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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

18. Über den Terrorismus

Rundbrief 20.09.1977

An Pfarrer und sonstigen Mitarbeiter der Landeskirche

Liebe Schwestern! Liebe Brüder!

Vor vierzehn Tagen haben wir meinen lieben, verehrten Amtsvorgänger, Landesbischof i.R. D. Martin Erdmann zur letzten Ruhe geleitet. Viele von Ihnen waren bei der Trauerfeier im Dom zu Braunschweig oder auch bei der Beisetzung auf dem Friedhof in Wolfenbüttel zugegen. Namentlich die Älteren unter Ihnen haben ihn persönlich gekannt und wissen aus eigenem Erleben, wieviel sie selber und unsere Kirche im ganzen ihm verdanken. Ich habe den Entschlafenen erst kurz vor meiner Wahl zu seinem Nachfolger im Bischofsamt unserer Landeskirche kennengelernt. Aber durch seine vornehme, feinfühlige Zurückhaltung wie seine herzliche, brüderliche Anteilnahme hat er mir das Einleben in mein Amt in einer Weise erleichtert, wie ich es mir schöner nicht denken kann. Das Vertrauensverhältnis zwischen uns wurde von Jahr zu Jahr intensiver, obwohl wir gewiß in vielen Dingen recht verschieden voneinander waren. Obwohl er sich in den Jahren seines Ruhestandes nur relativ selten in der Öffentlichkeit sehen ließ, ist er in der Stille für viele ein guter Ratgeber und Seelsorger geblieben und hat mit seinen Gedanken und vor allem mit seiner Fürbitte uns, die wir im aktiven Dienst stehen, getreu begleitet. Möge sein Gedächtnis unter uns gesegnet bleiben! Als Textwort für die Trauerfeier hatte er selber das Pauluswort Philipper 1,21 bestimmt: „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“. Auch das Losungswort seines Todestages (1.9.) hätte gut als Überschrift über sein Leben und Sterben gepaßt: „Ich rufe zu Gott, dem Allerhöchsten, zu Gott, der meine Sache zum guten Ende führt“ (Psalm 57,3).

Während ich diesen Brief schreibe, ist das furchtbare Geiseldrama der Entführung Hans Martin Schleyers und der brutalen Ermordung seiner vier Begleiter noch immer nicht zu Ende gegangen.1

Es bedarf eigentlich keiner besonderen Versicherung, daß Terrorakte dieser Art auf keine Weise zu rechtfertigen sind und vor allem im krassen Widerspruch zu der Grundaussage des 5. Gebots stehen „Du sollst nicht töten“. Mord bleibt Mord, einerlei ob die Betroffenen hohe gesellschaftliche Positionen einnehmen oder sonst unbekannte Mitglieder der Gesellschaft sind. Ganz gewiß können sich die Entführer auch nicht darauf berufen, durch derartige Akte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu fördern, wie sie es vielleicht behaupten. Sie wecken im Gegenteil in der Gesellschaft nur Angst und blinden Haß und untergraben selber, was in der freiheitlichen Rechtsordnung unseres Staates an legitimen Möglichkeiten der Veränderung und Verbesserung angelegt ist. Ebenso sollte es auch ohne ausdrückliche kirchenamtliche Aufforderung selbstverständlich sein, daß die durch die Entführung Betroffenen in besonderer Weise in unsere Fürbitte hineingehören. Während meines Urlaubs habe ich das in eindrucksvoller Weise am ersten Sonntag nach der Entführung in einer Gemeinde im Schwarzwald erlebt und hoffe, daß Ähnliches auch spontan in vielen Gemeinden unserer Landeskirche geschehen ist. Dabei gehören in unsere Fürbitte nicht nur die unmittelbaren Opfer von Terrorakten und ihre Angehörigen hinein, sondern auch die verantwortlichen Politiker, die in solcher Situation so unerhört schwere Entscheidungen zu treffen haben. Sie verdienen unseren größten Respekt, daß sie sich die Entscheidung nicht leicht machen, sondern bis zum letzten bemüht sind, Wege zu finden, um das gefährdete Leben, zu retten und dennoch dem Terror für die Zukunft nicht freie Bahn zu lassen.

Für Christen reicht allerdings die entschlossene Distanzierung von Terror jeder Art nicht aus. Es bleibt ein schwerwiegendes Problem, wie es überhaupt zu dieser Entwicklung hat kommen können, und weshalb so viele junge Menschen – oft gerade aus wohlsituierten bürgerlichen Verhältnissen – trotz aller ihnen gebotenen freiheitlichen Möglichkeiten in eine abgrundtiefe Skepsis unserer gesamten Gesellschaftsordnung gegenüber hineingeraten sind und aus ihr heraus dann schließlich zu Sympathisanten oder gar Mittätern bei solchen Terrorakten wurden. Der krasse faktische Materialismus, wie er unsere Wohlstandsgesellschaft weithin bestimmt, genügt offenbar nicht, um kritisch fragenden Menschen wirklich lohnende Lebensziele zu vermitteln. Wir werden uns als Ältere selber prüfen müssen, was wir gegenüber der nachwachsenden Generation in dieser Hinsicht versäumt haben. Ebenso gilt es die große Gefahr zu erkennen, daß durch Terrorakte dieser Art die Neigung zu ungerechten Pauschalurteilen und Verdächtigungen ungemein bestärkt wird. Auch berechtigte Kritik an Mißständen in der eigenen Gesellschaft und legitime Versuche, ihnen abzuhelfen, geraten in dem hektischen Abwehrklima, daß der Terrorismus erzeugt, nur allzuleicht unter den ungerechten Vorwurf des Sympathisantentums und kommunistischer Agitation. Es ist deshalb in dieser Situation doppelt wichtig, auf alle Weise für eine sachliche Information und für sorgfältige Differenzierung bei der Abgabe von Urteilen einzutreten. Erst recht macht mich besorgt, daß über der notwendigen Abwehr terroristischer Gewalttaten im eigenen Land übersehen wird, wieviele Unrechtstaten fortgesetzt auch in anderen Teilen der Welt geschehen, und wie oft die im Besitz von Macht und wirtschaftlichem Einfluß Befindlichen ihre Macht mißbrauchen, um den eigenen Profit zu sichern und Unrechtsverhältnisse zu stabilisieren. Es wäre schlimm, wenn über der jüngsten Entwicklung im eigenen Land der Wille erlahmen würde, mit den uns gegebenen Mitteln wirklich Bedrängten und Notleidenden auch in anderen Teilen der Welt beizustehen.

Vor allem dürfen Christen nicht vergessen, wie bei Jesus Christus selber die eindeutige Absage an Unrecht jeder Art und die unbedingte Zuwendung auch zu dem Unrechttäter aufs engste zusammengehören. „Des Menschen Sohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“: das bleibt einer der Hauptsätze des Evangeliums. Bei uns fällt beides nur allzuleicht auseinander. Entweder passen wir uns dem Unrecht an und willigen in faule Kompromisse. Oder wir versäumen es, denen, die auf verkehrte Wege geraten sind, wirklich nachzugehen, und lassen es bei dem Nein ihnen gegenüber bewenden. Ich befürchte, daß wir gerade in letzterer Hinsicht viel Schuld auf uns geladen haben und weiter auf uns laden, weil es uns an der Liebe und Geduld Jesu Christi fehlt. Darum bleibt auch im Blick auf die Terroristen, die sich verblendet in heillose Ideologie verrannt haben, an uns Christen die kritische Frage gerichtet: haben sie jemals überzeugend und glaubwürdig solche Zuwendung erfahren? Solche Zuwendung im Namen Jesu Christi besagt dabei keineswegs, sich ihnen bedingungslos anzupassen und ihnen recht zu geben. Wahrscheinlich sind wir auch darin in den letzten Jahren der kritischen Jugend gegenüber oft schuldig geworden, daß wir geschwiegen haben, wo es gegolten hätte, offen zu reden und vor Irrwegen zu warnen. Aber erst recht werden wir schuldig, wo wir Menschen, die auf Abwege geraten sind oder in großer Gefahr sind, gefährliche Wege zu beschreiten, sich selbst überlassen, sei es aus Angst, sei es aus Selbstgerechtigkeit. Für Christen genügt es eben nicht, Verirrte und Verlorene nur zu verdammen. Es kommt darauf an, aus der Liebe Jesu Christi heraus zugleich nach Wegen zu suchen, sie aus ihrer Verlorenheit zurückzurufen. Darum sollten wir in unserer Fürbitte auch um Menschen bitten, die in der Lage sind, beides miteinander zu vereinigen: Unrecht klar und kompromißlos Unrecht zu nennen und doch zugleich sich bis zum letzten um Unrechttäter zu bemühen und das Gespräch mit ihnen zu suchen.

Unter dem, was ich in meinem gerade zurückliegenden Urlaub las, beeindruckte mich besonders eine kleine vom Laetare-Verlag, 8405 Stein bei Nürnberg, herausgegebene und von den katholischen und evangelischen Frauenbünden der Schweiz erarbeitete Broschüre mit dem Thema „Welchen Jesus meinen wir? Gedanken beim Betrachten der sich wandelnden Jesusbilder“. Die Darstellungen Jesu Christi im Zeitalter der Romanik, der Gotik, des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart werden hier unter den Stichworten Der Erhabene, Der Schmerzensmann, Der Sanfte und Der Revolutionär besprochen. Wichtig war mir, wie jede dieser Darstellungsweisen zwar Züge der biblischen Christusverkündigung aufnimmt – teils mehr, teils weniger -, wie aber alle der Versuchung unterliegen, sich auf das eigene Vorverständnis zu fixieren und sich nicht mehr durch andere Züge der biblischen Verkündigung in Frage stellen zu lassen. Das scheint mir auch für uns heute eine der Hauptversuchungen zu sein, das Christusbild unseren vorgefaßten Erwartungen, Wünschen und Urteilen anzupassen und im Grunde nur gelten zu lassen, was ihnen entspricht, statt umgekehrt uns selber Jesus Christus anzupassen und zu beherzigen, daß er und seine Gaben wie seine Weisungen immer größer und immer auch andersartig bleiben als unser Denken und Begreifen. Das darf auch in den Überlegungen, zu denen uns die Terrorismusszene nötigt, von uns nicht vergessen werden.

Eigentlich wollte ich Ihnen gleich nach meiner Rückkehr aus Dar-es-Salaam schreiben, wo ich im Juni als einer der Delegierten unserer Landeskirche an der 6. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes teilnahm, die Urlaubszeit und anderes kam dazwischen. Inzwischen sind schon wieder viele andere Dinge in den Vordergrund getreten. Das Ereignis der Vollversammlung als solches wird bei denen, die selber nicht teilnehmen konnten, wohl nicht allzulange Gegenstand der Aufmerksamkeit bleiben. Aber gerade diese Vollversammlung hat gewichtige Schwerpunkte gehabt, über die weiter nachzudenken und zu arbeiten auch für unsere Gemeinden und für unsere Kirche wichtig ist. Ich denke etwa an das, was die Tagung in Dar-es-Salaam zur Frage nach dem Verhältnis von konfessioneller Identität und ökumenischer Offenheit beigetragen hat (Stichwort: versöhnte Verschiedenartigkeit), oder welche Aspekte sich von ihr her für die Mitverantwortung in der Frage der Menschenrechte ergeben (besonderer Gesichtspunkt die Bereitschaft zum Mitleiden). Obwohl ich selber tief beeindruckt bin von der Begegnung mit der evangelisch-lutherischen Kirche in Tanzania und namentlich davon, wie es dieser Kirche gelang, die Konferenz in ihr eigenes Leben hineinzuziehen und in ihm zu integrieren, will ich jetzt nicht näher darauf eingehen. Ich selber bin aber ebenso wie die anderen Delegierten unserer Landeskirche bereit, im Lauf des kommenden Winters auf Gemeindeveranstaltungen oder bei anderen Gelegenheiten über die Konferenz und die von ihr ausgehenden Denkanstöße zu berichten, vorausgesetzt, daß Anforderungen an uns ergehen und sich im Terminkalender Raum finden läßt.

Die Namen der anderen Delegierten sind:

Frau Renate Apitz, Lichtenberger Straße 22, 3300 Braunschweig Frau Imogen Bollmann, Burgstraße 38, 3320 Salzgitter 51 Herr Pfarrer Wolfgang Boetcher, Hohegeißer Str. 23, 3421 Zorge.

Außerdem wird allen Pfarrämtern in den nächsten Tagen von Referat 20 ein Arbeitsheft für die Gemeinde über die Vollversammlung in Dar-es-Salaam zugehen, das im Auftrag des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes im Verlag der Ev.-luth. Mission zu Erlangen erschienen ist. Ebenso werden Hinweise auf weitere Literatur zu Themen der Vollversammlung gegeben werden. Ich kann Sie nur herzlich bitten: machen Sie in Ihrer Arbeit Gebrauch von den ergehenden Angeboten.

Ich selber kann für die Teilnahme an der Tagung in Dar-es-Salaam voll und ganz unterstreichen, was vor zwei Jahren Landesbischof Hempel – Dresden im Blick auf seine Teilnahme an der Tagung des Weltrats der Kirchen in Nairobi schrieb: „Ich bin fröhlicher zurückgekommen, als ich hingefahren war. Ich empfand es in Nairobi als eine Befreiung, ganz neu zu erleben, daß wir in unserer Kirche und in unserem Land nicht den Mittelpunkt der Welt bilden, sondern selber nur ein kleines Stück eines großen Ganzen sind. Vieles von dem, was uns heute beschäftigt und Not macht, nimmt sich im Vergleich zu den Problemen, vor denen andere stehen, doch nur sehr harmlos und geringfügig aus“.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Heintze Quelle: LAW LBf 16 und Nachlass Landesbischof Heintze
- Acc. 102/07, Rundbriefe


Anmerkung

Hans Martin Schleyer (1915-1977) war Präsident des Deutschen Arbeitgeberverbandes und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Er wurde am 5.9.1977 entführt, seine Begleitung erschossen. Schleyer wurde am 18.10.1977 in der Geiselhaft ermordet.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk