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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

19. Wahl zum Leitenden Bischof der VELKD – Gedenktag des 9. November

Rundbrief 3.11.1978

An die Pfarrer und sonstigen Mitarbeiter der Landeskirche

Liebe Schwestern! Liebe Brüder!

Lange habe ich mich nicht mehr brieflich an Sie gewandt. Sie wissen, daß das vergangene Jahr für mich unter besonderen äußeren wie inneren Belastungen stand.1 Und ich danke allen, die meiner in dieser Zeit freundlich gedacht haben. Jetzt, zu Beginn der Winterarbeit, die vielen von Ihnen zusätzliche Belastungen bringt, liegt mir sehr daran, Sie herzlich zu grüßen.

Sie haben gehört, dass ich durch die Generalsynode der VELKD kürzlich in das Amt des Leitenden Bischofs gewählt worden bin. Ich kann mir denken, daß das bei Ihnen keineswegs nur Freude hervorgerufen hat. Zusammen mit verschiedenen anderen ökumenischen Ämtern, die ich ohnehin schon wahrzunehmen habe, erschwert es mir das neue Amt ohne Zweifel, die Aufgaben in meinem Hauptamt in meiner eigenen Landeskirche so wahrzunehmen, wie es eigentlich nötig wäre. Das ist für mich selber einer der Hauptgründe gewesen, die mich zögern ließen, der an mich ergehenden Berufung zu folgen. Es hat mich doch einigermaßen getroffen, als unlängst ein Amtsbruder mich freundlich aber doch ein wenig vorwurfsvoll daran erinnerte, wieviel häufiger ich mich in früheren Jahren in den Pfarrhäusern habe sehen lassen, als es mir nach der Zunahme meiner überlandeskirchlichen ökumenischen Verpflichtungen möglich war. Außer auf mein Lebensalter, das normalerweise die Beauftragung eines Jüngeren anraten würde, habe ich die Generalsynode auch darauf hingewiesen, daß ich mich keineswegs als fertigen Lutheraner und auch nicht als fertigen Christen verstehe, sondern mir bis heute viel mehr als ein Lernender denn als ein Habender vorkomme. Damit meine ich allerdings nicht nur ein guter Lutheraner zu sein („Das Christenleben steht im Werden, nicht im Gewordensein“), sondern auch der zentralen biblischen Aussage zu entsprechen, die mir in meinem Ordinationswort Philipper 3,12 zur beständigen Erinnerung mitgegeben ist. Ich kann also mit gutem Gewissen sagen, daß ich das mir neu übertragene Amt nie begehrt und nie mit ihm für mich gerechnet habe. Wenn ich trotzdem die Berufung angenommen habe, so tat ich es, weil ich viel von der in diesem Fall für mich recht eindeutigen „vocatio mediata“ halte2 – auch darin meine ich ein guter Lutheraner zu sein – und weil sich z.Z. keine Alternative, nach der ich selber Ausschau gehalten habe, anbot. Ich meine allerdings auch, daß die VELKD gerade in den letzten Jahren sich auf einem guten Weg befand, wenn sie das Schwergewicht nicht auf den organisatorisch-institutionellen Ausbau – etwa gar im Gegenüber zur EKD – legt, sondern auf das Bemühen, Pfarrern und Gemeinden theologische Hilfe in ihren unmittelbarsten Aufgabenbereichen anzubieten, vor allem im Blick auf die gottesdienstliche Sammlung, auf eine lebendige, schriftgemäße wie aktuelle Verkündigung und auf die vielfältige diakonische Verantwortung, sowohl im individuellen seelsorgerlichen wie im gesellschaftspolitischen Bereich. Daß bei aller notwendigen Offenheit für heute neu sich stellende Fragen auch in der Gegenwart die zentrale Wiederentdeckung der Reformation, die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders nicht aufgrund irgendwelcher Vorzüge und eigenen Leistungen, sondern allein aufgrund der freien Zuwendung Gottes, wie sie ein für alle Mal in Jesus Christus erfolgt ist, Mitte und Ausgangspunkt all unseres theologischen Bemühens bleiben muß, ist mir dabei immer mehr zur persönlichen Lebenserfahrung geworden.

So sehr die zusätzlich übernommene Aufgabe also auch eine verstärkte zeitliche Belastung darstellen wird, so hoffe ich doch, daß sie in anderer Weise auch wieder meiner eigenen Landeskirche zugute kommt, ebenso wie meine sonstigen ökumenischen Aufgaben. Gerade in einer Landeskirche kleineren Umfangs ist es doppelt wichtig, nicht eng-provinzialistisch zu werden, sondern das größere Ganze, zu dem wir gehören, vor Augen zu haben und uns von daher anregen wie in Frage stellen zu lassen. Deshalb möchte ich Ihnen in der Anlage auch meinen Bericht zuschicken, den ich vor der Generalsynode als „Catholica-Beauftragter“ der VELKD zu erstatten hatte. Der Dialog mit der römisch-katholischen Kirche ist mir zunehmend wichtig geworden. Wir haben viel Grund, dankbar dafür zu sein, wie sehr sich das Verhältnis unserer Kirchen zueinander zum Positiven gewandelt hat. Andererseits ersehen Sie aus meinem Bericht, daß ich im notwendig weiterzuführenden Dialog keineswegs ausklammern möchte, was noch an unbewältigten Schwierigkeiten zwischen uns steht. Sehr liegt mir daran, Ihnen einen besonderen Dank zu sagen für allen Dienst, den Sie gemeindlich wie übergemeindlich tun, ohne sich deprimieren zu lassen. Leider ist die Vakanzsituation in unserer Kirche nach wie vor recht bedrängend, und für die nächsten drei bis vier Jahre ist noch kaum eine Besserung zu erwarten. Erst danach wird sich die auch in unserer Landeskirche in den letzten Semestern stark angestiegene Zahl von Theologiestudenten positiv auswirken. Um so wichtiger wird aller Aushilfsdienst, wie er namentlich von vielen Ruheständlern geleistet wird. Auch könnte die Mithilfe von Lektoren, die wir erfreulicherweise in relativ großer Zahl in unserer Landeskirche haben, bisweilen noch mehr in Anspruch genommen werden, als es der Fall ist. Allerdings sollte der Lektorendienst nicht nur als Nothilfedienst angesehen werden, sondern als Bereicherung im Sinn des in unserer Kirche noch längst nicht verwirklichten allgemeinen Priestertums aller getauften Christen. Überhaupt dürfen Einsparungsmaßnahmen, wie sie angesichts einer unsicheren Entwicklung der kirchlichen Finanzsituation in den nächsten Jahren in allen Kirchen z.Z. überlegt werden und auch begreiflich sind, keineswegs dazu führen, praktisch zum Modell der einseitigen Pastorenkirche zurückzukehren und zu wenig berücksichtigen, daß in einer immer differenzierter gewordenen Gesellschaft auch ein differenziertes Angebot kirchlicher Ämter und Dienstleistungen unabdingbar ist.

Am 9. November jährt sich zum 40. Mal die Nacht, in der auf Anordnung der damaligen nationalsozialistischen Regierung in ganz Deutschland die Synagogen angezündet und ungezählte jüdische Wohnungen und Geschäfte zertrampelt und verwüstet wurden. (Das leider eingebürgerte Wort „Reichskristallnacht“ sollten wir tunlichst vermeiden.) Und das alles war erst der Auftakt zu der planmäßigen Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und den im Krieg besetzten Gebieten. Von verschiedenen Seiten ist dieses Datum in Erinnerung gerufen und darum gebeten, seiner zu gedenken, so vom Rat der EKD (dieses Schreiben ist Ihnen gesondert zugegangen), aber auch von der Leitung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR. Auch in Braunschweig werden wir seitens unserer Landeskirche zusammen mit der Stadt und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft eine Gedenkfeier veranstalten. Gewiss werden aber auch Sie in Gottesdiensten dieser Zeit oder auf andere Weise auf dieses bewegende Jubiläum eingehen. Besonders sollte am diesjährigen Volkstrauertag dieser Aspekt nicht vergessen werden. Ich erinnere mich, wie ich als junger Hilfspfarrer am Sonntag danach der in der Gemeinde durchaus vorhandenen Erschütterung und Scham wenigstens andeutend Ausdruck zu verleihen suchte. Aber das war natürlich viel zu schwach und vorsichtig, wie überhaupt die Hauptschuld von uns Christen, die damals schon mündig und verantwortlich waren, nicht so sehr im aktiven Mitmachen als im Schweigen aus Angst bestand. Besonders eindrucksvoll ist mir in diesem Zusammenhang die Novelle von Albrecht Goes, Das Brandopfer (Fischer-Taschenbuch Nr. 1524). Man sollte sie in dieser Zeit einmal wieder zur Hand nehmen.

Wir sollten diesen Gedenktag aber auch nicht nur historisch begehen. Es bleibt auch für die Gegenwart und ihre Krisenpunkte beklemmend, wie leicht sich öffentliche Meinung durch gezielte Propaganda manipulieren läßt und Gewissen sich einschläfern lassen. Auch wir selber sind ständig in der Gefahr, uns nur über solches Unrecht zu empören, dessen Verurteilung unseren eigenen Überzeugungen entspricht und zudem kein Risiko für uns bedeutet. So kommt es auch in der gesellschaftspolitischen Urteilsbildung darauf an, sorgfältig zu differenzieren, sich vor ungerechten Pauschalurteilen und übler Nachrede zu hüten und vor allem über der Kritik an anderen die Bereitschaft zur Selbstkritik nicht zu vergessen.

Nicht ganz selten wird gegen uns und unsere Kirche heute der Vorwurf erhoben, über der Erinnerung an die Verbrechen des Dritten Reiches zu übersehen, was in und nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes auch ungezählten Deutschen an schwerem Unrecht widerfahren ist, und was seitdem in der Welt an neuen Unmenschlichkeiten gleichsam in fortlaufender Kette geschieht. Auch das alles wird etwa in das Gedenken am Volkstrauertag mit einzubeziehen sein. Dennoch kann und darf der Hinweis auf selbst erlittenes Unrecht und auf die Untaten anderer niemals zur Entschuldigung des Unrechts gebraucht werden, das im Dritten Reich von Menschen unseres eigenen Volkes geplant und begangen wurde, und das jedenfalls zeitlich dem voranging, was dann mit dem Zusammenbruch folgte. Diese Art Selbstrechtfertigung ist leider heute weit verbreitet, und im Grunde liegt die Selbstrechtfertigung uns allen im Blut. Der Weg zu wirklicher Versöhnung führt jedenfalls nicht über das Vergessen. Was in der KZ-Gedenkstätte in Jerusalem zu lesen ist, bleibt wahr: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, aber das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“.

Für allen Verkündigungsdienst, der an den besonderen Gedenktagen im November auf Sie wartet, aber auch schon für die anschließende Adventszeit wünsche ich Ihnen Gottes Segen und den Beistand seines Geistes.

In herzlicher Verbundenheit Ihr Heintze

Anlage

Quelle: LAW LBf 16 und Nachlass Landesbischof Heintze
- Acc. 102/07, Rundbriefe


Anmerkungen

1 Am 14. 10. 1977 war Frau Ilse Heintze im Alter von 60 Jahren gestorben
2 vocatio mediata unterscheidet eine direkte Berufung von Gott, wie sie die Propheten erfahren haben von einer Art indirekten Berufung, hier durch die Synode. Heintze spielt auf das hohe Abstimmungsergebnis an und deutet es als mittelbare Berufung.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk