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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

12. Besuch der Dresdner Synode und die grundlegende Rede von Heino Falcke

Rundbrief 27.7.1972

an die Pfarrer, Pastorinnen und sonstigen Mitarbeiter der Landeskirche

Es geht ein Bericht über eine Rumänienreise voran, der mit folgenden Absätzen endet:

Aber gravierender sind zur Zeit die Probleme, die das Selbstverständnis der Kirchen betreffen. Die Siebenbürger und Banater Deutschen tun sich schwer damit, sich in die sozialistische Gesellschaftsordnung ihres Landes einzufügen, die keine selbständige freie bäuerliche Existenz, wie sie sie früher gewohnt waren, mehr zuläßt und zum Verzicht auf altgewohnte Privilegien nötigt. Es gibt viel Unzufriedenheit, Bitterkeit und Selbstbemitleidung. Viele, namentlich junge Menschen, möchten am liebsten in die BRD auswandern, wobei sie leicht utopischen Vorstellungen über die hiesigen Lebensbedingungen verfallen und unterschätzen, was sie bei Genehmigung der Ausreise zurücklassen würden. Ein besonderes Problem stellt die noch immer erstaunlich enge Verbindung von Volkstum und Kirchlichkeit dar. So hilfreich in – vielen Fällen das Festhalten an Sitte und Tradition sein mag, so reicht die oft gehörte Devise „wir wollen bleiben, was wir immer gewesen sind“ auch dort zur Bewältigung zukünftiger Anforderungen gewiß nicht mehr aus, weder theologisch noch im Blick auf die veränderte Umweltsituation. Wie überall müssen auch in Siebenbürgen die Christen lernen, ihr Kirche-Sein nicht so sehr vom Leitbild der großartigen alten Kirchenburgen, die noch in großer Zahl erhalten und z.T. auch gut wieder hergestellt sind, sondern vom Bild des „wandernden Gottesvolkes“ (1.Mos. 12; Hebr. 12 u. 13) her zu verstehen. Dazu zu helfen und damit zugleich zu einem neuen Zutrauen auf die unwandelbare Kraft der Verheißungen und Weisungen Christi in einer sich verändernden Welt und zur Bewährung ökumenischer Gemeinschaft über die Grenzen der eigenen Kirche hinweg, ist das besondere Anliegen des jetzigen Bischofs der Siebenbürger Kirche, Albert Klein. Die brüderliche, geistlich-seelsorgerliche Art, mit der er sein Amt wahrnimmt, hat mich sehr beeindruckt.

Schließlich ist im Blick sowohl auf die orthodoxe wie auf die evangelische Kirche zu fragen, ob die Beschränkung auf den Gottesdienst und den inneren Gemeindebereich nicht zu einer erheblichen Einengung der eigentlich zum Christsein gehörenden Gesamtverantwortung führen muß. Eine eigene diakonische oder gar gesellschaftsdiakonische Arbeit ist den Kirchen z.B. so gut wie ganz verwehrt. Gewiß ist die tragende und prägende Kraft des regelmäßigen Gottesdienstes erstaunlich. Und wenn man an die Nöte und Verlegenheiten denkt, die uns im eigenen Land in dieser Beziehung zu schaffen machen, könnte man geradezu neidisch werden. Aber der christliche Gehorsam ist nun einmal unteilbar. Kann er auf das Wirksamwerden in freier Liebestätigkeit und auf eine eigenständige kritische Anteilnahme am Geschehen in der Umwelt verzichten? Droht hier nicht die Gefahr der Isolierung und der Introvertiertheit? Um so wichtiger sind in dieser Lage für die Kirchen die Möglichkeiten, so intensiv wie möglich ökumenische Beziehungen wahrzunehmen. Ich hatte den Eindruck, daß aus diesem Grund auch unser Besuch als Bestätigung und Bekräftigung solcher Gemeinschaft dankbar aufgenommen wurde.

2.1. Im Grunde die gleiche Frage stand im Mittelpunkt der Synode des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR, die vom 30.6. bis 4.7. in Dresden stattfand, und zu der ich als offizieller Gast geladen war. Die im Bund vereinigten Kirchen haben immer wieder nachdrücklich unterstrichen, daß sie ihre Aufgabe darin sehen, sich als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft Jesu Christi nicht neben oder gegen, sondern innerhalb der sozialistischen Gesellschaft ihres Landes zu bewähren. Das wurde auch diesmal wieder hervorgehoben. Aber zugleich ging es darum, deutlich zu machen, daß der Inhalt dessen, was als Zeugnis und Dienst von der Kirche gefordert wird, nur aus der Bindung an Jesus Christus als den einen Herrn der Kirche abgeleitet werden darf. In der Stellungnahme der Synode zu dem von der Konferenz der Kirchenleitungen vorgelegten Bericht heißt es im Blick darauf:

„Die Kirchen des Bundes nehmen die Situation bewußt an, daß ihre Gemeindeglieder und Gemeinden in die sozialistische Gesellschaft hineingestellt sind als den Ort, den Gott ihnen für ihr Zeugnis und ihren Dienst zugewiesen hat. Dabei bemühen sie sich, ihren Gemeindegliedern und Gemeinden Mut zu machen, daß sie in dieser Gesellschaft die Aufgaben erfüllen, die zum Gedeihen der Gesellschaft führen können. Die Kirchen des Bundes lassen zugleich deutlich erkennen, daß sie ebenso ungeteilt, wie sie die sozialistische Gesellschaft als den Ort ihres Zeugnisses und Dienstes annehmen, an diesem Ort auch ungeteilt ihres Glaubens leben wollen. Sie wissen, daß sie ihr ganzes Leben ihrem Herrn schuldig sind. Sie wollen auch im Sozialismus Kirche ihres Herrn bleiben“.

2.2. Vor allem ging es dem Hauptreferenten, Dr. Heino Falcke, Rektor des Predigersemiars der EKU in Gnadau,1 darum, in seinem Vortrag „Christus befreit – darum Kirche für andere“ die Begründung und Normierung allen christlichen Wort- und Tatzeugnisses in der durch Christus widerfahrenen Befreiung aufzuweisen. Er setzte ein mit einer zentralen christologischen Grundlegung („Christus befreit zu einem Leben aus empfangener Liebe“. „Christus befreit zur Mündigkeit“. „Christus befreit zum Dasein für andere in der Nachfolge seiner grenzüberschreitenden Liebe, in der Solidarität mit den Leidenden und in der Entwicklung schöpferischer Phantasie der Liebe“).

In einem zweiten Teil beschäftigte er sich mit der Frage, was in den Kirchen selber der durch Christus erfahrenen Befreiung zum Dienst als Hindernis entgegensteht. Aus diesem Zusammenhang einige Sätze:

„Warum wirken wir auf viele noch immer wie eine geschlossene Gesellschaft? Warum gelingt uns trotz des Bemühens um missionarische Existenz die grenzüberschreitende Liebe so schwer? Gewiß – für andere da sein – heißt nicht, wie die anderen sein. Warum aber wird unser Anderssein nicht durchsichtiger als Dasein für andere in solidarischer Liebe? Stecken wir nicht immer noch in einer kirchlichen Sprachgefangenschaft? Warum kommt auch bei neuen Übersetzungsversuchen nicht mehr heraus als verbale Umkostümierung und statt des befreiend klärenden Wortes nur ein Nachsprechen dessen, was die Welt sich selbst schon sagte? Haben wir schon ins Freie gefunden aus ängstlichem Bewachen von Traditionsschätzen und aus ebenso ängstlicher Anschlußsuche an den Zeitgeist? Was jeweils in Kirche und Welt als der letzte Schrei gilt, ist gewiß nicht schon der Ruf in die Freiheit. Aber die Losung „Kein anderes Evangelium“ ist nur dann biblisch, wenn sie das Evangelium für andere verständlich macht und sich frei von Angst auf geschichtliche Wandlungen einläßt. Müßten wir nicht im Hören auf Gottes Wort freiwerden zu einem mündigen Umgang mit der Überlieferung und dem Denken unserer Zeit? ... Sind wir nicht befangen in einer falschen Sorge um unsere Identität als Christen und Kirche besonders da, wo es um Mitarbeit an den Sachaufgaben der heutigen Welt geht? Im Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte können Christen als Minderheit weder Spielführer sein, noch die Spielregeln bestimmen; wir sind Mitspieler unter anderen, Christlicher Dienst wird verwechselbar und seine Intentionen kommen oft nur gebrochen zum Zuge. So entsteht die oft gestellte Frage nach dem spezifisch Christlichen unseres Dienstes. Sie ist notwendig, sofern sie die Gewissensorientierung am Dienst und Auftrag des Herrn einschärft und wachhält. Ist sie aber darauf aus, daß wir uns unsere Identität aus den Werken versichern, dann macht sie uns unfrei, treibt uns in die Abgrenzung und hindert notwendige Kooperationsbereitschaft. Diese Sorge um die eigene Identität ist eine neue Spielart der Selbstrechtfertigung aus den Werken“.

In einem dritten Teil befasst Dr. Falcke sich sodann mit den Konsequenzen der durch Christus geschenkten Freiheit für die gesellschaftliche Verantwortung. Sehr offen wurden hier die Spannungen aufgezeigt, die zwischen dem evangelischen Grundansatz und der marxistischen Ideologie bestehen, etwa in der Einstellung zum Leiden, zur Leistung und zur Freizeit und vor allem in der grundlegenden Schau des Menschen selbst. Es war deutlich, daß gerade diese Passagen bei den anwesenden Staatsvertretern Argwohn und Besorgnisse hervorriefen. Der Referent selber betonte demgegenüber nachdrücklich, daß auch seine kritischen Anfragen nicht als feindselige oder gleichgültige Distanzierung, sondern als Zeichen der Bereitschaft zu einer gleichermaßen positiven wie kritischen Solidarität zu verstehen seien. Auch aus diesem Abschnitt einige Zitate, die mir auch für die Frage nach unserer eigenen Verantwortung in der Gesellschaft, in der wir leben, richtig und hilfreich zu sein scheinen:

„Christus befreit aus der lähmenden Alternative zwischen prinzipieller Antistellung und unkritischem Sich-vereinnahmen-lassen zu konkret unterscheidender Mitarbeit. Das ist gerade nicht eine Ideologie des Sich-heraushaltens oder eines dritten Weges. Es ist der Weg einer aus Glauben mündigen Mitarbeit, die von einer besseren Verheißung getragen ist, als der Sozialismus sie geben kann, die einen verbindlicheren Auftrag kennt, als Menschen ihn erteilen können, und die darum konkret engagiert ist“. „Christus befreit auch von erdrückenden Totalforderungen zu der Weisheit, die unterscheidet, was jeweils zur Zeit und Stunde geboten ist (Pred. 3,1-8), wo ich also zu reden habe und wo ich schweigen darf, wo ich gefordert bin und wo andere dran sind, wo ich mich einsetzen muß und wo ich mich zurückhalten kann. Er befreit auch von der Diktatur ethischer Prinzipien zum verantwortlichen Kompromiß. Könnten wir im Rechnen auf Christus aber nicht auch freiwerden von skeptischen Vorurteilen und neue Chancen mündiger Mitarbeit entdecken: im Gespräch mit Menschen, die wir für hoffnungslos festgelegt hielten; im Eintreten für vernünftige Sachentscheidungen; auch in gesellschaftlichen Organisationen, in denen sich Möglichkeiten eines konkreten, sinnvollen Dienstes auftun können?“ „Vor allem aber müßte die Kirche das Beispiel einer Institution und Gemeinschaft geben, in der mündige Mitverantwortung und offenes freies Gespräch zwischen verschiedenen Meinungen eingeübt und gelebt wird. Bei der Vielheit von Theologien, Frömmigkeitsstilen und Gemeindekonzeptionen tun wir uns schwer damit, freiheitliche Partnerschaft und Respektierung des anderen Gewissens mit der gemeinsamen Verantwortung vor dem Herrn zu verbinden.

Der Weg in eine liberalistische Beliebigkeit des Meinens, Redens und Tuns steht der Kirche ebensowenig offen wie dem Sozialismus. Andererseits werden unsere Satzungen und Satzwahrheiten aber relativiert von dem Herrn, der die Wahrheit ist und in alle Wahrheit leitet. In der Vielheit von Meinungen und Aktivitäten könnten wir unterwegs sein zur Offenbarung der einen Wahrheit. So könnte es in der Kirche eine kritische Öffentlichkeit, eine Stätte des freien Wortes, eine Offenheit für radikale Fragen und angstfreie Lernbereitschaft geben. Das wäre ein eminent wichtiger Beitrag zur mündigen Mitverantwortung in der Gesellschaft“.

Als besonders schön und wichtig empfand ich den Schluß des Referates:

„Ich darf schließen mit einem Hinweis auf das Herrenmahl ... Es ist die Feier der Befreiung, und es wäre gut, wenn das auch in unseren Formen, es zu feiern, deutlicher würde. Im Herrenmahl bündeln sich die Freiheiten, die Christus austeilt. In dieser Tischgemeinschaft nimmt er die versagenden Jünger an. In dieser Tischrunde ist jeder mündig. Zu ihr lädt die grenzüberschreitende Liebe und vereinigt die Getrennten. Sie ist das Mahl des leidenden Herrn, der mit den Bedrängten solidarisch wird, und das Mahl des Auferstandenen, der zu neuem Tun sendet. Sie ist das Mahl des kommenden Herrn und die Vorfeier des Reiches der Freiheit mitten in der Geschichte.“

Der volle Wortlaut des Referates von Dr. Falcke findet sich im epd Grüner Dienst Nr. 30/72, dort übrigens auch die übrige Dokumentation der Synode.

2.3. Im Bericht der Kirchenleitungen wie auch sonst wurden die konkreten Schwierigkeiten, denen in der DDR namentlich der Öffentlichkeitsdienst der Kirche begegnet, offen bezeichnet. Dazu gehört etwa die Auseinandersetzung um die Auslegung der staatlichen Veranstaltungsverordnung im Blick auf die Anmeldepflicht kirchlicher Veranstaltungen. Die grundsätzliche Haltung des Staates hat sich in den letzten Monaten deutlich versteift. Im Bericht hieß es dazu: „Repräsentanten des Staates haben in letzter Zeit in Gesprächen mit Vertretern der Kirchen mitunter gesagt ..., es sei Sache des Staates festzustellen, was keinesfalls Aufgabe der Kirchen sein könne. Innerhalb solcher Grenzen sei genügend Raum für die seelsorgerliche und diakonische Tätigkeit der Kirchen. Offenbar aufgrund dieses Verständnisses werden z.B. durch die Veranstaltungsverordnung Unterschiede zwischen anmeldefreien und anmeldepflichtigen kirchlichen Veranstaltungen gemacht. Die Kirche Jesu Christi kann jedoch nicht von dem Zeugnis lassen, daß Jesus Christus Herr aller Bereiche des Lebens ist. Auch der Glaube des Einzelnen ist ungeteilt. Das muß notwendig seine Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bezüge haben, in die der Einzelne verflochten ist. Sonst würde der christliche Glaube verleugnet. Nur wenn der Christ mit ganzem Herzen Christ sein kann, wird er auch innerlich frei sein für den Dienst, den Staat und Gesellschaft von ihm erwarten dürfen“.

Auch die Schwierigkeiten, die jungen Christen hinsichtlich des Oberschulbesuchs und der Zulassung zum akademischen Studium gemacht werden, dauern an. Ebenso ist es wiederholt auch zu inhaltlichen Beanstandungen von theologischen Veröffentlichungen und von Gemeindeschrifttum gekommen. Die Synode bat die Kirchenleitungen, über diese Fragen Sachgespräche mit den zentralen politischen Stellen fortzusetzen, und deutlich zu machen, was hier kirchlicherseits als ungerechtfertigte Einengung empfunden wird. Andererseits muss man sagen, dass der Raum zur eigenen diakonischen Betätigung für die Kirchen in der DDR vergleichsweise noch sehr viel weiter ist als etwa für die Kirchen in Rumänien.

2.4. Manche Fragen stellen sich drüben ähnlich wie bei uns, etwa das weitere Zusammenwachsen der im Bund zusammengeschlossenen Kirchen zu vertiefter Kirchengemeinschaft, wobei auch dort die Leuenberger Konkordie als wesentlicher fördernder Faktor empfunden wird. Ebenso ist ein Projekt in Vorbereitung, das eine grundlegende sinnvolle Neuordnung der Gliedkirchen des Bundes vorsieht. Man hat den Eindruck, daß im Zusammenwachsen der Landeskirchen wie der konfessionellen Gruppierungen manches weniger mühsam und unbeschwerter von Ressentiments und Emotionen verläuft als bei uns.

2.5. Als besonderen Höhepunkt empfand ich während der Tagung der Synode den sonntäglichen Hauptgottesdienst in der gut gefüllten Dresdener Kreuzkirche. Der neue sächsische Landesbischof Dr. Hempel hielt die Predigt über 1. Könige 19 (die Klage des Elia „Es ist genug, Herr...“ und die ihm widerfahrende Ermutigung, ohne dass seine Situation sich äußerlich gewandelt hätte). Es bewährte sich beinahe handgreiflich, wie in der Situation tiefen Angefochtenseins die biblische Botschaft anzureden vermag, ohne daß es sonderlicher hermeneutischer Kunstgriffe bedürfte. Ebenso wurde die große Abendmahlsfeier, die im Zusammenhang mit dem Gottesdienst gehalten wurde, wirklich zu einem Mahl der Stärkung. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Synode miterleben konnte. Und ich kann Sie nur ermutigen, das Ihnen Mögliche zu tun, Gemeinschaft mit den Christen drüben zu halten oder neu zu knüpfen und sie vor allem nicht aus Ihrem Mitdenken und Ihrer Fürbitte zu entlassen. Wir werden freilich auf jeden Bevormundungsversuch gegenüber den Christen und Kirchen drüben zu verzichten haben. Sie müssen eigenständig und unabhängig den Weg als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft Jesu Christi in ihrem Staat und ihrer Gesellschaftsordnung finden. Sie werden mitunter auch zu Entscheidungen kommen, die wir vielleicht nicht verstehen und uns anders wünschten, und die wir doch zu respektieren haben. Aber die Bewährung christlicher Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg bleibt allen Christen aufgegeben. Und ich habe mitunter den Eindruck, daß es den Gemeinden und Kirchen drüben damit ernster ist, als man es bei uns spürt.

3.1. Zum Abschluß noch ein kurzes Wort zur Frage der Gewalt. Wir sind alle wohl tief betroffen darüber, in welch unheimlicher Weise in weiten Bereichen der Welt die Bereitschaft um sich greift, auf gewalttätige Weise gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zu protestieren. Bei uns haben die Attentate der Baader-Meinhof-Gruppe2 viele aufgeschreckt. Gerade in diesen Tagen ist es dazu zu einer neuen Eskalation der Gewalt in Nordirland gekommen. Für alle Christen sind die Vorgänge dort noch zusätzlich belastend, weil der Kräftegegensatz in den Massenkommunikationsmitteln nach wie vor primär als Gegensatz von Protestanten und Katholiken dargestellt wird, obwohl vor allen Dingen soziale und politische Spannungen zugrunde liegen. Aber man muß leider zugeben, daß alle Versuche der katholischen wie protestantischen Kirchen, zur Versöhnung und einer friedlichen Lösung des Konfliktes beizutragen, bisher nichts gefruchtet haben, obwohl mancherlei in dieser Hinsicht unternommen worden ist, u.a. von der Konferenz Europäischer Kirchen. Wir haben angesichts der Zunahme von Gewalttaten, wo immer sie geschehen, allen Grund, als Christen uns selbst und andere immer wieder daran zu erinnern, daß auf Gewalt kein Segen ruht. Solche Erinnerung wird allerdings nur dann glaubhaft werden können, wenn ihr ein deutliches opferbereites Bemühen zur Seite geht, mit friedlichen Mitteln Unrechtsverhältnisse zu bessern.

3.2. Wir sollten aber auch aufs tiefste erschrecken über das, was zur Zeit in der neuen Eskalation des Vietnamkrieges geschieht. Gewiss spüren wir gerade hier, wie wenig Möglichkeiten zu einem politisch wirksamen Eingreifen uns gegeben sind. Und wer sich über den neu auf die Spitze getriebenen Bombenkrieg der Amerikaner entrüstet, muß jedenfalls mitbedenken, daß er durch den Einmarsch der Nordvietnamesen in Südvietnam neu ausgelöst wurde. Aber die Nachrichten, wie offenbar immer mehr die zivile Bevölkerung in großem Umfang direkt mitgetroffen wird, und wie eine Zerstörung der das Leben eines großen Teils der Bevölkerung von Nordvietnam schützenden Deiche sich als unmittelbare Folge der ausgeweiteten Bombardierungen ergeben kann, dürften auch uns nicht gleichgültig lassen. Sicher sind die amerikanischen Kirchen wie auch der Weltrat der Kirchen eher als wir in der Lage, sich objektiv und eindeutig zu informieren und nachdrücklich ihre Stimme zu erheben. Der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Dr. Eugene Carson Blake, selber amerikanischer Staatsbürger, hat das jetzt in einem beschwörenden Brief an Präsident Nixon getan (vgl. epd Zentralausgabe Nr. 138 vom 20.7.1972). Aber die Vorgänge in Vietnam sollten uns auf alle Fälle betroffen darüber machen, wie schnell auch das christliche Gewissen stumpf werden kann, selbst angesichts des massierten Leidens, das über andere hereinbricht, solange wir selbst nicht unmittelbar Mitleidende sind. Und nicht nur gegenüber revolutionärer Gewalt, sondern ebenso angesichts des Krieges in Vietnam sollte uns neu bewußt werden, daß auch in der Abwehr von Aggressionen nicht jedes Mittel recht sein kann.

3.3. Angesichts der Massierung von Unrecht und Gewalt in aller Welt muß jeder leichtfertige Optimismus, als könnten wir Christen von uns aus eine heile, friedliche, gerechte Welt schaffen, zerbrechen. Wieviel Elend und Unrecht, das andere durchleiden, wird uns nicht einmal bewußt! Und wie oft tragen wir auch bei besten Vorsätzen dennoch praktisch nur dazu bei, Elend und Unrecht zu stabilisieren statt es zu ändern! Dennoch dürfen wir uns um der großen Zusage der Befreiung durch Jesus Christus willen auf keinen Fall der Resignation und dem Gefühl „man kann ja doch nichts machen“ überlassen. Was die Synode in Dresden mitten in ihren Bedrängnissen und Einengungen als neuen Aufruf und neue Ermutigung empfand – „Christus befreit dazu, Kirche für andere zu werden“ – bleibt auch uns zugesagt und aufgegeben. Und so gering die äußeren Wirkungsmöglichkeiten auch sein mögen: wir brauchen darin nicht müde zu werden.

Mit herzlichen Grüßen, besonders allen, die den Urlaub jetzt vor sich haben, Ihr Heintze

Quelle: Landeskirchliches Archiv LBf 14 und Acc. 102/07, Rundbriefe


Anmerkungen

1 Heino Falcke (geb 1929, stammt aus Pommern, Promotion und Habilitation an der Universität Rostock, 1963-1973 Direktor des Predigerseminars in Gnadau, 1973-1994 Propst von Erfurt, trug bei der Weltkirchenkonferenz in Vancouver den Antrag auf ein Friedenskonzil ein, 1997 Erstunterzeichner der Erfurter Erklärung, 2008 Mitunterzeichner der Denkschrift „Friede mit dem Kapital?”
2 Im Sommer 1972 waren die führenden Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhoff und Holger Meins verhafet und in das schwer gesicherte Gefängnis Stuttgart-Stammheim verbracht worden.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk