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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

11. Verabschiedung der Ostverträge im Bundestag

Rundbrief 5.4.1972

An die Pfarrer, Pastorinnen und sonstigen Mitarbeiter der Landeskirche

Liebe Brüder ! Liebe Schwestern !

Die Erklärung von 25 Theologen und Laien aus dem Bereich der EKD zu den Fragen der Ostverträge, die auch ich mit unterzeichnet habe, hat ein recht gegensätzliches Echo hervorgerufen. Vielleicht sind auch Sie in Gespräche darüber verwickelt und nach den Beweggründen meiner persönlichen Beteiligung gefragt worden. Erlauben Sie mir deshalb eine kurze Erläuterung.

Mit allem Nachdruck möchte ich zunächst unterstreichen, daß die Erklärung von den Unterzeichnern persönlich verantwortet wird und keine „kirchenamtliche Verlautbarung“ darstellt. Weder „bischöfliche“ noch sonstige kirchenamtliche Autorität wird für sie in Anspruch genommen und insofern auch nicht missbraucht. Ich bin ohnehin der Überzeugung, daß mit einem Pochen auf amtskirchliche Autorität heute wenig auszurichten ist, und daß auch sonst, was Vertreter der Kirche sagen – einerlei welchen Rang und Namen sie haben – für eine kritische Überprüfung durch jedermann offen sein muss.

Die Unterzeichner haben ausdrücklich anerkannt, daß der Rat der EKD nicht in der Lage war, über die von ihm am 20.3.1972 veröffentlichte, vorsichtig zurückhaltende Erklärung hinauszugehen. Sie beabsichtigen auch nicht, mit ihrer Erklärung den Rat oder sonstige Gremien der EKD zu spalten oder zu „unterlaufen“ oder eine eigene organisierte Fraktion zu bilden. Sie erheben keinen kirchlichen „Alleinvertretungsanspruch“ und haben auch nie behauptet, ein „Monopol für Versöhnung“ zu besitzen. Niemandem wird verwehrt, sich ein eigenes abweichendes Urteil zu bilden, wie es in der Erklärung selbst deutlich gesagt wird.

Wohl aber haben die Unterzeichner sich zum Sprecher von Besorgnissen und Befürchtungen gemacht, die heute viele Menschen in unseren Kirchen und weit darüber hinaus im Blick auf die Ratifizierung der Ostverträge bewegen. Sie nehmen damit nur das vom Grundgesetz jedem garantierte Recht freier Meinungsäußerung in Anspruch. Sie sind darüber hinaus der Überzeugung, dass auch die Erklärung des Rates selber die Möglichkeit zu solchen persönlich zu verantwortenden Äußerungen offen lässt. Ohne derartige Äußerungen könnte allzu leicht der Eindruck entstehen, als seien die seinerzeit mit der Denkschrift zur Lage der Vertriebenen und zum Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn gegebenen Denkanstöße und Impulse heute in der EKD einfach vergessen oder preisgegeben. Das trifft aber für viele Kirchenmitglieder ohne Zweifel nicht zu. Ich meine auch, daß diese Stimmen das gleiche Recht auf öffentliches Gehör haben, wie die derjenigen, die ihr „Nein“ mit christlichen Vorzeichen begründen. Im übrigen scheint mir zu der uns alle bewegenden schwierigen Frage, in welcher Weise einzelne Christen wie auch amtliche Kirchenvertreter Stellung zu Grundfragen des gesellschaftlichen und politischen Lebens nehmen und trotz verschiedener Ansichten ihre Gemeinschaft miteinander bewahren können, der in Heft 3/1972 der „Evangelischen Kommentare“ veröffentlichte Aufsatz des Präses der Synode der EKD, Ludwig Raiser, „Auch die Propheten durften nicht schweigen“ ein gewichtiger Beitrag zu sein.1

Mich haben ergänzend zu den in der Erklärung genannten Argumenten namentlich auch vielseitige Äußerungen der letzten Zeit aus den Kirchen der DDR, wie aus der Ökumene bewogen, die m.E. nicht ohne Resonanz bleiben durften. So sagte Bischof Schönherr unlängst in einem Interview mit dem epd:

„Als DDR-Bürger haben wir keinen unmittelbaren Grund, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Dennoch verfolgen wir alle und ich meine auch die allermeisten Christen in der DDR die Auseinandersetzung um die Verträge in der Bundesrepublik mit Interesse, ja mit zunehmender Besorgnis. Es geht hier ja nicht nur um politische Fragen der Bundesrepublik, die Lebensverhältnisse der Menschen in der DDR und in den übrigen europäischen Staaten werden unmittelbar davon berührt, ob wir auf dem Weg zum Frieden einen Schritt weiterkommen oder nicht ... Die Aussicht auf Entspannung, auf Wettbewerb in friedlicher Koexistenz kann nur Vorteile haben im Vergleich zu einem feindseligen Gegeneinander, das sich ja auf alle Lebensbereiche auswirkt. Gewiss wird der Gegensatz der Systeme mit dem Vertragsschluß nicht aufgehoben. Aber er bietet doch erst die Voraussetzung für eine völlig neue Phase des politischen Zusammenlebens in friedlicher Nachbarschaft. Darauf müssen sich auch die Staaten erst einstellen. Es mögen sich Probleme ergeben, die nicht jedermann den unmittelbaren Nutzen der vertraglichen Regelung erkennen lassen, aber wir müssen auf lange Sicht denken“. (Grüner Inform. Dienst des epd Nr.12/72 vom 20.3.1972).

Ich teile die Befürchtungen, daß viele Möglichkeiten zu persönlichen Kontakten, zum Dialog und zur allmählichen Entstehung neuen Vertrauens im Falle der Nichtverabschiedung neu aufs Spiel gesetzt würden, insbesondere auch im Verhältnis zu den Menschen in Polen.

Ich erwarte keineswegs Ihrer aller Zustimmung. Ich respektiere, wie gesagt, jeden, der sich gewissensmäßig anders entscheidet. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir und den anderen Unterzeichnern abnehmen würden, dass auch wir meinen, nicht leichtfertig gehandelt zu haben. Und sicher stimmen Sie zu, dass es sich um keine Bagatellfrage, sondern um eine wirkliche Schicksalsfrage handelt, in der die Meinungsbildung ohnehin weit über den Bereich des Parlaments hinaus, das die eigentliche Entscheidung zu treffen hat, in breitem Umfang in Gang gekommen ist. Die Unterzeichner der Erklärung wissen sehr wohl, daß jede derartige Erklärung mißverstanden werden kann. Aber durch Schweigen in der gegenwärtigen Situation wäre nach unserer Überzeugung die Gefahr, schuldig zu werden, noch größer gewesen.

Da in den Tageszeitungen der volle Text der Erklärung zumeist nicht veröffentlicht wurde, erlaube ich mir, ihn anbei mit der Liste der Unterzeichner Ihnen zuzusenden.

Mit freundlichen Grüssen in brüderlicher Verbundenheit

Ihr Heintze

1 Anlage


Anmerkung

1 Ludwig Raiser (1904-1980) Professor für bürgerliches Recht in Tübingen, Mitverfasser des Tübinger Memorandums und Vorsitzender der Kommission der Denkschrift zur Lage der Vertriebenen (Ostdenkschrift); 1970-1973 Präses der EKD Synode.


Erklärung zur Ratifizierung der Ostverträge

„Mehr als einmal, zuletzt in der Erklärung des Rates der EKD vom 20.3.72 und am eindringlichsten in der Denkschrift der EKD vom 1.10.1965 über die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn, hat die evangelische Kirche zur Aussöhnung und zu einem neuen Anfang in den Beziehungen zu den östlichen Nachbarländern aufgerufen. Sie hat davor gewarnt, die gebotenen Entscheidungen auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Sie wollte damit unerläßliche Schritte vorbereiten und den Handlungsspielraum der Politiker erweitern.

Nun haben die Politiker den Spielraum genutzt. Sie haben versucht, diese Anstöße in politische Praxis zu übersetzen und dabei die Interessen unseres Volkes zu wahren. Dieser Versuch ist gewiß nicht frei von Risiken und erfüllt auch nicht alle Wünsche. Aber ein Scheitern der Verträge würde aller Wahrscheinlichkeit nach ein ungleich größeres Risiko mit sich bringen.

Niemandem kann verwehrt werden, sich gewissenhaft ein Urteil zu bilden. Wir meinen aber, daß die Verträge von Moskau, Warschau und Berlin jenen Beitrag zum Frieden ermöglichen, den nur die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland leisten können, und den unsere Nachbarn in Ost und in West von uns erwarten dürfen. Darum finden sie auch international nahezu einhellige Zustimmung, gerade auch in der Ökumene. Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der Weltöffentlichkeit würde ihre Ablehnung größte Enttäuschung hervorrufen.

Nach unserer Auffassung geht es jetzt nicht darum, ob das Verhandlungsergebnis hätte besser ausfallen können. Vielmehr steht auf dem Spiel, ob die von den Verträgen zu erwartenden Möglichkeiten zur Entwicklung eines friedlicheren Europas genutzt oder verpaßt werden.

Wir befürchten, daß bei einer Ablehnung der Verträge sich auf lange Zeit hinaus keine günstigere Situation für erfolgreichere Verhandlungen ergeben wird“.

Prof. D. Dr. Joachim Beckmann, Präses i.R., Düsseldorf
Prof. D. Eberhard Bethge DD., Rengsdorf
Prof. D. Martin Fischer, Berlin
Horst Bannach, Generalsekretär der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland, Stuttgart
Dr. Alfred Burgsmüller, Oberkonsistorialrat, Berlin
Dr. Gerhard Heintze, Landesbischof, Wolfenbüttel
Karl Herbert, Oberkirchenrat, Darmstadt
Helmut Hild, Kirchenpräsident, Darmstadt
Lic. Karl Immer, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf
Benjamin Locher, Oberkirchenrat, Düsseldorf
Prof. Dr. Eduard Lohse, Landesbischof, Hannover
Prof. Dr. Jürgen Moltmann, Tübingen
Dr. Dr. Eberhard Müller, Bad Boll
Prof. Dr. Georg Picht, Heidelberg
D. Kurt Scharf, DD, Bischof, Berlin
Prof. Dr. Kurt Sontheimer, Vorstandsmitglied des Präsidiums des Deutschen Evangel. Kirchentages
Eberhard Stammler, Stuttgart
Prof. Dr. Heinz Eduard Tödt, Heidelberg
Dr. Fritz Viering, Landessuperintendent, Detmold
Prof. D. Heinrich Vogel, Berlin Prof.
Dr. Carl-Friedrich Freiherr von Weizsäcker, Percha
D. Ernst Wilm, Präses i.R., Theesen
Dr. Heinz Zahrnt, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Hamburg
Prof. Dr. Klaus Scholder, Tübingen
Prof. D. Dr. Ludwig Raiser, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Tübingen.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk