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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

2. Ein Weihnachtsbrief

Rundbrief 20.12.1965

An alle Pastoren, Pfarrdiakone und Pfarrvikarinnen der Braunschweigischen ev.-luth. Landeskirche

Liebe Brüder, liebe Schwestern !

Zum ersten Fest, das ich in unserer Landeskirche miterlebe, grüße ich Sie alle herzlich. Ich gedenke derer, die schon viele Weihnachtsfeste in Dienst erlebt und viele Weihnachtspredigten gehalten haben. Möchte es kein Fest der Routine werden, sondern die Botschaft uns selber neu werden. Besonders denke ich auch an die, die am Anfang ihres Dienstes stehen und sich vielleicht schwer damit tun, nicht nur wegen der Häufung der Gottesdienste in der Festzeit und des vielfältigen Gefordertseins, sondern weil sie nicht wissen, wie sie die Weihnachtsbotschaft heute recht zu verstehen und auszulegen haben. Möchten sie zu einen zuversichtlichen, aus der „großen Freude“ (Lukas 2,10) kommenden und zu ihr führenden Zeugnis kommen.

Dadurch, dass dieses Jahr der Sonntag nach Weihnachten ausfällt, ist die quantitative Predigtanforderung etwas geringer als in anderen Jahren. Trotzdem halte ich es für durchaus gerechtfertigt, wenn Sie an den Festtagen mit anderen Amtsbrüdern tauschen, um Ihrer selbst und um Ihrer Gemeinde willen. Dasselbe gilt natürlich erst recht bei der diesjährigen Häufung der Gottesdienste an der Jahreswende. Besonders wünsche ich Ihnen, dass Sie die Möglichkeit hätten, auch selber einmal Hörer zu sein und nicht fortgesetzt selber Dienst tun zu müssen. Aber das wird sich in den meisten Fällen nicht einrichten lassen.

Die Verantwortung der Predigt am Heiligen Abend ist ja besonders groß. Trotz aller Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche und der zunehmenden Kirchenkritik werden wahrscheinlich auch in diesem Jahr wieder viele in die Gottesdienste kommen, die man sonst kaum einmal sieht. Die Motive werden verschieden sein, Gewohnheit, Stimmung, Kindheitserinnerungen, unbestimmte Erwartungen – sicher gar nicht immer Bereitschaft zum Hören der eigentlichen Botschaft. Jemand hat mal die Heiligabend-Gemeinde die „jährliche Generalversammlung passiver Kirchenmitglieder“ genannt. Sicher besteht wenig Grund, sich über den inneren Zustand der Gemeinde und die geringen Voraussetzungen für ein wirkliches Vernehmen der Botschaft Illusionen zu machen. Trotzdem sollten wir uns nicht durch Vorwurf und Klage über diese fragwürdigen Heiligabend-Christen bestimmen lassen, sondern uns über jeden freuen, der jetzt da ist, und darüber, dass wir Gelegenheit haben, ihm die Weihnachtsbotschaft auszurichten. Es gehört ja zum Kern der Weihnachtsgeschichte, dass die große Freude, die mit der Geburt Christi verkündigt wird, „allem Volk“ widerfahren soll, und dass die ersten, die die Botschaft hören und aufnehmen, ausgesprochene Außenseiter sind. Warum sollten wir die Hoffnung aufgeben, dass sich dieses Wunder auch heute wiederholen kann?

Seien Sie bitte auch in der Liedauswahl und in der Länge der Predigt am Heiligabend barmherzig. Nur die wenigsten werden zur Aufnahme einer Predigt von sonntäglicher Normallänge fähig sein. Ein kurzes, zentrales Wort, etwa aus Lukas 2, dürfte sich besser als Predigttext eignen als ein komplizierter und vielschichtiger Text. So scheint mir der in den diesjährigen Göttinger Predigtmeditationen für Heiligabend vorgesehene Text Matth. 1,18-23 trotz der guten Meditation Helmut Gollwitzers eine Überforderung zu sein. Wenn nur eine Christvesper in der Gemeinde gehalten werden kann, in der dann die Kinder vermutlich starken Anteil haben, darf keinesfalls über ihren Kopf hinweg geredet werden. Eine bewusste Einstellung auf eine Kinderpredigt wird dann möglicherweise am ersten auch die Erwachsenen erreichen. Besser ist es natürlich, wenn die Gottesdienste im Blick auf die verschiedenen Gemeindegruppen, die man erwarten kann, differenziert werden könnten.

Nicht weniger schlimm, als dass wir die Gemeinde ermüden und über die Köpfe hinwegreden, ist freilich die Gefahr, dass wir die Weihnachtsbotschaft verharmlosen und aus dem Rezitieren nicht zur gegenwärtigen Interpretation kommen. Das Stilmittel der „Verfremdung“ mag erwogen werden. Vor allen darf die harte Wirklichkeit der Menschwerdung, wie sie doch gerade auch die lukanische Weihnachtsgeschichte bezeugt, nicht übersehen werden. Angesichts der heftigen Diskussion des Heimatrechtes in den letzten Wochen könnte etwa auch Johannes 1,11 („Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“) als Text geeignet erscheinen. Trotzdem sollten wir uns nicht zu lange damit aufhalten, die Fragwürdigkeit äußerlicher Festgebräuche und säkularisierter Feier aufzuweisen und nachzuzeichnen – vor allem, wenn wir in solchen Dingen dann doch selber wacker mitmachen. Die wichtigste Aufgabe bleibt es, selber neu über das Wunder der Menschwerdung und die in ihr sich bezeugende Liebe Gottes zu dieser unserer gottlosen Welt zu staunen und der Gemeinde nach Möglichkeit dazu zu verhelfen.

Am Heiligen Abend wird auch in diesem Jahr die Kollekte wieder für „Brot für die Welt“ bestimmt sein. Es wäre gut, wenn es gelänge, der Gemeinde den inneren Zusammenhang zwischen der Weihnachtsbotschaft und dieser großen Verpflichtung der Christenheit in unserer Zeit bewusst zu machen. Hoffentlich haben Sie in den Wochen, seit die neue Aktion angelaufen ist, von dem angebotenen Werbematerial, das mir in diesen Jahr gut zu sein scheint, in Ihren Gemeinden guten Gebrauch machen können. Man wird angesichts törichter Missverständnisse und Einwände nie genug betonen können, daß „Brot für die Welt“ nicht nur hier oder da Hungernden einen Bissen Brot reichen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe geben und durch das persönliche Engagement von Helfern in den Notstandsgebieten den Hass und der Feindschaft entgegenwirken und neues Vertrauen begründen helfen will. Das diesjährige Weihnachtsgeschäft soll in der Bundesrepublik zu einem Umsatz wie noch nie geführt haben. Ob es in unseren Gemeinden auch zu einer Steigerung der Hilfsbereitschaft kommen wird? Es stände nicht gut um unsere innere Glaubwürdigkeit, wenn davon nichts zu spüren wäre. Lassen Sie selber sich diese Sache jedenfalls dringend ans Herz legen. Und suchen Sie auch über Weihnachten hinaus in Ihren Gemeinden dafür zu werben.

Ich weiß nicht, ob Sie in Ihren Gemeinden jetzt häufiger auf die Karlsruher Urteile in den strittigen Kirchensteuer-Prozessen angesprochen werden.1 Die Folgen sind im Augenblick noch nicht zu übersehen. Da gerade im Gebiet unserer Landeskirche der Anteil der Dissidenten und damit auch der Ehen zwischen Dissidenten und Kirchenmitgliedern ziemlich hoch ist, ist nicht ausgeschlossen, dass sich für unsere Kirche einige finanzielle Schwierigkeiten daraus ergeben. Wichtig scheint mir aber zu sein, dass wir unsererseits die Angelegenheit nicht dramatisieren. Unfreundliche Kritiker werden wir darauf hinweisen dürfen, dass die bisherige Praxis jahrzehntelanger stillschweigend gebilligter Gewohnheit entsprach und deshalb mit gutem Gewissen seitens der Kirchen betrieben wurde. Auch unabhängig von diesem akuten Fall würde ich es aber für gut halten, bei einer Rückschau auf das vergangene Jahr, wie Sie sie wahrscheinlich in Zusammenhang des Silvestergottesdienstes geben, für alle Hilfe und Mitarbeit, die wir in unseren Gemeinden und der Landeskirche erfahren haben, ausdrücklich zu danken und in diesen Dank auch die Zahlung der Kirchensteuer mit einzubeziehen und ein wenig über ihre Verwendung anzudeuten. Es schadet auch nichts, in Blick auf die Höhe der Kirchensteuern gute Vergleichszahlen beizubringen. Eindrucksvoll ist für mich z.B. eine Notiz gewesen, dass sich die Ausgaben für den Silvesterfeuerwerkszauber in der Bundesrepublik im letzten Jahr auf ca. 50 Millionen DM beliefen, also auf mehr als das Doppelte unseres ordentlichen landeskirchlichen Haushaltsplanes.

Auf der letzten Tagung der Kirchenkonferenz in Berlin hielt Prof. Schlink, Heidelberg, der der offizielle Beobachter der EKD auf dem Konzil war, einen umfassenden Vortrag über die letzte Sessio des II. Vatikanischen Konzils und über seinen Gesamtertrag.2 Obwohl uns von Rom trennende Dogmen nicht aufgehoben wurden und es ein „innerkatholisches Konzil“ geblieben ist, dürfen die vielfältigen neuen Ansätze von uns nicht übersehen worden.3 Schlink nannte hier besonders das Anwachsen der Autorität der Schrift in der katholischen Kirche, Fortschritte in der Verwirklichung der Koinonia-Struktur der Kirche, die Sorgfalt des Aufeinanderhörens und die intensive persönliche Begegnung der Bischöfe und Theologen in diesen Jahren, die weit über das hinausgeht, was bislang auf Konferenzen der nichtrömischen Ökumenischen Bewegung möglich war. Schlink warnte gleichermaßen vor der Angst vor der Umklammerung durch den Katholizismus, wie vor einer illusionären unkritischen Überschätzung der Wandlungen, die sich während des Konzils in der katholischen Kirche abgezeichnet haben. Die wichtigste Konsequenz müsste für uns die Offenheit für eine Erneuerung in unserer eigenen Kirche sein, die die Bereitschaft zur Busse einschließt. Es gilt auch, in den großen, wesentlichen Themen, die das Konzil angeschnitten hat, und die uns nicht weniger angehen als Rom, weiter zurück zu stoßen und sie von der Wurzel aus unsererseits neu anzunehmen. In Demut und Liebe ist die Wahrheit zu bezeugen, die wir bei den anderen verzerrt finden, in der Erkenntnis, dass sie ja auch für uns nicht einfach selbstverständlicher Besitz ist. Die tiefste Gemeinsamkeit, die schon jetzt geschenkt ist, ist die Möglichkeit zum gemeinsamen „Kyrie eleison“. Wir sollten uns in der Folgezeit auf Pfarrkonventen und wo sonst Gelegenheit besteht, gründlich mit den Konzilsthemen befassen. Für diese wie auch die theologischen Spannungen in unserer eigenen Kirche, die mitunter bis hart an den Rand des Erträglichen gehen und die Möglichkeit des amtsbrüderlichen Miteinander im gleichen Dienst und Auftrag ernsthaft gefährden können, dürfte das „aletheuein en agape“ (die Wahrheit in der Liebe), von dem die neue Jahreslosung spricht, die wichtigste Aufgabe für uns sein. Ich wünsche uns allen, dass wir im neuen Jahr in dieser Übung bleiben und dadurch miteinander „an dem wachsen, der das Haupt ist, Christus“.

In herzlicher Verbundenheit und mit nochmaligen Segenswünschen für die Festzeit und das kommende Jahr

Ihr Heintze

Quelle: LAW LBf 189


Anmerkungen

1 Das Bundesverfassungsgericht hatte am 14.12.1965 entschieden, dass Ehepartner, die keiner Kirche angehören, keine Kirchensteuer zu zahlen haben. Diese Form der Kirchensteuer sei verfassungswidrig.
2 Das 1962 begonnene 2. Vatikanische Konzil war am 8. Dezember 1965 zu Ende gegangen. Prof. Edmund Schlink (1903-1984) hatte als offizieller Beobachter am 2. Vatikanischen Konzil teilgenommen. Schlink war Prof. für Systematische Theologie in Heidelberg und hatte dort das Ökumenischen Institut gegründet. Er war Herausgeber der Zeitschrift Ökumenischen Rundschau. Er hatte an den Ökumenischen Versammlungen in Amsterdam (1948), Evanston (1954) und Neu Delhi (1961) teilgenommen.
3 Zu Beginn hatte Papst Johannes XIII ein ökumenisches Konzil angekündigt und es war unklar, ob „ökumenisch“ auch irgendeine Beteiligung der protestantischen Kirchen bedeuten sollte.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk