Bundesregierung selber hat darauf hingewiesen, dass eine Diskussion dieser Probleme in einer breiten Öffentlichkeit noch vor der Verabschiedung durch das Parlament durchaus erwünscht sei.

Man mag verschiedener Meinung sein, wie weit besonders der schon jetzt hochflutartig angeschwollene Strom der Pornographie überhaupt noch durch gesetzliche Strafmaßnahmen eingedämmt werden kann, oder ob eine weitgehende Freigabe wie in den nordischen Ländern eher zu einem Rückgang führen könnte, weil dann der Reiz des Verbotenen entfiele. Man mag insbesondere auch fragen, wieweit in einer Gesellschaft, die sich weithin nicht mehr als christlich versteht, auf christlichen Voraussetzungen beruhende Rechtsnormen noch durchgehalten werden können. Aber wer immer sich bewusst als Christ versteht, wird in der Überschwemmung mit pornographischen Erzeugnissen und dem reißenden Absatz, den sie finden, nur ein Zeichen eines gefährlich um sich greifenden Vergiftungsprozesses sehen können und vor allem darüber betroffen sein, wie weit bis in unsere Gemeinden hinein die Unsicherheit und Orientierungslosigkeit in Fragen der Sexualität geht. Was unter dem Vorzeichen der Freiheit und in dem Versuch, Sexualität nicht nur gegenüber der „agape“ im biblischen Sinn sondern sogar gegenüber dem „eros“ zu isolieren, angeboten wird, trägt deutlich genug die Symptome krasser egoistischer Rücksichtslosigkeit und oft sogar offener Brutalität an sich und steht zudem weithin unter der Herrschaft übelster Profitgier. Es ist sicher nötig, dass von möglichst vielen Seiten und nicht etwa nur von Kirchenleitungen auf diese Zusammenhänge hingewiesen wird. Aber auch darüber müssen wir uns im klaren sein, dass es mit Empörung und Anprangerung nicht getan ist. Kirchliche Worte, die vor allem das Gesetz mit seiner Anklage und Drohung einzuschärfen suchten, haben sich gerade in diesen Bereich immer wieder als wirkungslos erwiesen, wie etwa das Bußtagswort der EKD zur um sich greifenden „Diktatur der Unanständigkeit“ vor einigen Jahren. Entscheidend ist, was wir selber der vergebenden und erneuernden Kraft der Liebe Jesu Christi zutrauen, und wieweit es uns gelingt, namentlich kritischen jungen Menschen das mit ihr gegebene große Angebot wirklich als den besseren Weg und die größere Freiheit und echtere Mitmenschlichkeit aufzuzeigen. Dazu gehört sicher auch ein langer Atem der Geduld und des persönlichen Sich-Mühens um den, den man auf gefährlichen Wegen sieht. Bringen wir diesen langen Atem der Geduld mit den schwierigen jungen Menschen unserer Zeit – auch unsere eigenen Kinder gehören oft dazu – wirklich auf? Beherzigen wir zur Genüge, was das Zeugnis des Evangeliums über Jesu Umgang mit den aus der Bahn Geratenen eigentlich besagt („Dieser nimmt die Sünder an und ißt mit ihnen“)? Woran liegt es, daß wir das zwar zu predigen, aber in Jesu Nachfolge so wenig überzeugend zu praktizieren wissen? Stattdessen verfallen wir soviel leichter entweder in pharisäische Selbstgerechtigkeit oder passen uns aus Kleinmut und Bequemlichkeit unzulässig an, lassen alles gehen, wie es geht und resignieren. Beides ist gleichermaßen bedenklich.

IV. Zur „lutherisch-reformierten Konkordie“

Wie Sie wohl wissen, hat die von der Kirchenleitung der VELKD, dem Moderamen des Reformierten Bundes und dem Rat der EKU im Jahre 1968 gebildete Kommission „Lutherisch-reformiertes Gespräch“ im Frühjahr d.J. „Thesen zur Kirchengemeinschaft“ vorgelegt. Die Kommission erblickt in diesen Thesen den Vorschlag einer Konkordie, die es ermöglicht, zwischen den Kirchen, die den in den Thesen formulierten Konsensus anerkennen, Kirchengemeinschaft festzustellen. Als Konsequenz einer solchen Feststellung würde ausdrücklich zu erklären sein, daß die auf Grund der reformatorischen Bekenntnisse zwischen den Kirchen stehenden Verwerfungen den Partner heute nicht mehr betreffen. Ferner würde die erklärte Kirchengemeinschaft in Vereinbarungen über Kanzel- und Sakramentsgemeinschaft konkret zum Ausdruck zu bringen sein. Den Wortlaut der Thesen finden Sie in den Lutherischen Monatsheften Juli 1970, S.368 f. und in den Evangelischen Kommentaren Juli 1970 S. 424 f. Die Generalsynode der VELKD in Eutin hat die Gliedkirchen gebeten, sich in der Folgezeit intensiv mit den Thesen zu befassen und namentlich auch die Pfarrerschaft an der Arbeit daran zu beteiligen. Einzubeziehen ist dabei auch der Bericht über die 1969 und 1970 in Leuenberg/Schweiz auf europäischer Ebene geführten lutherisch-reformierten Gespräche über die Frage „Kirchengemeinschaft und Kirchentrennung“. Auch in diesem Bericht äußern die Gesprächsteilnehmer ihre gemeinsame Überzeugung, daß die Zeit für die Überwindung der Kirchentrennung zwischen den reformierten, lutherischen und unierten Kirchen und die Herstellung voller Kirchengemeinschaft zwischen ihnen reif ist. Sie schlagen vor, daß eine Vorversammlung von bevollmächtigten Vertretern der beteiligten Kirchen in Europa bis Ende 1971 eine „Konkordie“ vorbereitet, die dann ein Jahr danach auf einer Hauptversammlung der Kirchen zu verabschieden wäre.

Vermutlich sind weite Teile unserer Pfarrerschaft und erst recht unserer Gemeinden der Überzeugung, daß im Grunde eine Arbeit an den vorgelegten Thesen gar nicht mehr erforderlich sei, weil faktisch doch längst Kirchengemeinschaft zwischen den Mitgliedern der beteiligten Kirchen fortgesetzt praktiziert wird und die heute wirklich kontroversen Fragen längst nicht mehr mit dem historischen Gegensatz zwischen lutherischen und reformierten Kirchen deckungsgleich sind, sondern an ganz anderen Stellen aufbrechen und quer durch alle Kirchen verlaufen. Auch mir scheint in diesem Zusammenhang vor allem wichtig zu sein, ob die von der Arnoldshainer Konferenz und der VELKD eingesetzte Kommission die begonnene Arbeit an einer gemeinsamen theologischen Erklärung zu den Herausforderungen durch unsere Zeit wirklich zu Ende führen kann, und welche Wirkung von einer solchen auf die Gegenwartsprobleme ausgerichteten Erklärung ausgehen könnte. Ich meine dennoch, daß es nicht gut wäre, sich sozusagen stillschweigend über die offiziell ja noch nicht bereinigte Kirchentrennung hinwegzusetzen. Deshalb begrüße ich den vorgeschlagenen Weg. Und ich würde mich freuen, wenn auch in unserer Landeskirche gründlich über die Thesen zur Kirchengemeinschaft und den Leuenberger Bericht gearbeitet werden würde. Vielleicht könnten sich jeweils mehrere Propsteien zur Bildung von Arbeitsgruppen, die sich diese Aufgabe vornehmen, zusammentun. Auch der Gemeindeausschuss unserer Landessynode wird sich nicht der Beschäftigung mit den Thesen entziehen können. Ich hoffe, daß sich gerade bei einer gründlichen theologischen Arbeit die Möglichkeit eines echten, theologisch begründeten „magnus consensus“ ergeben wird. Wir sollten dennoch nicht an der Kritik vorübergehen, wie sie z.B. unser Amtsbruder Dr. Lieberg in der Kirchlich-theologischen Zeitschrift „Brüdern“ Heft 4/5 vom 24.8.1970 eingehend geübt hat. Selbst wenn sich nur eine Minderheit von der „Konkordie“, falls sie zustande kommt, distanzieren würde, wird zu fragen sein, wie sich dann das Verhältnis zu dieser Minderheit gestalten könnte. Gerade in Sachen der Abendmahlsgemeinschaft kann und darf ja schon in ein und derselben Kirche nichts erzwungen werden. Im Grunde kann nichts anderes geschehen, als im Namen Jesu Christi Gemeinschaft anzubieten und zu ihr einzuladen und selbst zu ihr bereit zu sein. Für die Weite, in der die Einladung ergehen darf, bleibt für mich vor allem die Tischgemeinschaft unseres Herrn mit seinen so verschiedenartigen und in ihrer Bekenntnistreue so fragwürdigen Jüngern – namentlich beim letzten Mahl am Gründonnerstag – richtungweisend.

V. Zur Mischehenfrage

Nur noch ein kurzer Hinweis auf die neuen Ausführungsbestimmungen der Deutschen katholischen Bischofskonferenz zum päpstlichen Motu proprio über die Mischehen und das inzwischen zwischen Vertretern der katholischen Bischofskonferenz und vom Rat der EKD bestimmten Delegierten darüber geführte Gespräch, an dem auch ich selber teilnehmen konnte. (Vgl. „Texte zur Mischehe“ Grüner Dienst des epd Nr. 39/70 vom 26.9.70). Ich habe den Eindruck, dass mit diesen Ausführungsbestimmungen ein entscheidender Schritt voran getan ist. Bisherige Diskriminierungen wurden weitgehend beseitigt. Und der Weg zu einem ganz neuen seelsorgerlichen Zusammenwirken der beiden Kirchen ist damit geöffnet, wenn auch die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze im Verständnis der Ehe und überhaupt im Glaubensverständnis damit nicht einfach beseitigt sind. Aber zur ökumenischen Gemeinschaft gehört nun einmal, den Partner gerade in seinem Anderssein zu respektieren und besser zu verstehen suchen und ihn zu nichts zu nötigen, wozu er von seinen innersten Voraussetzungen her sich nicht oder noch nicht bereitfinden kann. Im übrigen bereitet das Konfessionskundliche Institut des Evangelischen Bundes z.Zt. ein Flugblatt mit Informationen und Ratschlägen zum Thema „Mischehe – aber wie?“ vor, dem man, wenn es – voraussichtlich auch mit dem Einverständnis der katholischen Seite – erscheinen wird, auch im Bereich unserer Landeskirche nur eine weite Verbreitung wünschen kann.

...

Gern hätte ich auch noch weitere Themen angeschnitten, aber die Zeit läßt das nicht mehr zu. Das Rundschreiben ist ohnehin wieder reichlich lang geworden.

Herzlich wünsche ich Ihnen allen eine gesegnete Adventszeit, in der auch Zeit zu dem bleibt, was in der ständigen Hetze unseres Lebens so leicht zu kurz kommt: Zeit für einzelne, die auf uns warten, Zeit zur Sammlung und auch Zeit zum Gebet. Für das letztere empfand ich selber das neue Buch von Jörg Zink, Wie wir beten können, Kreuzverlag Stuttgart – Berlin 1970 als besonders hilfreich. Namentlich gedenke ich derer unter Ihnen, die durch Krankheit, Verluste naher Angehöriger oder sonstigen Sorgen unter besonderen Belastungen stehen.

Ihr Heintze

Quelle: Landeskirchliches Archiv LAW LBf 14


Anmerkung

Die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes im französischen Evian fand 1970 statt.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk