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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

3. Die Braunschweiger Thesen zu Bibel und Bekenntnis

Rundbrief 18.3.1966

An alle Pfarrer, Pfarrvikare, Pfarrdiakone und Pfarrvikarinnen der Braunschweigischen evangelisch-lutherischen Landeskirche

Liebe Brüder! Liebe Schwestern!

Sie werden vermutlich alle in der letzten Woche die „Braunschweiger Thesen zu Lehre und Auftrag der Kirche“, die von der „Kirchlichen Sammlung, Aktionsgemeinschaft für Bibel und Bekenntnis in Braunschweig“ herausgegeben sind, zugesandt bekommen haben.1 Hoffentlich haben Sie schon Zeit gefunden, sich gründlich mit den Thesen und den jeweils hinzugefügten Verwerfungen zu befassen und zu prüfen, ob Sie der ergangenen Aufforderung zum Beitritt zu dieser Kirchlichen Sammlung Folge leisten oder sie ablehnen wollen. Sie haben aber auch einen Anspruch darauf, von mir als Ihrem Bischof zu erfahren, welche Haltung ich selber einnehme. Ich möchte dabei von vornherein betonen, daß Sie sich in Ihrer eigenen freien Entscheidung durch das, was ich Ihnen im Folgenden schreiben möchte, weder bedrängen noch einengen lassen sollten.

Dass sich diese „Kirchliche Sammlung“ bei uns aufgetan hat, ist kein Zufall. Ähnliche Erscheinungen sind heute auch anderswo festzustellen. Ich denke etwa an die Großveranstaltung in der Dortmunder Westfalenhalle an 6. März ds. Js. oder an den erstaunlichen Wahlausgang der Urwahlen für die Landessynode in der Württembergischen Evangelischen Landeskirche, die eine starke Mehrheit der pietistischen Gruppe brachte. Die Befürchtung, daß in der heutigen Theologie in zunehmendem Maße Tendenzen in den Vordergrund drängen, die zu einer Entleerung und Auflösung der Botschaft von Jesus Christus in einen bloßen Existentialismus und zum Verlust des eigentlichen Glaubensgrundes führen, ist weit verbreitet. Sie ist m. E. auch nicht ohne Grund, selbst wenn man in Rechnung stellen muss, dass nicht selten kritische Äusserungen, die den Befürchtungen und Protesten Nahrung gegeben haben, aus dem Zusammenhang gerissen und in ihrer eigentlichen Absicht gar nicht verstanden sind. Leichtfertigkeit und Willkür im Umgang mit der biblischen Botschaft sind eine wirkliche, nicht zu unterschätzende Gefahr. Und die Methode der „existentialen Interpretation“, die gerechterweise freilich auch unter dem Aspekt gesehen werden muß, wie vielseitig und für viele wahrhaft befreiend sie zu einem neuen Verstehen des eigentlichen Verkündigungsgehaltes der biblischen Texte beigetragen hat, kann dort, wo ihre Ergebnisse verabsolutiert und schematisiert werden und sie aus einer Dienerin zur Herrin über die biblische Botschaft wird, tatsächlich zu einer bedrohlichen Verengung in einem fruchtlosen ausschließlichen Kreisen um die Probleme der eigenen Existenz und zur Auflösung der Theologie in eine isolierte Anthropologie führen. Wo das geschieht – und es gibt heute nicht wenige literarische oder mündliche Verlautbarungen, die in diese Richtung weisen –, ist auch nach meiner Meinung von dem, was nach dem biblischen Zeugnis Glaube ist, wenig oder nichts mehr vorhanden. Ich kann den Brüdern der „Kirchlichen Sammlung“ auch darin zustimmen, dass in dieser Lage heute, zumal von denen, die in der Kirche den Dienst des Wortes tragen, ein klares Zeugnis gefordert „ist von dem Grund der Hoffnung, die in uns ist“. Ebenso bin auch ich der Überzeugung, dass sich der Glaube an Jesus Christus nicht mit Entscheidungslosigkeit verträgt und das Ja des Glaubens notwendigerweise die Bereitschaft zu einem entschlossenen Nein zu dem, was sich nicht mit ihm vereinbaren lässt, in sich schließt. Wo es in der Geschichte der Kirche zu Bekenntnisformulierungen gekommen ist, sind sie demzufolge in der Regel auch von der Formulierung klarer Verwerfungen begleitet gewesen, wie etwa auch in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Es ist nicht auszuschließen, dass Ähnliches auch von uns einmal wieder verlangt werden könnte. „Es gilt ein frei Geständnis in dieser unsrer Zeit, ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit“: das wird man auch heute singen und bekennen dürfen.

Trotzdem sehe ich persönlich mich nicht in der Lage, die „Braunschweiger Thesen“ und die beigefügten Verwerfungen bei vielem Richtigen und Anerkennenswerten, was in ihnen gesagt wird, insgesamt zu unterschreiben. Abgesehen von nicht wenigen Einzelbedenken gegenüber den in ihnen gemachten Aussagen hindert mich vor allem der Eindruck, dass eine positive Lösung des zugrundeliegenden Hauptproblems, wie sich Menschenwort und Wort Gottes im Zeugnis der Schrift zueinander verhalten, nicht gelungen ist. Vielmehr kommt es zu einer sehr fragwürdigen Schematisierung, die den uns heute hier gestellten Problemen nicht gerecht wird. In These 15 wird zwar die Erforschung des Schriftworts auf profanwissenschaftlichem Wege incl. der historisch-kritischen Methode in Anerkennung seiner „vollen Geschichtlichkeit“ als berechtigt und notwendig anerkannt. Faktisch wird aber damit nicht ernst gemacht. Weder der Vielschichtigkeit der Zeugenberichtete noch dem Problem ihres Hineinverflochtenseins in die Vorstellungs- und Darstellungsweisen einer längst vergangnen Zeit und den damit gegebenen Spannungen und Aporien stellen sich die Thesen gründlich genug. Sie erwecken den Eindruck, als sei aus den biblischen Berichten ein geschlossener einheitlicher biographischer Aufriss zu gewinnen und auch außerhalb des Kerygmas und seines Rufs zum Glauben als „historisch“ nachzuweisen. Die (sic!) gefährden damit eine der wesentlichsten und fruchtbarsten exegetischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, nämlich dass alle neutestamentlichen Berichte von der Voraussetzung des Glaubens an Christus als den auferstandenen Herrn her geschrieben und gar nicht daran interessiert sind, Historie an und für sich nachzuerzählen, sondern vielmehr durch das, was und wie berichtet wird, zum Glauben an Christus als an den lebendigen gegenwärtigen Herrn führen wollen. Das Verhältnis von historischen zu Glaubensaussagen bleibt in den Thesen überhaupt ungeklärt. So bleibt es in zahlreichen Formulierungen offen, ob es auch für die Verfasser der Thesen die Möglichkeit historischer Ungenauigkeiten, den Gebrauch der Stilmittel zeitgenössischer Mythologie und der Umgestaltung ursprünglicher Überlieferung von der kerygmatischen Absicht her in den biblischen Berichten gibt (Vgl. z.B. das vorsichtige „auch“, „nur“ und „alles“ in den Verwerfungen von These 5 Abs. 2-5). Und wo werden hier die Grenzen möglicher legitimer kritischer Fragestellungen gesehen? Wie verhält sich z.B. in These 7 die Verwerfung der Interpretation der Himmelfahrt Christi „als mythologischer Ausdruck für das Bekenntnis zu Christus als dem Herrn“ zu der in der These selbst gegebenen Bestimmung, dass der Himmel als Ort Gottes „nicht mit den Kategorien dieser Welt“ zu fassen ist, womit die im Bericht Apg. 1 vorliegende und für die Menschen der damaligen Zeit selbstverständliche Übernahme der ptolemäischen räumlichen Himmelsvorstellung offensichtlich durchbrochen oder umgangen wird ? Auch bedient sich die eigene dogmatische Begrifflichkeit der Verfasser nicht weniger als die der verworfenen „existentialen Auslegung“ vorgeprägter philosophischer Voraussetzungen und Vorstellungen, die in ihrer Relevanz und Tragweite näher zu bestimmen wären.

Für bedenklich halte ich weiter, dass die Thesen das Verständnis nahe legen, als ob dem Glauben an Christus und der Verkündigung des Evangeliums durch Zusammenstellung und Rezitation eines bestimmten geschlossenen Quantums an formulierten Bekenntnissätzen Genüge geschähe, und als ob die Schrift primär als Sammlung von dicta probantia für solche Sätze zu gebrauchen sei. Hier wird sowohl Luthers grundlegender Maßstab der Schriftauslegung, nämlich im Fragen nach dem, was „Christum treibet“, der ihn zu durchaus unterschiedlichen Feststellungen und Bewertungen innerhalb des Kanons führt, wie erst recht das Verfahren der neutestamentlichen Zeugen, die dem Grundbekenntnis zu Christus in den sich wandelnden Situationen jeweils neuen Ausdruck verleihen, ohne zu einem abgeschlossenen Katalog zeitlos gültiger Bekenntnisaussagen zu gelangen, gefährdet. Hier erscheint auch die uns heute vor allem gestellte Aufgabe der Übersetzung und Auslegung des Evangeliums in die Sprache und Lebensverhältnisse des modernen Menschen hinein eingeengt, obwohl ich nicht verkenne, wie sehr gerade denen, die für die Thesen hauptverantwortlich sind, auch der missionarische Auftrag am Herzen liegt.

Schließlich habe ich die große Sorge, dass mit den allzu schematisierten Verwerfungen nicht nur den in der Tat bedenklichen Auflösungstendenzen in der modernen Theologie gewehrt, sondern auch berechtigte Fragen der Bibelkritik von vornherein abgeschnitten werden, die keineswegs einer leichtfertigen Distanzierung von der biblischen Botschaft entstammen, sondern umgekehrt aus echter Bereitschaft zu hören und zu gehorchen und aus einem starken persönlichen Engagement. Ich bin der Überzeugung, dass wir in unserer Kirche durch Generationen hindurch viel zu wenig Hilfe zu einem offenen, unbefangenen und auch historisch-kritischen Umgang mit der irdisch-geschichtlichen Seite der Schrift gegeben und dadurch das Hören des Wortes Gottes durch das Menschenwort hindurch erschwert haben und mitschuldig an dem Einbruch von Irrlehre wie der ebenso gefährlichen Gleichgültigkeit und äußerlich frommen konventionellen Rhetorik geworden sind. Das Bemühen um ein Miteinander von Bibelkritik und Gemeindefrömmigkeit, wie es etwa in den drei Vorträgen von G. Klein, W. Marxsen und W. Kreck auf dem 12. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln unternommen wurde, war grundsätzlich richtig und in vielem auch hilfreich, selbst wenn nicht jeder allen Äußerungen zustimmen konnte, und bleibt auch für die Zukunft eine vordringliche Aufgabe. (Die Vorträge sind unter dem angegebenen Titel jetzt als Sonderband im Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn erschienen).2

W. Kreck sagt m.E. zu Recht: „Die Bibelkritik kann an ihrem Teil dazu mithelfen, dass entgegen einer sogenannten Christlichkeit, die aus dem Glauben ein Schauen macht und das Ärgernis des Kreuzes, die tiefe Verborgenheit der Herrlichkeit Jesu in dieser Welt vergisst, uns deutlich wird: Jesus ist anders ... Er lässt sich auch von uns, von der Kirche, von unseren christlichen Institutionen, von unserer christlichen Erfahrung und Gewöhnung nicht einfangen, er wählte bewusst die Missverstehbarkeit ... Ob nicht heute Grund besteht, sich in der christlichen Gemeinde mehr als über historisch-kritische Forschung aufzuregen über eine Christlichkeit und Kirchlichkeit, in der man zwar mit vollen Backen biblische Worte verkündigt, aber weithin kapituliert, wo diese Worte zum Stachel werden für ein weltförmiges Christentum? ... Rechte Schriftforschung zerstört nicht die Gemeinde, wohl aber könnte sie dazu beitragen, dass unsere christliche Selbstsicherheit zerstört wird und das bloß vordergründige Ärgernis an Sprache und Denkform des Evangeliums zurücktritt hinter dem echten Anstoß, den das Wort Gottes für uns Menschen zu allen Zeiten bedeutet und den nur Gottes Heiliger Geist überwinden kann ... Gerade die nicht ängstlich gehütete oder unter kirchliche Vormundschaft gestellte, sondern der freien Zugluft ausgesetzte Bibel erweist sich als Herr und Richter über uns, als die Macht, die uns zur Freiheit ruft und uns in Freiheit bindet“.

Meine herzliche Bitte an diejenigen, die vielleicht geneigt sind, sich schnell über die „Braunschweiger Thesen“ als über ein Zeugnis einer erstarrten, gesetzlichen, fundamentalistischen Theologie hinwegzusetzen: Überhören Sie bitte nicht die echte Sorge um die Zukunft unserer Kirche und ihrer Verkündigung, aus der die Thesen geboren sind! Übersehen Sie auch nicht, wie leicht tatsächlich unser Theologisieren und unser Predigen zum leeren unverbindlichen Geschwätz werden und das berechtigte Mühen um eine zeitnahe Verkündigung sich in eine Anpassung an die Umwelt wandeln kann, die nichts weiter als Verleugnung des Herrn und des von ihm gegebenen Auftrags ist.

Und meine ebenso herzliche Bitte an diejenigen, die den Thesen zustimmen und der „Kirchlichen Sammlung“ beizutreten gedenken: Bleiben Sie offen für die Fragen derer, die den Thesen und den Verwerfungen gegenüber Bedenken haben! Rechnen Sie damit, dass auch unter denen, die nicht wie Sie ihre Unterschrift geben können, Brüder sind, die nicht weniger als Sie selber unserm gemeinsamen Herrn dienen und Seinem Auftrag gehorsam werden möchten. Zu denen möchte auch ich mich rechnen. Brechen Sie das Band der Gemeinschaft nicht voreilig ab, so wie es erfreulicherweise auch in Dortmund und Württemberg in den dortigen Bekenntnisbewegungen nicht zu einer Kirchentrennung gekommen ist. Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, in dieser ernsten Sache, die uns auch in Zukunft vermutlich noch viel Not machen wird, uns an die apostolische Weisung zu halten, mit der auch W. Kreck seinen oben zitierten Vortrag schloss: „nicht dass wir Herren seien eures Glaubens, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude“ (2.Kor. l,24).

In dieser Zuversicht und Verbundenheit grüßt Sie Ihr gez. Heintze

Quelle: LAW LBf 189


Anmerkungen

1 Am 11. März 1966 erhielten alle Pfarrer der Landeskirche ein Heft unter dem Titel „Brauschweiger Thesen zu Lehre und Auftrag der Kirche“. Es war herausgegeben von der „Kirchlichen Sammlung Aktionsgemeinschaft für Bibel und Bekenntnis in Braunschweig“ und enthielt 18 Thesen.
2 „Bibelkritik und Gemeindefrömmigkeit“ Gütersloh 1966. Darin: Günter Klein „Die Bibel will kritische Leser“, Willi Marxsen „Jesus hat viele Namen“, Walter Kreck „Die Gemeinde braucht die Kritik der Bibel“.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk