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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

14. Israel-Brief

Rundbrief 9.10.1973

An Pfarrer, Pastorinnen und sonstigen Mitarbeiter der Landeskirche Liebe Brüder! Liebe Schwestern!

Als 1967 der Sechs-Tagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten ausbrach, wurden bei uns und in anderen Kirchen vielerorts spontan besondere Fürbittgottesdienste gehalten. Ich selber habe mich damals mit einer entsprechenden Bitte an alle Pfarrämter gewandt. Nach den ersten Nachrichten, die von dem jetzt am israelischen Versöhnungstag offenbar von der arabischen Seite ausgelösten neuen Krieg im Nahen Osten kommen, ist die Situation kaum weniger ernst als vor sechs Jahren.1 Die Verluste sind auf beiden Seiten schwer. Eine so schnelle und eindeutige militärische Entscheidung wie im Sechs-Tagekrieg scheint keineswegs sicher. Und selbst wenn am Ende wieder wie damals ein eindeutiger israelischer militärischer Erfolg stehen sollte, bleibt es offen, wie es in dieser Zone jemals zu einem Frieden wirklicher Verständigung und Versöhnung kommen kann. Und wenn es umgekehrt ausgehen sollte, wäre das Ausmaß des Schreckens, der dann über Israel kommen würde, gar nicht abzusehen.

Es wäre sicher nicht weniger als 1967 nötig, daß der neue Kriegsausbruch uns selber und unsere Gemeinden zu intensiver Anteilnahme und Fürbitte veranlaßte. Und ich möchte Sie herzlich und dringend bitten, das zu Ihrem eigenen Anliegen zu machen.

Ich weiß sehr wohl, daß das in vieler Beziehung schwieriger geworden ist als vor sechs Jahren. Soviel Entsetzliches ist seitdem auch in anderen Teilen der Welt geschehen. Die Eskalation der Gewalt schreitet immer ungehemmter fort, trotz aller Friedensparolen und -konferenzen, und die Schwäche der Vereinten Nationen ist auch jetzt wieder deutlich offenbar. Erschreckend und beunruhigend sind abgesehen von der Lage im Nahen Osten zur Zeit besonders die Nachrichten über die grausamen Repressalien nach dem Umsturz in Chile.2 Die beinahe alltäglich gewordenen Meldungen über neue Gewalt- und Terrorakte aus den verschiedenen Teilen der Welt haben bei vielen zur innerlichen Abstumpfung geführt, oder sie in die Resignation getrieben.

Dazu ist es schwieriger geworden, im Nahostkonflikt zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Auch Israels Maßnahmen in diesem Konflikt haben in den zurückliegenden Jahren keineswegs immer den Eindruck erweckt, nur der Gerechtigkeit und der Versöhnung zu dienen. Die Vergeltungsaktionen wirkten oft übertrieben hart und haben dem Ansehen Israels nicht nur in kommunistischen Ländern geschadet.

Vor allem wird die Bereitschaft, an fremden Leiden Anteil zu nehmen, nur allzu leicht eng und parteiisch. Wir reagieren in der Regel nur dann mit eigenem Erschrecken und der Bereitschaft zu Mitleid, wenn wir uns denen, über die Leid und Unglück hereinbricht, innerlich unmittelbar verbunden fühlen, und sie die gleichen Interessen und Überzeugungen vertreten wie wir selber. Wenn andere leiden müssen, zu denen wir keine direkten Beziehungen haben, oder zu denen wir uns sogar im Gegensatz befinden, bleiben wir gleichgültig oder geraten am Ende gar in Schadenfreude hinein. So ist auch im Blick auf den neuen Nahostkrieg mit gegensätzlichen Reaktionen zu rechnen.

Aber gerade weil in dem neu ausgebrochenen Krieg die Situation so verworren ist und die Gegensätze in der Beurteilung auch unter uns groß sind, ist es doppelt wichtig, uns daran zu erinnern, wes Geistes Kinder zu sein (Luk. 9,55) wir in der Nachfolge Jesu berufen sind und unvoreingenommen am Schicksal aller Anteil zu nehmen und in der Fürbitte für sie einzutreten, über die jetzt erneut im Nahen Osten oder in Chile oder sonstwo Schrecken und Angst gekommen sind.

Speziell im Blick auf Israel dürfen wir als Deutsche dabei auf keinen Fall vergessen, wie alles, was heute im Nahen Osten geschieht, noch immer im unmittelbaren Zusammenhang mit dem steht, was vor 30 und 40 Jahren von unserem Volk den Juden angetan wurde. Ganz einerlei wie Recht und Unrecht heute im Nahostkonflikt zu verteilen sind, wäre die ganze heutige Entwicklung ohne die damaligen Verbrechen und ihre stillschweigende Duldung undenkbar. Und die Sorge der Israelis, ihnen könnte erneut ein ähnliches Schicksal bereitet werden, ist von den damaligen Erfahrungen her nur allzu begreiflich. Wenn auch nur noch die Älteren in unserem Volk sich an die dunkle Zeit von damals selber erinnern können, so wäre doch dringend zu wünschen, daß auch bei den nachwachsenden Generationen lebendig bliebe, was der Altbundespräsident Theodor Heuss einmal die „Kollektivscham“ genannt hat, die unserem Volk auch im Fortgang der Geschichte nicht verloren gehen dürfe. Sie verbietet uns auf alle Fälle jedes anmaßende selbstgerechte Richten gerade gegenüber Israel. Und wenn auch der moderne Staat Israel nicht einfach mit dem biblischen Zeugnis über das Volk Israel gleichgesetzt werden darf, so bleibt andererseits doch der Zusammenhang zwischen beiden bestehen. Vor allem aber darf die Jahrhunderte lange Schuld der ganzen Christenheit gegenüber den Juden bei uns und in unseren Gemeinden nicht in Vergessenheit geraten.

Gewiß machen die jüngsten Ereignisse auch deutlich, wie begrenzt unsere eigenen Möglichkeiten sind, wirksam für Frieden und für mehr Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt einzutreten. Vielleicht wurde das manchmal in Hilfeleistungsappellen, die an uns gerichtet wurden, oder die wir selber an andere richteten, zu wenig bedacht. Um so mehr aber kommt es darauf an, das Mögliche und uns gerade als Christen Aufgetragene wirklich zu beherzigen. Dazu gehört auch, dass wir uns um vielseitige sachliche Information bemühen und auf der Hut bleiben vor Ideologisierungen jeder Art, wie vor selbstgerechten pauschalisierenden Verdammungsurteilen. Dazu gehört aber insbesondere der Dienst der anhaltenden Fürbitte, die ja die Bereitschaft zum intensiven Mitdenken und Mitleiden zur Voraussetzung hat.

Vermutlich werden nur wenige von Ihnen die Möglichkeit haben, jetzt zu besonderen Fürbittgottesdiensten einzuladen. Wo es der Fall ist, würde damit gewiß ein wichtiger stellvertretender Dienst geleistet. Auf alle Fälle ist es aber nötig, daß wir in den Gottesdiensten des nächsten Sonntags konkret auf die neuen Katastrophen Bezug nehmen und konkrete Fürbitte tun. Das für den nächsten Sonntag eigentlich als Predigttext vorgesehene Evangelium (Luk, 14,1-6) ist, wenn man in der Predigt direkt darauf eingehen möchte, dafür nicht sonderlich geeignet. Wohl aber könnten sich von dem gleichfalls angebotenen Evangelientext (Matth.15, 21-28) her gerade im Blick auf unser Verhältnis zu Israel manche bedenkenswerte Beziehungen ergeben, nicht nur der bei diesem Text gewöhnlich (und zu Recht) in den Vordergrund gestellte Aspekt des angefochtenen Glaubens und der Verborgenheit des Helfers, sondern auch ein neues Ernstnehmen der in Vers 24 ausgesprochenen Selbstbindung Jesu an das alte Bundesvolk, obwohl es ihm den Rücken kehrt. Aber abgesehen von dem, was wir in öffentlichen Gemeindegottesdienst zu tun haben, werden wir sicher durch das, was sich zur Zeit im Nahen Osten und sonst in der Welt begibt, ganz neu danach gefragt, welchen Stellenwert die Fürbitte in unserem persönlichen Leben hat. ....

Ich möchte auf weitere Themen jetzt nicht näher eingehen. Daß unser bisheriger Personaldezernent, Oberlandeskirchenrat Brinckmeier, zum 1.11. d.J. in den Ruhestand tritt, werden viele von Ihnen mit mir als schmerzlich empfinden.3 Ich habe ihn in seiner sachlichen, zurückhaltenden und zugleich doch für jedermann offenen Art in den Jahren der Zusammenarbeit mit ihm sehr schätzen gelernt und bin ihm herzlich dankbar für viel Hilfe, die ich in meinem eigenen Amt von ihm erfahren habe. Ich möchte Sie aber auch um Ihr Vertrauen und Ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem von der Synode am 5.10. neugewählten Oberlandeskirchenrat Wandersleb bitten. Seine Einführung ist für Donnerstag, 1.11. 20 Uhr im Dom zu Braunschweig vorgesehen. Nähere Mitteilung darüber ergeht noch gesondert an die Pfarrämter.

Bewegen wird alle, die ihn gekannt haben, auch der Heimgang des früheren leitenden Juristen unserer Landeskirche, Oberlandeskirchenrat i.R. Dr. Reinhold Breust, der nach längerem Leiden im Alter von 80 Jahren am 6.10. verstarb.4 In seiner vierzigjährigen Dienstzeit in Kirchenregierung und Landeskirche hat er mit großer Sachkenntnis und unermüdlichem Eifer für Recht und Gerechtigkeit den Weg unserer Landeskirche erheblich mitgestaltet. Wir haben in unserer Kirche viel Grund, ihm ein dankbares Andenken zu bewahren.

Von den Beschlüssen der Landessynode am 5./6.10. ist außer der Wahl des neuen Oberlandeskirchenrats Wandersleb die Zustimmung zur endgültigen Fassung der Leuenberger Konkordie und die Verabschiedung eines neuen Pfarrverwaltergesetzes besonders wichtig. Hinsichtlich der Leuenberger Konkordie erinnere ich an mein Rundschreiben vom 23.2.1973, in dem ich mich besonders an die Minderheit wandte, die starke Gewissensbedenken gegen die Konkordie geltend gemacht hat. Zwei mir besonders wichtige Sätze aus diesem Rundschreiben habe ich vor der Synode auch jetzt noch einmal wiederholt; „Zum Gewähren von Gemeinschaft kann und darf niemand genötigt werden. Gewissen dürfen nicht überfahren werden. Mehr als bitten und einladen und sich selbst zum Üben von Gemeinschaft bereithalten kann man nicht. Die Minderheit, die der Konkordie ihre Zustimmung versagt, braucht also nicht zu befürchten, mit irgendwelchen Druckmitteln zur persönlichen Beteiligung am Praktizieren der Konkordie genötigt zu worden.“ Aber auch: „Wo sich Möglichkeiten öffnen, über früher für unüberbrückbar gehaltene Gegensätze hinweg zu wirklicher Gemeinschaft zu kommen, würde es ganz gewiß zur schweren Schuld, davon keinen Gebrauch zu machen und möglich gewordene Gemeinschaft nicht zu praktizieren.“

Einem Vertreter der Minderheit wurde übrigens von der Synode gestattet, die Bedenken mündlich im Plenum der Synode vorzutragen. Der Annahmebeschluss wurde dennoch mit nur zwei Gegenstimmen bei zwei Stimmenthaltungen gefasst. Auf Beschluss der Synode soll aber mit der Bekanntgabe des offiziellen Inkrafttretens der Konkordie ein erläuterndes Wort der Kirchenregierung an die Pfarrer und Gemeinden verbunden werden.

Das Pfarrverwaltergesetz eröffnet neue Möglichkeiten, auch abseits des üblichen akademischen Ausbildungsweges geeignete Männer und Frauen für den pfarramtlichen Dienst zu gewinnen. Das ist sicher eine Bereicherung, für die man dankbar sein darf, und die sich hoffentlich auch als hilfreich erweist. Trotzdem sollte das volle akademische Theologiestudium und die nach den ersten Examen folgende übliche Ausbildungszeit der Vikare der normale Regelfall bleiben.

Mit herzlichen Grüßen und Segenswünschen

Ihr Heintze

Quelle: LAW LBf 15 und Nachlass Landesbischof Heintze

- Acc. 102/07, Rundbriefe


Anmerkungen

1 Am 6.10.1973, dem jüdischen Versöhnungstag (jom kippur), fielen syrisch-ägyptischen Truppen in Israel ein. Der Krieg endete ohne Gebietsverluste für Israel.
2 Am 11. September 1973 stürzte der US Geheimdienst mit Hilfe des chilenische Militärs die demokratische, sozialistische Regierung Allende in Chile. Es begann die Militärdiktatur Pinochet.
3 Rudolf Brinckmeier (1906 – 1986), seit 1951 Direktor des Predigerseminars, war 1963 zum Oberlandeskirchenrat gewählt worden und seit 1969 Stellvertreter des Landesbischofs und Personalreferent. Er war Mitglied der Bekennenden Kirche und eine der wenigen theologisch kompetenten Gesprächspartner des Bischofs.
4 Reinhold Breust (1893 – 1973) war seit 1923 im Landeskirchenamt tätig, dort 1934 beurlaubt, kämpfte sich mit Hilfe der Nationalsozialisten als Mitglied der Partei und der Deutschen Christen seit 1938 in die Behörde zurück und konnte nach 1945 seine Rolle verschleiern. Die Beschreibung Heintzes entspricht seelsorgerlicher Rücksicht, ist aber historisch gesehen ein Fehlurteil.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk