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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

Erinnerungen der Zeitgenossen

Lernende Kirche oder: Rufer gegen ökumenische Müdigkeit

Wilfried Steen


Die Epoche „Heintze“

Was für eine Zeit! Für viele in unserer Landeskirche war es ein Signal der Hoffnung, als Gerhard Heintze 1965 in sein Amt als Landesbischof eingeführt wurde. Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung hatte nicht nur in der Kirche Furore gemacht. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil öffnete sich die römisch-katholische Kirche dem Dialog mit der Gesellschaft stärker als je zuvor. Martin Luther Kings Ermordung 1963 hatte dem Kampf gegen den Rassismus neue Energie verliehen. In der Tschechoslowakei meldete sich ein Sozialismus mit menschlichem Gesicht zu Wort. 1963 kam mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt unter maßgeblicher Vorarbeit des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer erstmals eine Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in Gang, die von der deutschen Öffentlichkeit eine mächtige Wirkung entfaltete. „In Westdeutschland jedoch herrschte noch immer der Geist Adenauerscher Sicherheitspolitik und allgemeiner Stagnation: „Keine Experimente: Wählt CDU“ proklamierte ein bekanntes Plakat. Willy Brandt proklamierte stattdessen mit wachsender Resonanz: „Mehr Demokratie wagen.“


Hoffnung auf eine tiefgreifende Reform der Kirche

Die Öffnung der Kirche zur Gesellschaft hin wurde in der Amtszeit von Landesbischof Dr. Gerhard Heintze auch in einigen Bereichen der braunschweigischen Landeskirche mit Nachdruck betrieben. Ich nenne nur das Pastorinnengesetz, den Aufbau der landeskirchlichen Dienste, speziell auch in der Jugendarbeit, das Diakoniegesetz. Was haben diese Reformen gebracht, wenn wir dies aus heutiger Sicht betrachten? In einigen Bereichen haben die Reformen Erfolge gezeitigt. Die Frauenordination war überfällig und unverzichtbar und in Braunschweig ein Sieg der historisch-kritischen Auslegung über ein biblizistisches Verständnis der Bibel. Das hat aber die Kirche insgesamt nicht per se erneuert. Manche Modernisierungen haben aber – das müssen wir eingestehen – Prozesse der Selbstsäkularisierung in der Kirche begünstigt.

Aber dies später. Meine ersten kirchlichen Erfahrungen als Jugendlicher waren streng lutherisch geprägt. Ich bin in der Tradition der Gemeinde Brüdern-St. Ulrici aufgewachsen und habe dort Pfarrer Dr. Hellmut Lieberg erlebt. Die Schola (liturgischer Chor) gestaltete die Gottesdienste und Tagzeitengottesdienste. Dies konnte nur mit ehrenamtlicher Unterstützung stattfinden. Dadurch habe ich gelernt, wie grundlegend lebendige Liturgie für den Gottesdienst ist. Auch theologische Auseinandersetzungen fanden da schon ihren Raum in den Jugendstunden. Wo sonst in der Jugendarbeit werden Fragen wie Amt und Ordination bei Luther und Melanchthon verhandelt? Als Ruheständler heute sehe ich, wie sehr die lutherischen Kreise um Brüdern darum bemüht waren, eine Kirche zu leben, die als Bollwerk gegen die moderne Zeit und deren ethische Auffassungen stand. Sie wollten in der Kirche ein Luthertum, das konservierte und nicht infrage stellte. Pfarrer waren nach der Amtsauffassung Hirten im Gegenüber zur Gemeinde. Das kirchliche Amt trug einen „character indelebilis“. Schon die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war Sündenfall und Untergang. Bei den täglichen Bibellesungen in den Tagzeitgottesdiensten Mette, Vesper und Complet erinnere ich mich an die Bibellesungen aus der revidierten Ausgabe von 1912. Revisionen danach wurden als modernistisch abgelehnt. Wir empfingen zum Aschermittwoch das Aschenkreuz, obwohl das im Sondergesetz von 1953 untersagt worden war. Als Schola in weißen Chorgewändern haben wir natürlich vor dem Gottesdienst auch Weihrauch geschwenkt – im Gottesdienst war dies als zu „katholisch“ nicht statthaft. Wir fanden es aber gut, eindeutig bekennende Lutheraner zu sein und vor dem Abendmahl zu unterschreiben, dass wir an die Realpräsenz glaubten. Die Wahl von Gerhard Heintze zum Landesbischof war für Pfarrer Dr. Hellmut Lieberg ein Schock. Hier übernahm jemand mit einer anderen Amtsauffassung das Leitungsamt der Kirche. Dass bei der Amtseinführung auch unierte kirchenleitende Persönlichkeiten die Hand auflegten, war für ihn schlimm. Die Braunschweiger Thesen von 1966, die maßgeblich von Hellmut Lieberg mitverfasst waren, zielten indirekt auf Heintzes Absetzung als Bischof.

Letzten Endes bin ich durch diese Gemeinde zum Theologiestudium gekommen. Wahrscheinlich, weil das Fremde und Ungewohnte mich als Jugendlichen so anzog. Ich studierte zuerst in Oberursel, dieser lutherischen „Kaderschmiede“, und habe die Bekanntschaft mit der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche gemacht – auch das nicht schlecht. Besonders die theologischen Pirouetten, die in den Proseminaren bei der Begründung der Verbalinspiration gedreht wurden, fand ich ziemlich eindrucksvoll. Dann mit dem Studium in Heidelberg, begann sich mein Horizont auch theologisch zu weiten. Durch die ESG bekam ich Kontakte zum Sozialpolitischen Arbeitskreis (SPAK), einem „linkslastigen“ Unternehmen, das mit Obdachlosen arbeitete. Dieses hat mich dann fasziniert und auch geprägt. Auch im Jugendpfarramt hier in Braunschweig haben wir das fortgeführt: Arbeit mit Obdachlosen, Freizeiten für Kinder aus Obdachlosenunterkünften an der Ostsee. Das gibt es alles heute in veränderter Form, ist aber meistens aus der Kirche ausgewandert. Von 1982 – 88 habe ich – nach sechs Jahren Gemeindepfarrer in der Braunschweiger St. Pauli-Gemeinde – als Landesjugendpfarrer das Amt für Jugendarbeit geleitet und erkannt, dass gerade eine Landeskirche wie die braunschweigische unbedingt etwas mitbekommen muss vom Atem der weltweiten Ökumene, damit die Kraft zur Erneuerung nicht ausgeht.


Uppsala und die Folgen

Für Gerhard Heintze war die IV. Vollversammlung des Weltkirchenrates in Uppsala prägend. Diese Versammlung der Weltchristenheit fand unter dem Thema „Siehe, ich mache alles neu“ statt. Zu den zentralen Ereignissen jener Jahre zählte die sich verstärkende Kooperation zwischen dem Ökumenischen Rat der Kirchen und der katholischen Kirche in der weltweiten sozialen Verantwortung. Ein gemeinsamer Ausschuss für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden wurde geschaffen (SODEPAX).2 Ein gemeinsames Vorgehen der Kirchen im Blick auf eine weltweite wirtschaftliche und soziale Entwicklung gegen Armut und Unrecht erschien unabdingbar. Landesbischof Heintze selbst war der noch heute bedeutsamen Sektion IV zugeteilt: Auf dem Wege zu Gerechtigkeit und Frieden in internationalen Angelegenheiten. Den Vorsitz hatte Professor Ludwig Raiser aus Deutschland. Die Vollversammlung empfahl den Mitgliedskirchen in den Industrieländern, ihre Anstrengungen für den Entwicklungsdienst und zwischenkirchliche Hilfe zu verstärken. Zwei Prozent ihres Einkommens bzw. der Haushaltsmittel sollten zur Hilfe für die Armen zur Verfügung gestellt werden.

Mit Uppsala wird die ökumenische Aufgabe neu formuliert: Es geht nicht mehr nur um die Erneuerung der Kirche, sondern um die Erneuerung der Welt! Vorausgegangen ist ein zunehmender Druck der jungen Mitgliedskirchen aus den Ländern des Südens unseres Erdballs. Diese bestimmten mehr und mehr die Tagesordnung der ökumenischen Bewegung. Sie beklagten lautstark steigende Armut, Ausbeutung durch die Industriestaaten und anhaltenden Rassismus. Diese Kirchen konnten sich nicht damit abfinden, dass ihre „Mutterkirchen“, aus deren Missionsarbeit sie entstanden waren, in den Industrieländern eine zerstörerische Politik legitimierten und nicht nachdrücklich den abendländischen Fortschrittsglauben als falsches Evangelium brandmarkten.3 Uppsala ist eine Initialzündung. Aus den Appellen leitet sich auch das „0,7 Prozentziel“ der Vereinten Nationen her, das 1970 formuliert wurde. Die reichen Nationen sollen mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungshilfe aufwenden. Auch wenn dies bis heute nicht erreicht werden konnte, so hat doch der Appell von Uppsala zu einer wesentlichen Steigerung der Anstrengungen zur Bekämpfung von Hunger und Armut beigetragen. Fazit: Der Aufbruch unserer braunschweigischen Kirche, die bis in die sechziger Jahre in der Restauration verharrte, hat Folgen gehabt. Faktisch hat dazu beigetragen, dass sich die Volkskirche bis in die heutige Zeit einigermaßen über Wasser gehalten hat.


Kirche für weltweite soziale Gerechtigkeit

In manchen Bereichen wie dem Eintreten der Kirche für weltweite soziale Gerechtigkeit ist es allerdings gelungen, die Bewegung damals zu nutzen, um in Hinsicht auf weltweite Solidarität und Ökumenizität bis heutzutage Zeichen zu setzen. … Ein Beispiel ist für mich der Landessynodale Dietrich Kuessner. Als der damalige Finanzdezernent Fischer Anfang der neunziger Jahre versuchte, den Beitrag der Landeskirche zum Fonds für Kirchlichen Entwicklungsdienst zu senken, rief er in das Plenum: „Wollen Sie, dass die Menschen in Afrika verhungern?“ Keiner wagte daraufhin mehr, eine Reduzierung zu beantragen. Das Wirken der kirchlichen Entwicklungswerke Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst ist zur Erfolgsgeschichte der Kirche in Hinsicht auf die praktische Unterstützung von Menschen in Afrika, Asien. Lateinamerika und ein Beispiel für ökumenisches Teilen geworden. Aus christlichen Initiativen und kirchlichen Werken werden in Deutschland jedes Jahr ganz konservativ gerechnet ca. eine Milliarde an Mitteln für Entwicklungsprojekte bereitgestellt. Das ist nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch der Qualität. Gerade im Fairen Handel haben kirchliche Initiativen eine Verbraucherinitiative nach vorn gebracht, die sich weltweit sehen lassen kann. Dies ist Produkt der siebziger Jahre, zum Beispiel der Gründung des Kirchlichen Entwicklungsdienstes, dem sich auch die Braunschweigische Landeskirche anschloss. Es fanden „Hungermärsche“ der Jugendarbeit statt, an denen Heintze als Bischof teilgenommen hat, um den Skandal aufzuzeigen, dass Menschen im Süden unseres Erdballs hungern müssen, obwohl es in den Industrieländer Überfluss gibt. Die Bilanz der Heintze-Epoche ist, wie vieles in der Kirche, durchwachsen. Aber viele Aufbrüche im Bereich der Gerechtigkeitsarbeit der Kirche sind – ausgelöst durch die Weltkonferenz von Uppsala – eben nicht untergegangen, sondern nach einer Initialzündung zu Erfolgsmodellen geworden: Am Beispiel der Kampagne der Frauenarbeit in der EKD „Keine Früchte der Apartheid“ können wir feststellen, dass solche zuerst verlachten Verbraucher-Aktionen scheinbar stabile Unterdrückungssysteme wie das südafrikanische Apartheidsregime ins Rutschen gebracht haben. Wir selbst haben unsere Jugendarbeit verstanden im ökumenischen Kontext. Eine steigende Faszination verbanden wir mit internationalen Begegnungen, mit dem Kennenlernen anderer Kirchen und ihrer Lebens- und Arbeitsformen.

Der Einsatz für mehr Gerechtigkeit wurde besonders am Thema fairer Handel praktiziert. Der Faire Handel, aus kleinsten Anfängen und in beharrlicher ehrenamtlicher Arbeit entstanden, blühte im Laufe der Jahre auf. Heute ist er eine ernstzunehmende Bewegung gerechten Wirtschaftens, die vielen Kleinbauernfamilien in Entwicklungsländern ein Überleben ermöglicht. Ebenfalls gab es diese Entwicklung bei Oikocredit, einer genossenschaftlichen Organisation zur Vergabe von Kleinkrediten in Entwicklungsländern.

Die evangelische Jugendarbeit hat wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen. In der kirchlichen Jugendarbeit gab es eine Bewegung weg von der Jugendverbandsarbeit, von der Lederhosen- und Fahrtenhemdenkultur hin zur Jugendsozialarbeit. Die Jugendlichen von der Straße ansprechen – das war die Devise. Dazu brauchten wir professionelle Unterstützung wie Diplom- Sozialarbeiter und Diplom-Sozialpädagogen. Denn nur diese Fachkräfte waren in der Lage, mit den Jugendlichen ihre Sprache zu sprechen. Heute würde ich bilanzieren: So wichtig diese Anstöße der Offenen Jugendarbeit waren – für die Kirche und ihre Erneuerung haben sie zu wenig bewirkt. Mittlerweile sind viele der Stellen für Diakone/Diakoninnen/Sozialpädagoginnen wieder gestrichen, Jugendräume geschlossen. Wir hätten nicht alle Kräfte in die Professionalisierung stecken sollen, sondern in die Stärkung der Ehrenamtlichenstrukturen in der Jugendverbandsarbeit! Die Verbände christlicher Pfadfinder zum Beispiel haben sich bis heute als unabhängige Jugendgruppierungen stabil erhalten können.

Die damaligen Entwicklungswerke der evangelischen Kirche Brot für die Welt, Dienste in Übersee, Evangelische Zentralstelle, Kirchlicher Entwicklungsdienst der EKD und Ökumenisch-Missionarischer Weltdienst haben ihre Arbeitsmöglichkeiten aus bescheidenen Anfängen ausbauen können und sind im Laufe der Jahrzehnte vom Schicksal der Einsparungen weitgehend verschont geblieben. Sie sind heute aktuell im Werk Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst zusammengeschlossen. Sie tragen dazu bei, dass ökumenische Partner und Partnerkirchen in den Ländern des Südens ihren Kampf gegen Hunger und Armut und für mehr Menschenrechte weiterführen können. Ich habe in diesem Bereich von 1991 bis 2009 mitarbeiten können, zuerst im Kirchenamt der EKD als Geschäftsführer der Kammer für Kirchlichen Entwicklungsdienst, dann als Geschäftsführer des Kirchlichen Entwicklungsdienstes und nach der Fusion zum Evangelischen Entwicklungsdienst als Vorstand bis zu meinem Ruhestand. Bischof Heintze hat in seiner Zeit diese Arbeit immer wieder unterstützt, nicht nur durch die Teilnahme an den Hungermärschen der Jugendarbeit in den siebziger Jahren.


Ökumenische Kirche ist lernende Kirche

Was bleibt von der Ansätzen der damaligen Zeit? Wer kennt in unserer Landeskirche noch den AÜD, der Arbeitsgemeinschaft Übergemeindlicher Dienste? Dieses Gremium ist Beispiel für vieles, was Episode blieb von den Aufbrüchen der damaligen Zeit, obwohl Gerhard Heintze immer noch recht hat, wenn er betont hat, dass Aufgabenbereiche der Kirche ohne spezielle Fachleute nicht mehr auskommen.4 Jugendarbeit und andere landeskirchliche Dienste sind nicht nur durch die Sparmaßnahmen der vergangenen Jahre wieder auf Minieinrichtungen geschrumpft.

Aber es wäre sicherlich nicht im Sinne von Gerhard Heintze, wenn hier eine „Hochglanzbilanz“ der siebziger Jahre vorgelegt würde. Er selbst hat gewusst, wie sehr ein Denken, das sich aus der Enge parochialen Beharrens löst, wieder und wieder auch bittere Niederlagen einstecken muss. Ökumene ist ein Prozess der Sysiphusarbeit. Wir könnten das Versanden vieler kirchlicher Reformbemühungen der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bilanzieren: Nehmen wir nur Demokratisierung und Ausbau des Ehrenamtes in der Kirche. Da ist viel steckengeblieben und verkümmert. Unsere Kirche ist nach wie vor eine Kirche, die von Hauptamtlichen geprägt ist. Auch in der „Konfessionsökumene“, die Gerhard Heintze noch in seinen Ruhestandsjahren in Stuttgart sehr am Herzen lag, hat sich nicht viel bewegt, wie erst kürzlich von der Initiative „Ökumene jetzt“5 beklagt wurde. Dort heißt es: „Wir wollen nicht Versöhnung bei Fortbestehen der Trennung, sondern gelebte Einheit im Bewusstsein historisch gewachsener Vielfalt“. Dem hätte Gerhard Heintze von Herzen zustimmen können. Gerhard Heintze hat Kirche als lernende Kirche verstanden. Er wurde nie müde, diese Prozesse des Lernens immer wieder neu anzuregen6. Der damalige Predigerseminardirektor Hans-Adolf Oelker unterstreicht noch heute, wie sehr Heintze ihn bei der Reform der Vikarsausbildung gegen die beharrenden Kräfte in der Landeskirche unterstützt hat. Auf der Landessynode 1972 um Thema „Oekumenische Verantwortung der Ortsgemeinde und der Regionalkirche“ nimmt Heintze in seiner verbindlichen, aber doch beharrlichen Art Stellung zur Lage der Ökumene. Er wirbt vehement für mehr Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und den Freikirchen sowohl auf Ortsebene als auch auf regionaler Kirchenebene. Er ermutigt dazu, die Einheit der Kirchen auf allen Ebenen zu leben und sich nicht mit Absichtserklärungen zufrieden zu geben. Dabei bleibt er Realist und sieht (wohl besonders im Blick auf die eigene Landeskirche): „Ich glaube, auch die Dialogfähigkeit der Christen untereinander ist erst im Anfangsstadium und muss noch intensiv entwickelt werden.“7 Er betont die innere geistliche Kraft der Freikirchen und wirbt für eine stärkere Beachtung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK). Neben dieser „Konfessionsökumene“ ist für Heintze aber auch die „Gerechtigkeitsökumene“ von zentraler Bedeutung. Er erörtert 1972 sogar eine Zusammenlegung von Brot für die Welt und dem katholischen Hilfswerk Misereor. Schon damals wird gesehen, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen den Hilfswerken der beiden großen Kirchen ist. Sie wird in den kommenden Jahren zum Beispiel für praktizierte Ökumene. Dazu wird die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) gegründet, die mit leitenden Persönlichkeiten beider großen Kirchen dazu beiträgt, dass die Kirchen zumindest im Bereich der weltweiten Armutsbekämpfung bis heute mit einer Stimme sprechen. 8 Das ist etwas in einer Zeit wie heute, in der die Kirchen in eine gesellschaftliche Isolation hineinzurutschen drohen.

Heintze schließt sein Referat auf der Synode 1972 mit einem Aufruf zu mehr ökumenischer Offenheit. Niemand möge sich durch Enttäuschungen entmutigen lassen. Alle ökumenische Arbeit in der Landeskirche und in ihren Gemeinden stehe unter dem Vorzeichen: „Darum werden wir nicht müde“ (Kor. 4,16).9 Dem ist heute nichts hinzuzufügen, außer diesem: Auch in dieser Zeit wollen wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass unsere Kirche immer wieder neue Anstöße bekommt, damit sie als Teil der Ökumene bewusst lernende Kirche bleibt.


Anmerkungen

1 Jürgen Moltmann, Referat Augustana Hochschule Neuendettelsau 2007
2 Konrad Raiser: Dienst und Solidarität: Ökumenische Perspektiven der Diakonie, In Schober, Kunst, Thimme (Herausgeber), Oekumene – Gemeinschaft einer dienenden Kirche, Verlagswerk der Diakonie, Seite 276 ff
3 Bericht aus Uppsala 1968, hg von Norman Goodall, Deutsche Ausgabe besorgt von Walter Müller-Römheld, Seite 62ff
4 Dialog, Festausgabe zum 60. Geburtstag von Landesbischof Dr. Gerhard Heintze 3/72, Seite 17, Otmar Hesse, Übergemeindliche Arbeit in der ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig
5 Website: www.Ökumene-jetzt.de
6 Hans-Adolf Oelker hat in einem Gespräch mit mir am 14. September 2012 auf die Bedeutung der „lernenden Kirche“ im Denken Gerhard Heintzes aufmerksam gemacht.
7 Oekumenische Offenheit in der Landeskirche, in: Kurier der Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig, 8. Jahrgang Nr. 3/78, Seite 22
8 Ich selbst habe als Geschäftsführer des Kirchlichen Entwicklungsdienstes der EKD und später als Vorstand des Evangelischen Entwicklungsdienstes daran mitwirken können.
9 Heintze, Oekumenische Offenheit in der Landeskirche, ebd. Seite 23


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk