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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

17. Ökumenebrief

Rundbrief 24.11.1975

An die Pfarrer und sonstigen Mitarbeiter der Landeskirche

Liebe Schwestern! Liebe Brüder!

1. Zunächst möchte ich Sie heute daran erinnern, dass in diesen Tagen in Nairobi/Ostafrika die V. Vollversammlung des Weltrates der Kirchen beginnt. Sie dauert vom 23.11. bis 10.12.1975. Sie steht unter dem Gesamtthema: „Jesus Christus befreit und eint“. Aus unserer Region nimmt als vom Rat der EKD berufener Delegierter Herr Jugenddorfleiter Görlich, Salzgitter-Lebenstedt, an der Tagung teil. Ich danke herzlich all denen, die in den vergangenen Monaten auch in unserer Landeskirche sich näher mit der Thematik von Nairobi und dem dazu erschienenen Vorbereitungsmaterial befasst haben. An manchen Stellen ist das durchaus der Fall gewesen, sowohl in Gemeinden wie in übergemeindlichen Gruppen. Das entsprach auch einer vom Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, Philip Potter, dringend geäußerten Bitte. Im ganzen wird man allerdings feststellen müssen, dass weder in unserer Landeskirche noch in anderen Gliedkirchen der EKD die Konferenz von Nairobi zu einer Anteilnahme der Gemeinden in größerer Breite geführt hat. Überhaupt ist der Informationsstand über Entwicklungen in der Ökumene in den meisten Gemeinden bedauerlich gering.

Wo man sich näher mit der bevorstehenden Weltkirchenkonferenz und der Entwicklung der ökumenischen Bewegung von der vorangegangenen Konferenz in Uppsala 1968 bis Nairobi 1975 beschäftigt hat, ist in unseren Kirchen die Kritik verbreitet. Befürchtungen wurden oft geäußert, dass die Genfer Zentrale das ganze Schwergewicht ihrer Arbeit zunehmend auf den gesellschaftspolitischen Bereich verlegt habe, unter Missachtung der eigentlichen theologischen Aufgaben, und dass sie dazu höchst einseitig und parteiisch im Sinn marxistischer Ideologie verfahre. Namentlich wurde immer wieder am Antirassismusprogramm des Weltrates der Kirchen und der mit ihm im engen Zusammenhang stehenden Einrichtung eines Sonderfonds zur Unterstützung humanitärer Projekte von Organisationen, die sich dem Kampf gegen den Rassismus verschrieben haben, Kritik geübt. Die Befürchtung wurde und wird geäußert, die bewilligten Mittel könnten zur Unterstützung von Gewalt und Terror mißbraucht werden, und überhaupt werde zu wenig zwischen dem Angebot der Freiheit, wie sie im Evangelium von Jesus Christus verkündigt wird, und den Zielen und Maßnahmen politischer Befreiungsbewegungen differenziert.

Wie immer es auch um die innere Berechtigung solcher Kritik bestellt sein mag, so ist sicher eine offene kritische Auseinandersetzung besser als die verbreitete lähmende Gleichgültigkeit allen ökumenischen Problemen gegenüber und als der enge Provinzialismus, wie er für die Bewußtseinslage vieler Gemeinden leider noch immer typisch ist. Es ist auch durchaus zu wünschen, dass in Nairobi kritische Fragen offen gestellt werden und Gehör finden. Wohl aber kommt es sehr darauf an, dass die Kritik nicht auf unbegründeten ungerechten Vorurteilen beruht, sondern eine möglichst umfassende sorgfältige Information zur Voraussetzung hat. Vieles was heute über den Weltrat der Kirchen und die Vorbereitung von Nairobi kritisch behauptet wird, ist aus Gründen unzureichender Information schlicht ungerecht. Namentlich ist für uns alle die Gefahr groß, dass wir die Weise unserer theologischen Erkenntnis und unserer eigenen kirchlichen Gewohnheiten zu unbefangen mit dem Evangelium selbst gleichsetzen und zu wenig mit der Möglichkeit rechnen, dass christlicher Glaube und christliches Leben sich auch in ganz anderen, uns fremdartigen Formen äußern können, ohne dass damit das gemeinsame Fundament von 1. Kor. 3,111 schon preisgegeben wäre. Das gilt besonders im Blick auf die Entwicklung der jungen Kirchen der sogenannten „Dritten Welt“, deren Rolle in der ökumenischen Bewegung immer bedeutungsvoller wird.

Deshalb ist es meine Bitte an Sie alle: Nutzen Sie alle Möglichkeiten guter, sachlicher Information über den Verlauf der Konferenz von Nairobi nach Kräften aus. Helfen Sie mit, dass auch Ihre Gemeinden und übergemeindliche Gruppen Anteil an dem Geschehen in Nairobi nehmen und sich auch an der Nacharbeit beteiligen können. Dem soll u.a. ein besonderer „Nairobi-Sonntag“ dienen, der in unserer wie in anderen Landeskirchen am 7. März 1976 veranstaltet werden soll. Näheres Material wird den Pfarrämtern dazu noch zugehen.

Vor allem bedarf die Vollversammlung in Nairobi dringend der Fürbitte aller Kirchen, damit das Thema der Konferenz mit seiner großen Verheißung wirklich alles Tagungsgeschehen bestimme und die klare Leitlinie für alle Beratungen und Entscheidungen bilde: „Jesus Christus befreit und eint“. Deshalb bitte ich Sie, diese Fürbitte ausdrücklich in das allgemeine Kirchengebet im Hauptgottesdienst des 1. Advent, 30.11.1975, aufzunehmen und auch in der Predigt dieses Tages darauf einzugehen.

2. Noch etwas Weiteres liegt mir am Herzen. Wie in jedem Jahr beginnt auch in diesem Jahr am 1. Advent eine neue Aktion „Brot für die Welt“. Ich möchte Sie bitten, sich diese Aktion wie andere Aufrufe zu freiwilligen Spenden für missionarische und diakonische Aufgaben ganz besonders angelegen sein zu lassen. Es könnte befürchtet werden, dass die größeren finanziellen Sorgen, die wir zur Zeit natürlich auch im Blick auf die künftige Gestaltung kirchlicher Haushaltspläne haben, leicht zu einem Rückgang der Spendenbereitschaft führen könnten. Im ablaufenden Jahr ist das erfreulicherweise nicht der Fall gewesen. Aber auch im nächsten Jahr darf das nicht geschehen. Im Augenblick sieht es so aus, als werde im kommenden Jahr das kirchliche Lohn- und Gehaltsgefüge ohne allzu große Veränderungen erhalten bleiben. In der Diskussion des landeskirchlichen Haushaltes ist zur Zeit im wesentlichen nur eine befristete Hinausschiebung der auch für das nächste Jahr als Inflationsausgleich zu erwartenden linearen Erhöhungen. Die Entscheidung darüber muß natürlich die Synode treffen. Ich meine aber, dass gerade jetzt deutlich werden muß, dass in der Kirche die gestellten Aufgaben – insbesondere diejenigen missionarischer und diakonischer Art – den unbedingten Vorrang vor der finanziellen Selbstabsicherung haben. Ich halte es für ein schlimmes Zeichen, wenn auch aus kirchlichen Standesvertretungen gelegentlich die Ansicht zu hören ist, vor einer eventuellen Änderung des kirchlichen Lohn- und Gehaltsystems müßten zunächst bei allen Sachausgaben Kürzungen vorgenommen werden. Allerdings sind bislang solche Stimmen mehr von außerhalb unserer Landeskirche zu hören als aus unserer Kirche selbst. Wir müssen uns klar darüber sein, dass es bei den uns heute bewegenden finanziellen Erwägungen im Grunde um unsere innere Glaubwürdigkeit als Kirche wie als einzelne Christen geht. Gerade jetzt bleibt Jesu Mahnung wie Verheißung in Kraft: „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten“ (Luk. 9,24).

Wir sollten bei allen finanziellen Überlegungen auch keinesfalls vergessen, wie fast alle anderen Kirchen der Ökumene – nicht nur im Osten, sondern auch im Westen – mit sehr viel geringeren Mitteln auskommen müssen, vor allem in der Zahlung von Löhnen und Gehältern, als sie uns bis heute zur Verfügung stehen. Wir haben unter dem Gesichtspunkt des ökumenischen Vergleichs keinerlei Anlaß, über eigene wirtschaftliche Sorgen Klage zu führen. Wir sollten vielmehr prüfen, ob wir in der Zeit wirtschaftlicher Prosperität persönlich wie als Kirche einen solchen Gebrauch von den uns zur Verfügung stehenden Mitteln gemacht haben, mit dem wir nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern vor allem vor Jesus Christus als unserem Herrn und Richter bestehen können.

Ich bin dankbar, dass einzelne kirchliche Amtsträger ihre Bereitschaft zu einem freiwilligen Verzicht auf rechtlich ihnen zustehende Leistungen erklärt haben, um dadurch zeichenhaft mitzuhelfen, die wesentlichen kirchlichen Sachausgaben auch in Zukunft ungekürzt leisten zu können. Aber auch wo es nicht zu solchen Erklärungen kommt, sind wir alle noch mehr als in früheren Jahren zu einem freiwilligen Engagement aufgerufen, um mitzuhelfen, fremde Not zu lindern. Daher meine Bitte, der neuen Aktion „Brot für die Welt“ in diesem Jahr besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und sich hier auch persönlich einzusetzen.

3. Weil Weihnachten kurz vor der Tür steht, darf ich schließlich auf einige wichtige Neuerscheinungen aufmerksam machen, die mich in letzter Zeit besonders beschäftigt haben oder auf deren Lektüre ich mich selber rüste. Vielleicht kommen sie auch als Weihnachtsgeschenke oder als nachweihnachtliche Lektüre für Sie infrage:

Über den „Evangelischen Erwachsenenkatechismus“ (Verlag Gerd Mohn, Gütersloh) brauche ich nicht viele Worte zu verlieren. Er hat sich in erstaunlicher Weise als wichtiges ökumenisches Arbeitsbuch durchgesetzt und verdient auch weiterhin Ihrer aller Beachtung.

Im höchsten Grade aufregend ist die Studie von Erhard Eppler, Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1975. Im Vorwort heißt es:

„Dieses Buch will in Lücken treten, auch wenn es sie nicht füllen kann. Es sind die erschreckenden Lücken
   zwischen dem alltäglichen Geschäft des Politikers und den Analysen, Prognosen und Forderungen der Wissenschaft;
   zwischen sträflich leichtsinnigem Optimismus und lähmendem oder gar selbstgefälligem Pessimismus;
   zwischen verzweifeltem Zynismus und sittlichem Protest;
   zwischen prinzipiellem Pragmatismus und abstrakter Systemdiskussion;
   zwischen Revolution und Resignation;
   zwischen einem Denken, das nur die nächste Landtagswahl und einem, das erst die achtziger – oder neunziger Jahre im Auge hat;
   zwischen dem Notwendigen und dem Machbaren ...

Es ist kein geringes Unterfangen, in solche Lücken zu treten und zu fragen, was vom offenkundig Notwendigen machbar gemacht werden muß. Dass damit mehr als ein Wagnis verbunden ist, weiß der Autor sehr wohl. Aber wenn wir menschenwürdig überleben wollen, werden wir noch ganz anderes wagen müssen“. Ich meine, wir dürften uns dem, was hier tief beunruhigend und zugleich doch letzten Endes positiv-konstruktiv gesagt wird, nicht entziehen.

Sodann halte ich in der Diskussion über die Zukunft der Volkskirche, wie sie u.a. die letzte Tagung der Synode der EKD beschäftigte, das neue Buch von Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, Chr. Kaiser, München 1975, für sehr wichtig und hilfreich. Wesentlich scheint mir namentlich zu sein, wie hier allem ängstlichen oder trotzigen Beharren gegenüber der eschatologische Aspekt geltend gemacht wird: „Wenn die Zukunftsaussichten der Kirche dunkel werden, wenn ihr Verhältnis zu Israel, zu den Weltreligionen und zur staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Politik der Gesellschaft umstritten ist, wird sie sich nicht weniger radikal auf jene Zukunft entwerfen, die ihr gewiß ist, weil sie die Zukunft Christi ist, der sie ins Leben gerufen hat: das Reich Gottes. ... Aus ihrem Grund in Christus und für die Zukunft des Reiches Gottes ist die Kirche, was sie in Wahrheit ist und tun kann, in der Gegenwart und der Kraft des Heiligen Geistes. Der Geist erneuert sie in der Christusgemeinschaft. Der Geist erfüllt sie mit den Kräften der neuen Schöpfung, ihrer Freiheit und ihres Friedens.“

Und schließlich freue ich mich auf die große neue Barth-Biographie von Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, Chr. Kaiser, München 1975. In einem seiner letzten Briefe, die Barth kurz vor seinem Tod schrieb, heißt es: „Im Rückblick habe ich mich über niemand und nichts ernstlich zu beklagen: Es wäre denn mein eigenes Versagen heute, gestern, vorgestern und vorvorgestern – ich meine mein Versagen in der rechten Dankbarkeit ... Was bleibt mir schon übrig, als mir im Blick auf den gestrigen Tag und alle, die ihm vorangingen, und wieder im Blick auf die, die ihm noch folgen mögen, und schließlich auf jenen sicher kommenden letzten Tag unablässig vorzuhalten und einzuprägen: „Vergiß nicht, was ER dir Gutes getan hat!“.

Und in einem nach seinem Tod aufgefundenem Konzept lautet der letzte Satz: „Es wird im Licht der Gnade Alles sehr hell werden und sein, was jetzt dunkel ist“.

Zur bevorstehenden Advents- und Weihnachtszeit grüße ich Sie alle herzlich mit dem Lied Dieter Trautweins:

   Weil Gott in tiefster Nacht erschienen,
   kann unsre Nacht nicht traurig sein.
   Der immer schon uns nahe war,
   stellt sich als Mensch den Menschen dar.
   Bist du der eignen Rätsel müd?
   Es kommt, der alles kennt und sieht.
   Er sieht dein Leben unverhüllt,
   zeigt dir zugleich dein neues Bild.
   Nimm an des Christus Freundlichkeit,
   trag seinen Frieden in die Zeit.
   Schreckt dich der Menschen Widerstand,
   bleib ihnen dennoch zugewandt!
   Weil Gott in tiefster Nacht erschienen,
   kann unsre Nacht nicht endlos sein.

Ihr Heintze

Quelle: LAW LBf 15 und Nachlass Landesbischof Heintze = Acc. 102/07


Anmerkung

1. Kor.3,11 „Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, Jesus Christus.“


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk