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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

22 Rundbriefe von Landesbischof Heintze in Auswahl und Auszügen

4. Konföderationsbrief

Rundbrief 12.08.1966

Liebe Brüder und Schwestern!

Diesen Rundbrief möchte ich mit einem herzlichen Dank an Sie beginnen. Direktor Kurt Schmidt von unserem Braunschweiger Evangelischen Hilfswerk hat Ihnen vor wenigen Tagen die Aufstellung über das schöne Ergebnis der VII. Aktion „Brot für die Welt“ 1965/66 im Bereich unserer Landeskirche zugesandt. Mit DM 352.148,70 liegt es um über 100.000,- DM (= rd. 42%) über dem Ergebnis des Vorjahres. Diese Steigerung scheint mir umso erfreulicher, als die nun schon zum siebten mal durchgeführte Aktion besonderen Schwierigkeiten und Versuchungen unterliegt. Die „Macht der Gewohnheit“ kann die Bereitschaft zum persönlichen Engagement lähmen. Dazu erscheint angesichts des riesigen und sich noch immer steigernden Ausmaßes der Hungersnot in weiten Gebieten der Erde im Zusammenhang mit der geradezu unheimlich anwachsenden Erdbevölkerung alles, was wir mit unserer „Brot für die Welt“Aktion zu leisten vermögen, wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Hinzu kommt der häufig zu hörende Hinweis auf die staatliche Entwicklungshilfe, die den zusätzlichen kirchlichen Einsatz überflüssig mache. Ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, daß Sie trotzdem den an uns aus der Not ergehenden Aufruf vernommen und weitergegeben haben, und daß auch Ihre Gemeinde zu dem erfreulichen Gesamtergebnis beigetragen hat.

Besonders danke ich auch dafür, dass Sie meiner Bitte zum letzten Karfreitag, statt der an diesem Tage sonst üblichen Kollekte für die eigene Gemeinde eine Sonderkollekte für die von der Hungersnot in Indien Betroffenen zu sammeln, entsprochen haben. Ich bin mir darüber im klaren, daß das in manchen Gemeinden schwierig war, weil sie fest mit dem zu erwartenden Kollektenbetrag für Aufgaben in der eigenen Gemeinde rechneten. Aber wo besondere Nöte sich aufdrängen, müssen wir elastisch genug sein, um uns auch einmal „außerhalb der Reihe“ zu einem Einsatz aufrufen zu lassen. Ich kann auch keinen Hehl daraus machen, dass ich die bei uns herkömmliche Sitte, am Karfreitag für die eigene Gemeinde zu sammeln, für geistlich bedenklich halte. Gerade unter dem Kreuz Christi sollten die Nöte anderer einer Gemeinde brennender und wichtiger sein, als die eigenen Bedürfnisse. Eine Freude wird es für uns alle sein, dass mit den Mitteln, die aus der Sonderaktion für Indien aus dem Bereich der EKD zusammenkamen, rund 400.000 indischen Kindern spürbar geholfen werden konnte.

Das schöne Ergebnis der letzten „Brot für die Welt“-Sammlung gibt sicher keinen Anlass, uns selber zu rühmen. Hinter dem in anderen Landeskirchen gesetzten und zum Teil auch erreichten Ziel, wenigstens auf einen Gesamtbetrag zu kommen, der etwa 1,- DM pro Gemeindeglied entspricht, bleiben wir trotz der Steigerung weit zurück. Erst recht ist das Verhältnis, in dem unsere freiwilligen Opfer insgesamt zu dem stehen, was wir selbstverständlich für uns selbst aufwenden, um unser Leben angenehm und schön zu gestalten, bedrückend genug. Trotzdem behält im Rückblick auf die abgeschlossene Aktion der Dank sein Recht. In den rd. 352.000 DM sind gewiß auch viele Opfer Einzelner enthalten, die den Namen „Opfer“ auch wirklich verdienen. Und viele haben mitgeholfen, die Aktion sorgfältig zu planen und die notwendigen organisatorischen Maßnahmen zu treffen und immer wieder zu bitten und zu mahnen und sich auch für die Werbung Neues einfallen zu lassen.

In den nächsten Wochen steht die Opferwoche für die Innere Mission wieder bevor (4. bis 11.9.1966). Darf ich Sie herzlich bitten, sich auch dieser neuen Aufgabe nach Kräften anzunehmen? Die Beträge, die diese Opferwoche erbrachte (im letzten Jahr in unserer Kirche rd. 200.000 DM), tragen in erheblichem Maß dazu bei, wichtige diakonische Einrichtungen zu unterhalten. Angesichts der Verknappung der öffentlichen Zuschüsse wird der Opferwoche in diesem Jahr noch größere Bedeutung zukommen als bisher.

II. Sie haben von der Einladung gehört, die die Hannoversche Landessynode an die lutherischen Nachbarkirchen in Niedersachsen (Braunschweig, Oldenburg, Schaumburg-Lippe) hat ausgehen lassen, einen gemeinsamen Ausschuß zu bilden, um die Möglichkeiten eines Zusammenwachsens zu einer gemeinsamen Lutherischen Kirche in Niedersachsen zu erörtern.1 Unsere Landessynode hat auf ihrer Tagung am 9.6. ds. Js. einmütig diese Einladung angenommen und ihre Bereitschaft erklärt, sich an solchen Ausschussgesprächen zu beteiligen. Manche unter Ihnen oder erst recht unter Ihren Gemeindegliedern mögen besorgt sein, daß es auf diese Weise zu einem „Ausverkauf“ dessen, was in der Tradition unserer Landeskirche sich als gut und wertvoll bewährt hat, und zu einer bedauerlichen Einschränkung selbständiger Initiative und Verantwortung kommen könnte. Mir scheint es im gegenwärtigen Stadium wichtig zu sein, diese Angelegenheit nicht in falscher Weise zu dramatisieren und vor allem nicht durch unsachliche, vergröbernde und schematisierende Darstellungen die in Aussicht stehenden Gespräche zu belasten Es ist völlig deutlich, daß es sich bei den geplanten Ausschussberatungen um ein Gespräch freier, gleichberechtigter Partner handelt, dessen Ergebnis noch keineswegs von vornherein feststeht. Beratungsgegenstand ist auch nicht etwa ein „Anschlußdiktat“, nach dem die kleineren Landeskirchen sich der größeren hannoverschen anschließen und in ihr aufgehen sollten. Vielmehr geht es darum, miteinander zu überlegen, auf welchen Gebieten eine Vereinheitlichung der kirchlichen Organisation der beteiligten Kirchen sachgemäß und geboten scheint, und wo die Wahrung oder Kräftigung regionaler Selbständigkeit auch in Zukunft den besseren Weg darstellt. Das günstigste Verhältnis von Koordinierung und Dezentralisierung herauszufinden, scheint mit eine der wichtigsten Aufgaben des geplanten Ausschusses zu sein – noch wichtiger, allerdings wohl auch schwieriger, als die Revision der bisherigen kirchlichen Gebietsgrenzen. Gewiß wird man keine grundsätzliche, vielleicht gar theologisch zu begründende Forderung aufstellen dürfen, daß Kirchengebietsgrenzen immer notwendig den Staatsgrenzen entsprechen müßten. Das könnte u.U. auch einmal zu verhängnisvollen und nicht zu wünschenden Konsequenzen führen. Aber angesichts der tiefgreifenden Strukturwandlungen auf allen Gebieten unserer Umwelt, wie wir sie erleben, und zu denen u.a. gewiß auch die Konsolidierung des gemeinsamen niedersächsischen Staatswesens gehört, ist eine kritische Überprüfung der bisherigen kirchlichen Strukturen, die auf dem Landeskirchentum vergangener Zeiten beruhen, einfach unerlässlich. Leitender Gesichtspunkt bei allen anstehenden Beratungen kann und darf dabei weder die Verteidigung alter Rechte und Gewohnheiten aus prinzipiellem Konservativismus, noch ein Revolutionieren um des Revolutionierens willen sein. Es kommt vielmehr auch bei diesen Fragen äusserer Ordnung zuerst und zuletzt darauf an, ob durch sie die Sammlung der Gemeinde Christi unter Wort und Sakrament und der der Gemeinde aufgetragene missionarische und diakonische Dienst erleichtert oder etwa erschwert und gehindert wird. Es ist mir eine große Freude, daß bei den Beratungen unserer Landessynode wie auch, wo sonst in letzter Zeit bei uns das Thema einer evtl. Vereinigung der niedersächsischen lutherischen Kirchen angeschnitten wurde, dieser Hauptgesichtspunkt einmütig und nachdrücklich geltend gemacht wurde.

III. Darum kommt auch gewiß den unter uns heute so strittig gewordenen Fragen des rechten Schriftverständnisses und der rechten Verkündigung viel größeres Gewicht zu, als den Fragen einer äußeren Verfassungs- und Verwaltungsreform. Die Auseinandersetzung über die Braunschweiger Thesen zu Lehre und Auftrag der Kirche hat bis zu den Sommerferien beträchtlichen Umfang angenommen und wird aller Voraussicht nach jetzt nach den Sommerferien neu aufleben. Auch verschiedenartige literarische Stellungnahmen liegen inzwischen vor, erst recht zu der in mancher Weise allerdings sich von dem Standpunkt der Braunschweiger Thesen unterscheidenden Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“. Bei einer intensiven Diskussion der Braunschweiger Thesen auf dem Pröpstekonvent unserer Landeskirche im Mai dieses Jahres versicherten drei maßgebliche Vertreter der hinter den Thesen stehenden „Kirchlichen Sammlung“, dass durch die Thesen und die ihnen angefügten Verwerfungen ein ernsthaftes theologisches Gespräch nicht abgebrochen werden solle. Für diese Stellungnahme bin ich sehr dankbar.

Trotzdem gibt es mancherlei Anzeichen dafür, daß die Spannungen eher zugenommen haben und sich noch weiter verschärfen. Nicht nur extreme Anhänger der Thesen, sondern auch viele, die eher zu ihren Kritikern gehören, haben – wie mir berichtet wurde – z.B. lebhaften Anstoß an den Ausführungen über das Heilige Abendmahl genommen, die in der von unserem Landesjugendpfarramt herausgegebenen „Arbeitshilfe für Freizeiten der evangelischen Jugend im Sommer 1966“ enthalten sind. Ich muß gestehen, daß auch ich selber in diesem Artikel die Grundaussagen über das Abendmahl als Herrenmahl und das von Luther im fünften Hauptstück des Kleinen Katechismus so nachdrücklich betonte „für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden“ nicht wiederzuerkennen vermag, und daß ich auch betrübt bin über die pauschale und lieblos wirkende Art, mit der hier die bisherige Abendmahlsverkündigung und Abendmahlspraxis abgetan wird. Auch sonst finden sich in heutigen theologischen Verlautbarungen mitunter Äußerungen, die sich wirklich nicht mehr mit dem christlichen Grundbekenntnis vereinbaren lassen, und bei denen es kein Wunder ist, wenn sich die Gemeinden schockiert und beunruhigt zeigen. Umgekehrt macht mich die rasche Bereitschaft mancher Vertreter der Kirchlichen Sammlung, die gottesdienstliche und brüderliche Gemeinschaft mit anderen abzubrechen, die nicht den gleichen theologischen Standpunkt einnehmen können wie sie selber, nicht weniger besorgt. Ich befürchte auch, dass der aus Kreisen der Kirchlichen Sammlung für die nächste Zeit zu erwartende Versuch der Formierung geschlossener „Bekenntnisgemeinden“ zu voreiliger Selbstabschließung führen könnte, jedenfalls wenn damit anderen, die sich solcher Organisation nicht anschließen konnten, die Bekenntnistreue abgesprochen würde.

Trotz aller Schwierigkeiten, die das Gespräch bei so tiefgreifenden theologischen Gegensätzen, wie sie heute am Tage sind, mit sich bringt, scheint mir dieses nach wie vor die wichtigste uns gestellte Aufgabe zu sein, daß wir einander nicht aufgeben und den anderen nicht sich selbst überlassen, sondern immer neu versuchen, ihn von dem her, was das Beste an ihm ist, zu verstehen, ihn nach dem Grund seiner Position zu fragen und sich ebenso von ihm befragen zu lassen, und auch dann das Gespräch nicht endgültig abzubrechen, wenn erste Versuche unbefriedigend geblieben sind.

Eine der ärgsten Versuchungen unserer Zelt, die durch die Wirkung der heutigen Massenkommunikationsmittel außerordentlich befördert wird, besteht darin, daß wir uns von den jeweiligen Gegnern ein schematisiertes und vergröbertes Bild machen. Dadurch wird es zwar leichter ihn anzugreifen. Aber wir fallen damit aus der Wahrheit heraus und tun ihm vielleicht bitteres Unrecht. Das kann genau so auf dem „rechten“ wie auf dem „linken“ Flügel geschehen. Wir sollten es uns, auch wenn wir noch so viel und mit noch so viel guten Gründen gegen den anderen (etwas) auf dem Herzen haben, es sehr, sehr schwer damit machen, ihm deswegen sein Christsein zu bestreiten und uns über ihn zu erheben, zumal wenn er selbst am christlichen Namen festhält.

Und selbst wenn auch das nicht mehr der Fall wäre, steht das letzte Urteil nicht bei uns, sondern bei dem Herren, dessen Gericht wir miteinander entgegengehen.

Besonders wichtig dürfte es sein, Äußerungen, an denen wir Anstoß nehmen, nicht isoliert zu kritisieren. Soweit es irgend möglich ist, sollten wir versuchen, sie in dem Gesamtzusammenhang, in dem sie gemacht sind, und in ihrer eigentlichen Intention, die vielleicht gar nicht immer in den gewählten Worten zum Ausdruck kommt, zu verstehen. Ich möchte zur Erläuterung noch einmal auf das Beispiel des Artikels über das Heilige Abendmahl aus den Arbeitshilfen des Jugendpfarramts eingehen. Wer hier – m.E. zu Recht – kritisiert, daß die biblischen Aussagen über das Mahl als Herrenmahl und als Mahl der in Seinem Namen zugesprochenen Vergebung hier zu kurz kommen, darf dennoch nicht übersehen, daß der in den Vordergrund gerückte Aspekt der Tischgemeinschaft durchaus auch seine Berechtigung hat und tatsächlich oft genug bis heute in der kirchlichen Abendmahlspraxis zu kurz gekommen ist. Er darf auch nicht übersehen, wie weithin gerade den Jugendlichen, denen die Arbeitshilfe dienen will, jedes positive Verhältnis zum Heiligen Abendmahl verloren gegangen ist bzw. das Heilige Abendmahl ihnen trotz Konfirmandenunterricht und Konfirmation völlig fremd geblieben ist. Die Verfasser und Mitarbeiter des Abendmahlsartikels in der Arbeitshilfe – das darf gewiß vorausgesetzt werden – wollten mit ihren Versuch bestimmt nicht zur Verachtung des Abendmahls führen, sondern in Gegenteil den völlig Entfremdeten einen neuen Zugang öffnen. Das alles darf bei der Kritik nicht übersehen werden, ebenso wie es jammerschade wäre, wenn wegen dieses einen umstrittenen Beitrags willen das vielfältige sonstige gute Material, das in der Arbeitshilfe enthalten ist und die imponierende Team-Arbeit, die hinter dem Ganzen steht, übersehen werden würde.

Dasselbe gilt entsprechend natürlich auch, wo Kritik an einzelnen Äußerungen der Braunschweiger Thesen bezw. an Vertretern der „Kirchlichen Sammlung“ geübt wird. Auch hier darf nicht in Zweifel gezogen werden, daß sie wirklich ehrliche Sorge um die Reinheit der Verkündigung und ein brennender Eifer um die Sache und Ehre unseres Herrn Jesus Christus treibt.

Als ich anfing, diesen Rundbrief zu konzipieren, lautete das neutestamentliche Losungswort: „Wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle“ (1.Kor. 10,12). Wo immer wir in der gegenwärtigen schweren Auseinandersetzung stehen mögen: es wird keiner unter uns sein, der diese Warnung nicht nötig hätte. Erst recht aber darf uns das Losungswort des Tages, an dem dieses Rundschreiben herausgeht, trösten und ermutigen: „Der Herr schafft Recht seinem Volk und wird seinen Knechten gnädig sein“ (Psalm 135,14). Weil er Recht schaffen und Recht behalten will, können und brauchen wir nicht selber Recht zu behalten und können und brauchen im Letzten Sein Recht auch nicht durchzusetzen. Die „Sach und Ehr“ bleibt gottlob die Seine.

Herzlich gedenke ich Ihrer aller, derer, die den Urlaub hinter sich haben, und derer, auf die er noch wartet. Ganz besonders schließe ich in mein Gedenken und in meine Fürbitte diejenigen unter Ihnen ein, über die in den letzten Wochen schweres Leid gekommen ist. Gott sei Ihnen mit Seinem Trost nahe und stärke Sie in der lebendigen Hoffnung.

In herzlicher Verbundenheit Ihr Heintze

Quelle: Landeskirchliches Archiv LBf 189 und Acc. 102/07, Rundbriefe


Anmerkung

1 Hans Otte: Vorsichtige Schritte auf dem Weg der Konföderation, in: Friedrich Weber, Hans Otte: Eigenständig und kooperativ – Evangelisch in Niedersachsen 40 Jahre Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Hannover 2011 S. 130-153.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk