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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

TitelAutor

ueberschrift

In einigen Registraturen der Kirchengemeinden befinden sich noch verstreut einzelne Exemplare der Rundbriefe von Bischof Heintze. Die Goslarer Marktbibliothek hat sie vollständig gesammelt; sie liegen im Landeskirchlichen Archiv unter dem vom Bischofsbüro abgegebenen Aktenbestand vor. Eine Übersicht über alle Briefe mit Angaben über das Erscheinungsdatum, Seitenzahl und stichwortartigem Inhalt ist im vierten Teil dieser Arbeit einzusehen. Im folgenden Quellenteil dieses Arbeitsbuches ist eine Auswahl einiger Briefe mit den nötigsten Anmerkungen zum Verständnis des Textes versehen wiedergegeben. Sie geben eine Einblick über die Absicht der Rundbriefe und über die Themen, die dem Bischof wichtig waren.

Heintze kannte die Übung von Bischofsbriefen aus seiner Hannoverschen Landeskirche. Bischof Lilje schrieb von Zeit zu Zeit an seine Pfarrerschaft, vor allem Betrachtungen zum Predigttext, aber auch, um seine kirchenpolitischen Absichten zu erklären. Heintze setzte diese Übung in seiner eigenen Weise in der Braunschweiger Landeskirche fort. Schon sein Vorgänger im Bischofsamt, Martin Erdmann, hatte dann und wann der Pfarrerschaft Briefe geschrieben, aber sporadischer als dieser.

Bischof Heintze schrieb an die Braunschweiger Pfarrer und kirchlichen Mitarbeiter insgesamt 50 Bischofsbriefe. Er wollte mit seiner Pfarrerschaft in Verbindung sein. Sie sollte wissen, was er denkt, welche kirchenpolitischen Absichten er hat, wo er sich gedanklich aufhält. „Darf ich wieder einmal meinem Denken an Sie in einem Rundbrief Ausdruck verleihen? Lieber wäre es mir, wenn mehr Zeit und Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen mit Ihnen allen wäre, gerade angesichts der vielen Fragen und Sorgen, die uns im Blick auf Gegenwart und Zukunft unserer Kirche bewegen. Ein Rundbrief kann immer nur ein Notbehelf sein. Ich kann auch nur einige wenige Themen anschneiden, die mich zur Zeit besonders beschäftigen, und über die ich gern mit Ihnen sprechen möchte“, schrieb Heintze am 12.11.1970. Heintze verstand die Rundbriefe als Gesprächsersatz, ein „Notbehelf“, wie er es ausdrückte, aber offenkundig mit der Hoffnung auf ein Echo verbunden. Das war in dieser Dichte für die Braunschweiger Pfarrerschaft etwas Neues. Pfarrer waren in der Regel Empfänger, hatten zu folgen, waren aber keine Gesprächspartner, jedenfalls nicht mit dem Bischof. Bischöfe reden mit Bischöfen, Pröpste mit Pröpsten, Pfarrer mit Pfarrern, immer schön die Dienstebene einhalten. Das war der übliche Umgangsverkehr. Mir wurde das anschaulich, als ich einmal den erkrankten Bischof Heintze im Krankenhaus besuchte. Ich dachte mir: wer besucht eigentlich den Bischof, wenn er mal krank ist? Ich pflückte im Pfarrgarten einen üppigen Blumenstrauß und betrat das Krankenzimmer. „Bruder Kuessner“, war der erstaunte Ausruf. Der Bischof erklärte mir die Bilder an den Wänden, die ihm die Enkelkinder gemalt hatten, und ich ging dann auch bald wieder. Draußen beschlich mich ein mulmiges Gefühl. War es für einen Dorfpfarrer unpassend, den Bischof im Nachthemd im Krankenbett zu sehen? Hatte ich die Dienstebenen nicht „eingehalten“ und mich auf eine gewagt, auf die ich nicht hingehörte? Aber nun schrieb der Bischof Briefe, durchaus auch zu persönlichen Anlässen. Weihnachten stand vor der Tür, da tauschte man Weihnachtsgrüße aus und es kam ein Bischofsbrief im Dezember. Im Sommer nahte der Urlaub, also waren Urlaubsgrüße fällig. Er waren also persönliche Briefe, nicht für die Presse bestimmt. Im Sommer 1972 war das Ehepaar Heintze in Rumänien und anschließend war der Bischof Gast auf der Synode in Dresden. „An den Erfahrungen beider Reisen möchte ich Sie gern ein wenig Anteil nehmen lassen. Nehmen Sie es nicht übel, wenn der Brief etwas ausführlicher wird. Dafür ist in der Sommerzeit – im Urlaub oder zu Hause – vielleicht auch etwas mehr Muße zum Lesen gegeben“. (Rundbrief 27.7.1972) Wenn der Abstand zwischen den Briefen zu groß wurde, begründete der Bischof eingangs die eingetretene Pause. Er wollte in einem kontinuierlichen Gespräch mit seiner Pfarrerschaft sein. „Seit meinem letzten Rundbrief sind schon wieder mehrere Monate vergangen. Schon längst wollte ich Ihnen einmal wieder schreiben, kam aber wegen anderer sich häufender zusätzlicher Aufgaben nicht dazu. Mancherlei wäre zu berichten und zu verschiedenen Themen Stellung zu nehmen, die auch für die Entwicklung in unserer Landeskirche wichtig sind und auch Ihr Mitdenken wie Ihre Fürbitte fordern. Ich will mich aber auf paar Punkte beschränken“ (Rundbrief 5.6. 1969). Stellung nehmen – Mitdenken – Fürbitte ist ein Dreiklang, der die Rundbriefe als Hoffnung und Bitte des Bischofs an die Pfarrerschaft durchzieht. Die Briefe waren Signale für eine Antwort, so wie man auch gewöhnlicher Weise Briefe eben beantwortet. Heintze erinnerte gelegentlich verlegen daran. „Vielleicht ist das eine oder andere darin auch für Sie von Interesse“, schrieb er am 6.5.1975 zur Anlage seines Tätigkeitsberichtes vor der Synode. „Über eventuelle Reaktionen Ihrerseits würde ich mich freuen“.

Die Briefe sollten ein Türöffner sein. Der Bischof hatte im ersten Brief angekündigt, dass er sein Amt „vor allem als Besuchdienst“ verstehe und „oft in Pfarrhäuser und Gemeinde kommen möchte“. Heintze hat viele Besuche gemacht, sehr viele sogar. Im Sommer 1967 schrieb er an den Pfarrer im Ruhestand Heinrich Klapproth: „Ich bin noch immer nicht ganz mit den Besuchen bei den aktiven Amtsbrüdern durch“, und entschuldigte sich mit dieser Bemerkung, dass er ihn im Ruhestand noch nicht besucht habe. 1967 hatte die Landeskirche ca. 340 Pfarrstellen. „Nicht ganz durch“ klingt nach einer Menge von Besuchen. Heintze besuchte auch außerhalb der Reihe, nur so. Wenn ein Pfarrerehepaar ins Pfarrhaus eingezogen war, klingelte er und erkundigte sich. Als er ein andres Mal das Pfarrerehepaar nicht antraf, machte er mit der Tochter des Hauses inzwischen Matheaufgaben. So sind auch seine Briefe zu verstehen und zu lesen. Es sind keine abgerundeten Ausführungen, sondern wie Gespräche am runden Tisch, die beim nächsten Besuch fortgesetzt werden sollen. Ich habe das damals nicht verstanden. Als sich der Bischof nach einer Visitation in der Gemeinde zum Besuch anmeldete, besorgte ich Kuchen, und wir saßen im Garten und unterhielten uns. Aber die ganze Zeit beschlich mich das Gefühl: „Was will er eigentlich? Bekomme ich einen Orden, oder ist was nicht in Ordnung? Schließlich verabschiedete er sich. Vielleicht hätte sich der Bischof gefreut, wenn wir im Hinblick auf das gemeinsame Amt zusammen noch gebetet oder ein Lied gesungen hätten. Auf diese Idee kam ich nicht. Für mich stand sein Amt dazwischen. Als er wieder einmal vorbei kam, gab ich ihm das Buch von Francois Mauriac „Das Lamm“ zu lesen, ein schüchterner Hinweis auf meine sexuelle Orientierung. Daraus ergab sich aber kein Gespräch. Es war ein Bischof, der kam und jeden Abstand mied. Und so beendete er auch seine Briefe. Nur im ersten Brief unterzeichnete er mit „Ihr Heintze, Landesbischof“, alle anderen Briefe endeten persönlich „in herzlicher Verbundenheit“ oder „in brüderlicher Verbundenheit“ oder „mit herzlichen Grüßen und Segenwünschen“ oder „mit freundlichem Gruß“. Amt und akademischer Grad sollten nicht dazwischen stehen und waren ihm für das Gespräch unwichtig.

Die Briefe waren persönlich gedacht. Dieser persönliche Charakter wurde daran deutlich, dass der Bischof einen Blick in seinen Bücherschrank genehmigte. Das hat etwas Intimes. Liest er etwa Krimis, oder nur Karl Barth oder Schöngeistiges? Gemeinsam vor dem Bücherregal ist ein Anlass zu persönlichen Gesprächen. Heintze schätzte den frommen Dichterpfarrer Albrecht Goes, dessen beide Novellen über Ereignisse im „Dritten Reich“ „Die unruhige Nacht“ und „Das Brandopfer“ (Brief 3.11.1978). „Wir suchen dich nicht, wir finden dich nicht, du suchst und findest uns ewiges Licht“, zitierte Heintze beim Jahresbeginn 1980 aus dem Weihnachtsgedicht von Goes. Goes hatte auch ein Nachwort zur Buberbiografie geschrieben (Brief 23.6.1878). Er war im Briefwechsel mit ihm, und Goes hatte das Ehepaar im Hildesheimer Dom 1979 getraut. Ein Teil der Trauansprache ist oben wiedergegeben. Unter den Neuerscheinungen für den Gabentisch 1975 und den Weihnachtsurlaub empfahl Heintze Erhard Epplers „Ende oder Wende?“ Mit Eppler hatte Heintze die Zustimmungsaktion zu den Ostverträgen 1972 unterstützt. Weiterhin Jürgen Moltmanns „Kirche in der Kraft des Geistes“, wo Heintze von der Neuentdeckung der Eschatologie angetan war und schließlich die Barthbiografie von Eberhard Busch. Als Gollwitzer 75. Geburtstag 1974 beging, verwies Heintze auf dessen Auslegung des Lukasevangeliums „Die Freude Gottes“ und „Krummes Holz – aufrechter Gang“. An Gollwitzer gefiel Heintze besonders, dass er, wie er schrieb, ein kritischer Lutheraner war. Seine Stimme werde im Luthertum viel zu wenig beachtet (Rundbrief 8.1.1974). Als Heintze im Herbst 1968 von Heinz Zahrnt „Die Sache mit Gott“ gelesen hatte, empfahl er die Lektüre dringend als „sehr klar, sehr lebendig und geradezu spannend geschriebene Übersicht über die theologische Entwicklung im Bereich des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhunderts.“ (Rundbrief. 3.11.1966). Tröstlich fand Heintze die Dichtung von Jochen Klepper und stellte Textstellen aus dessen Tagebuch „Unter dem Schatten Deiner Flügel“ zusammen (Rundbrief Dezember 1967). Im Oktober 1968 starb bei einem Hotelbrand der Redakteur des SONNTAG Richard Grunow, der einen Barthbrevier verfasst hatte, aus dem Heintze zitierte (Rundbrief 19.12.1968). Es war also die Literatur unterhalb des Literaturnobelpreises, aber anregend „für den Dienst“. Und darauf kam es Heintze an. Überhaupt nötige die Entwicklung des letzten Jahres zu intensiver, ernsthafter theologischer Arbeit. „Möchte es dazu gerade auch auf der Pfarrkonventsarbeit in den kommenden Monaten kommen“, wünschte er sich für 1969 (Rundbrief 3.11.1968). Gelegentlich fragte Heintze bei einem Einstellungsgespräch, was der Bewerber zuletzt gelesen habe, und war entzückt, wenn ihm die Lektüre bekannt war und ein Austausch zustande kam. So waren die Literaturhinweise gedacht: ein Anlass zum Austausch.

Es waren keine regelmäßigen Briefe, sondern erfolgten in unterschiedlicher Dichte: in den ersten fünf Jahren 1965 – 1969 waren es insgesamt 25 Briefe: (1965: zwei / 1966 und 1967 je sechs; 1968: sieben; 1969: vier), in den nächsten sechs Jahren 1970 – 1975 15 Briefe: (1970 / 1971 / 1973 je zwei; 1972: fünf, 1974: einen, 1975: drei)), in den letzten sieben Jahren (1976-1982) elf Briefe (1976 keinen, 1978, 1981 und 1982 je einen, 1977 und 1979 je zwei und 1980 vier Briefe). Die Briefe nahmen nach Anzahl im Laufe der Bischofszeit ab, sie wurden auch kürzer. Der ausführlichste Brief aus Anlass der Zulassung von Frauen zum geistlichen Amt, dem sog. Pastorinnengesetz, am 9. Januar 1968, war 18 Seiten lang, ein andere zur inneren Situation der Landeskirche am 12.11.1970 betrug 14 Seiten, die übliche Seitenlänge waren 4–9 Seiten, am Ende der Dienstzeit zwei bis drei Seiten. Die Erwartungen des Bischofs an die Pfarrerschaft nahmen am Ende seiner Dienstzeit ab. Hatte er die Gesprächsbereitschaft der Pfarrerschaft überschätzt? Ich selber habe wiederholt an den Bischof in kirchenpolitischen Fragen geschrieben, aber ich kann mich nicht besinnen, auf einen der Rundbriefe inhaltlich geantwortet zu haben. Ein wesentlicher Grund für die geringer werdende Anzahl der Briefe war rein persönlicher Art. Im Oktober 1977 starb mit 60 Jahren nach 37 gemeinsamen Ehejahren seine Frau Ilse Heintze. Ihr Tod bedeutete einen schweren Einbruch in die Familie und in seine persönliche Lebensgestaltung, die ihn sehr beanspruchte. Es war auch ein schwerer Verlust für die Landeskirche. Denn Ilse Heintze hatte in den Evangelischen Familienbildungsstätten eine breite, nachhaltige Spur hinterlassen. „Lange habe ich mich nicht mehr brieflich an Sie gewandt. Sie wissen, dass das vergangene Jahr für mich unter besonderen äußeren wie inneren Belastungen stand. Und ich danke allen, die meiner in dieser Zeit freundlich gedacht haben. Jetzt, zu Beginn der Winterzeit, die vielen von Ihnen zusätzliche Belastungen bringt, liegt mir sehr daran, Sie herzlich zu grüßen“, schrieb der Bischof erstmals 14 Monate nach dem Tod seiner Frau im November 1978 und nahm damit den abgerissenen Gesprächsfaden wieder auf (am 3.11.1978.). Ein anderer Grund war die Belastung durch die ökumenischen Kontakte. „Schon längst sollten Sie einmal wieder von mir hören. Leider gab es in den letzten Monaten neben der laufenden Arbeit für mich so viele zusätzliche Verpflichtungen, besonders ökumenischer Art, dass ich nicht zu einem Rundschreiben an Sie kam“ (Rundbrief 1.6.1970). Diese ökumenischen Verpflichtungen nahmen in den folgenden Jahren noch zu und erklären die geringer werdende Anzahl der Rundbriefe. Heintze verfiel auf eine Ersatzlösung. Er schickte der Pfarrerschaft seine Berichte vor der Synode zur Kenntnisnahme zu. „Darf ich Ihnen heute dafür einfach meinen Bericht übersenden, den ich am 29. Mai auf der ersten Tagung unserer neugebildeten Landessynode gegeben habe? Ich habe in ihm versucht, einige wesentliche Aufgaben zu bezeichnen, die voraussichtlich auf die neue Synode zukommen werden. Es wird Sie wahrscheinlich nicht alles unmittelbar interessieren. Aber ich meine, dass es gut sei, wenn die synodale Arbeit viel Resonanz und viel Bereitschaft zum Mitdenken findet, ganz besonders auch bei dem Kreis derer, an den dies Rundschreiben gerichtet ist. Wir haben viel Grund denen zu danken, die bislang die Last der synodalen Verantwortung getragen haben, und ebenso denen, die nun neu in diese Verantwortung eingetreten sind“ (Rundbrief 1.6.1970). Tatsächlich waren die Synodalberichte keine Ersatzlösung. Dazu waren sie in der Regel viel zu umfangreich. Sie betrugen 35 Seiten (9.12.1969), 26 Seiten (1.6.1970), 22 Seiten (15.3.1974), 42 Seiten (18.7.1980), 24 Seiten (18.3.1972), 22 Seiten (6.5.1975) usf. „Es wird Sie wahrscheinlich nicht alles unmittelbar interessieren“, wandte der Bischof selber ein, aber die Wirkung war schlimmer. Sie bewirkten eine Gleichgültigkeit und entwerteten damit die persönlichen Rundbriefe, die eine aufmerksamere Lektüre gefunden hatten. Heintze stellte sich seinen Pfarrern als Ausleger der Schrift vor, oft zu Jahresbeginn durch die Auslegung der Jahreslosung zu den Jahren 1966, 1974, 1975, 1977, 1980, 1981 und durch Betrachtungen zur Kirchenjahreszeit: zu Weihnachten 1965, 1967, 1968 und 1969; zur Passionszeit 1966 und 1979, zum Volkstrauertag 1966 und 1972 und zum sog. Hagelfeiertag bzw. Erntebittag 1966. Der Bischof war kein begnadeter, mitreißender Prediger, das hatte er mit dem Ratsvorsitzenden Scharf gemeinsam, Heintze wirkte eher spröde und in seinen Lebenserinnerungen bekennt er, dass er zwar am Freitag die Vorbereitungen für die Sonntagspredigt abgeschlossen und sie schriftlich fixiert hatte, aber ihm fehlte jenes Quantum an Demagogie, die zur volksmissionarischen Rhetorikbrillanz gehörte. Heintze also las vor allem ab. Es gab aber regelmäßige Predigthörer, die gerade diesen nüchternen Stil sehr schätzten, wie Frau Büchsel erzählte. Denn Heintze war ein schriftpräziser, lebensnaher Beobachter und Ausleger des Bibeltextes, wie man noch heute in seinen Rundbriefen nachlesen kann. Dabei teilte er seiner Pfarrerschaft mit, wie er selber dabei überrascht wurde, wenn er einen gängig erscheinenden Text in seinen biblischen Kontext stellte, so z.B. das Losungswort der Herrnhuter Losung Hiob 36,16 „Er reißt auch dich aus dem Rachen der Angst in einen weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist.“ „Ich möchte Ihnen besonders wünschen, dass Sie der in dem Losungswort gemachten Zusage froh werden können“, schrieb Heintze eingangs, fügte dann aber die Beobachtung an, dass dieses Wort aus dem Munde eines der „leidigen“ Freunde Hiobs komme. Jener stehe sich „mit der Selbstsicherheit seiner theologischen Argumentation bei dem, den er aufzurichten und zu trösten sucht, selbst im Wege… Der Zusammenhang, in dem das Wort steht, kann daran erinnern, dass wirkliches Trösten- und Zurechthelfen können auch bei „richtiger“ Verkündigung nicht selbstverständlich ist, sondern letzten Endes Werk des einen „Trösters“ bleibt“ (Rundbrief 5.9.1969). Das unbesehen einleuchtende tröstliche Losungswort wurde durch den Zusammenhang geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Aber solche mitgeteilten Entdeckungen am Text mochten den Empfänger / die Empfängerin ermuntern, selber mehr auf den Zusammenhang eines Bibelwortes zu achten. Es blieb nicht bei der Textauslegung, Heintze machte auch Vorschläge zur Liedauswahl („nicht zu fremdartige am Heilig Abend“), druckte ein psalmartiges Wechselgebet zur unmittelbaren Verwendung ab und empfahl Änderungen bei der Kollekte. Oft waren es landeskirchlich bedingte, kirchenpolitische Anlässe, die Heintze zum Schreiben drängten, so die Veröffentlichung der Braunschweiger Thesen (18.3.1966 und 22.8.1967), das sog. Pastorinnengesetz (9.1.1968), die neue Verfassung, die die alte von 1923 ablöste (5.6.1969), die Zustimmung zur Leuenberger Konkordie (23.2.1973), der Tod seines Vorgängers Bischof Martin Erdmann (20.9.1977), die finanzielle Lage der Landeskirche (23.8.1979). Gelegentlich aber war es auch eine innere Unruhe des Bischofs über die Befindlichkeit der Pfarrerschaft. Im November 1970 schrieb er „zur inneren Situation unserer Kirche“ von den von außen kommenden zunehmenden Angriffen. Sie seien nicht das Bedenklichste. „Bedrohlicher ist das Ausmaß innerer Zerrissenheit, tiefgreifender Unsicherheit und zunehmender Resignation, wie es das Bild der Pfarrer- und Mitarbeiterschaft und weithin die Gemeinden kennzeichnet“ (Rundbrief 12.11.1970).

Aber nicht selten waren es auch hochpolitische Anlässe, auf die Heintze umgehend reagierte: so das Erscheinen der sog. Ostdenkschrift im Oktober 1965, der Vietnamkrieg 1967, die Ermordung Martin Luther Kings und die folgenden studentischen Proteste im Frühjahr 1968, der Einmarsch der Armeen des Ostblocks in die Tschechoslowakei im August 1968, also das Ende des Prager Frühlings, die Bundestagswahl 1969, das Attentat während der olympischen Spiele 1972, der Jom Kippur Krieg 1973, das Geiseldrama um Hans Martin Schleyer und der sog. Terrorismus in der Bundesrepublik 1977. Man spürt dem Brief vom 11.9.1972 noch die Erregung Heintzes über das Attentat der Palästinenser, die Ermordung von elf israelischen Geiseln am 5. September 1972 ab, wie dann doch nach einem Tag der Trauer die Spiele weitergehen und die Beunruhigung, dass selbst dieses schreckliche Attentat binnen kurzem wieder aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwinden wird. Fürbitte „auch für diejenigen, die in ihrem Haß und ihrer Verblendung zu solchen Taten fähig waren oder auch in Zukunft noch sind,“ ist das seelsorgerliche Anliegen des Briefes. Mit bloßer Entrüstung sei es selbst Gewalttätern und Gewaltideologen gegenüber nicht getan.

Manche Briefe hatten einen gezielten, beträchtlichen Informationswert. So erfuhren die Braunschweiger Pfarrer unmittelbar nach der Rückkehr des Bischofs von Reden und Texten aus der DDR. Die Verbindung zur DDR gehörte für Heintze zu den vordringlichen kirchenpolitischen Anliegen. Er gehörte zum offiziösen Kontaktkreis zu den Kirchenleitungen in der DDR. Heintze legte die Erklärung von Bischof Krummacher im April 1967 den Pfarrern in der Anlage bei, in der die organisatorische Einheit der EKD bekräftigt worden war. Er zitierte seitenweise aus der Grundsatzrede von Heino Falcke zum Standort der evangelischen Kirche in der DDR auf der Dresdner Synode von 1972 (Rundbrief 27.7.1972), ebenfalls das Wort des DDR-Bundes zum 30. Jahrestag des Kriegsendes (6.5.75), sowie zu der von den DDR-Kirchen angestoßenen Friedensdekade im November 1980. Diese Textstellen sind deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil sie mit der Auflösung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR und dem übereilten Anschluss der Kirchen an die EKD nach den Ereignissen von 1990 zunehmend marginalisiert werden.

Heintze hatte seine Vorstellungen zur Kirchenreform auf dem Kölner Kirchentag 1963 vorgetragen und verstand die Kirchentage als wesentliche Denkanstöße und Belebung der Gemeindearbeit. So warb er in den Rundbriefen für die Teilnahme an den Kirchentagen in Hannover 1967 und in Stuttgart 1969 und Hamburg 1981. Er führte Kirchentage in der Braunschweiger Landeskirche 1968 durch, beschäftigte sich ausgiebig mit den vorgetragenen Thesen und Argumenten und bereitete einen weiteren Kirchentag für das Jahr 1982 vor.

Die Briefe lassen sich nicht als ein durchgehender Bericht von den Geschehnissen in der Landeskirche lesen. Auf wichtige Ereignisse kam Heintze nicht zu sprechen, obwohl sie für sein theologisches Bemühen bezeichnend sind, wie der erstmalige Besuch eines römischen Kardinals Willebrands in Wolfenbüttel 1972.

Das Echo auf diese Briefe ist schwer abzuschätzen. Gelegentlich bedankte sich der Bischof für eingegangene Post meist zu persönlichen Anlässen. Im Kapitel „Lesende Gemeinde“ sind oben eine Reihe von Antworten aus der Pfarrerschaft auf den Rundbrief vom März 1966 bei der Auseinandersetzung um die Braunschweiger Thesen wiedergegeben. Auch auf seine Position zu den Ostverträgen 1972 erhielt Heintze zustimmende wie abwartende Stellungnahmen aus der Pfarrerschaft. Gelegentlich bedankte sich der Bischof in den Rundbriefen für Post. „Ich danke Ihnen für viel treues Gedenken und Begleiten meines Weges, die mir im abgelaufenen Jahr eine Hilfe waren.“ (Rundbrief 8.1.1974). „Viele haben meiner und meiner Familie zum vergangenen Weihnachtsfest und Jahreswechsel wie auch aus Anlass des Leidens und Sterbens meiner zweiten Tochter im Februar gedacht oder mich zum Abschied aus meinem Amt gegrüßt.“ (Rundbrief 22.3.1982). Der Bischof erlebte in der Landeskirche viel persönliche Anteilnahme. Aber nicht nur aus der Pfarrerschaft. Die Rundbriefe wurde auszugsweise vom Evangelischen Pressedienst und von der Lokalredaktion des SONNTAG / Evangelische Zeitung in die Öffentlichkeit gebracht, was dem Bischof schließlich durchaus recht war. Die Reaktionen der weiteren Braunschweiger Bevölkerung auf seine Äußerungen zur Ostdenkschrift (1965), zu den Ostverträgen (1972) und zum Antirassismusprogramm des Ökumenischen Rates (ab 1972) waren meistenteils unverschämt und haarsträubend. Es waren grobe Gegenpositionen und hatten mit einem Gedankenaustausch, wozu die Rundbriefe eigentlich gedacht waren, nichts zu tun. Wie weit mit der Pfarrerschaft ein fließender Austausch der Meinungen zustande kam, ist ungewiss. Die Schreiben in den 12 Aktenbänden, die die Korrespondenz mit der Pfarrerschaft enthalten, beziehen sich meistens nicht auf die Rundbriefe. Keine Antworten habe ich etwa zu der Frage eines weiteren Weges der Landeskirche, ob in eine Minderheitenkirche oder doch in eine verkleinerte Volkskirche, gefunden, oder zu der Zielvorstellung des Miteinanders mit der katholischen Kirche: „Wiedervereinigung der Kirchen“ oder Einheit in versöhnter Vielfalt. Es könnte sein, dass weitere Detailarbeiten ein differenzierteres Meinungsbild ergeben. Dem Bischof blieb die Erfahrung nicht erspart, dass Erfahrungen und Ereignisse, die ihn bewegt und erfüllt hatten, nicht auf ein ebenso brennendes Interesse der Empfänger stieß. Die Rundbriefe bleiben auch darin eine authentische, persönliche Quelle für die Gestalt von Bischof Heintze.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk