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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

Erinnerungen der Zeitgenossen

Die goldenen Jahre

Geert Beyer

Auf dem Weg zur Lorenzkirche in Nürnberg begegnete mir Bischof Gerhard Heintze. Auch er war auf dem Weg zu einer Bachkantate, musiziert und gesungen von allen 3000 in der Kirche versammelten Besuchern, ein einzigartiges Erlebnis. Es war nur einer von vielen Höhepunkten eines Kirchentages, der wie die Kirchentage davor und danach die Menschen im wahrsten Sinn begeisterte. Ich war mit Jugendlichen aus Schöningen dort. Heute muss ich lächeln, wenn ich mich daran erinnere, wie sie Hand in Hand „Komm, lass diese Nacht nicht enden“ singend durch Nürnbergs Straßen zogen. Genau so taten sie es in Hinterglemm bei einer Agapefeier im Rahmen unserer Konfirmandenfreizeiten. Geradezu wehmütig denke ich an jene Zeit zurück, in der sich die Jugendlichen ganz selbstverständlich für die Kirche begeistern ließen, sich engagierten, eine gemeinsame Sprache in der Musik und in den Liedern gefunden hatten und ein gemeinsamer Ausdruck ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte in Engagements zur Bewahrung der Schöpfung, des Friedens zum Ausdruck kam. Die Kirchentage waren eben nicht singuläre Leuchttürme einer spirituell und gesellschaftspolitisch sonst toten Kirche, sondern bündelten das vielfältige spirituelle und politische Leben der Gemeinden. Die Kirchentagsliederhefte waren zugleich Gesangbücher der Gemeinden – und nicht nur der Jugend. Ich erinnere mich an eine liturgische Nacht in Schöningen. Wir hatte aus der ehrwürdigen St. Vincenz Kirche die Bänke entfernt und durch Stühle und Kirchentagshocker ersetzt. Bei dem mehrstündigen Gottesdienst mit Band und Chor sprach ich einen über 80jährigen Mann an. Er sagte: „Dass ich so etwas Schönes noch erleben darf!“ Wie nachhaltig diese Zeit gewirkt hat, wurde mir vor einigen Jahren in der St. Pauli Kirche in Braunschweig bewusst. Nach einem Gottesdienst für verwaiste Eltern, seit über 10 Jahren eine feste Tradition in der Gemeinde, sprach mich der Vater eines gestorbenen Kindes an: „Kennen Sie mich noch?“ Ich verneinte. Dann sagte er nur: „Hinterglemm 1978“. Er war einer der Konfirmanden jenes Jahrganges und hatte seine Konfirmandenzeit nicht vergessen. Jetzt erlebte er wieder die Kirche als heilsamen Raum der Begegnung. Welch eine Bewegung ging durch die Kirche, wenn Sonderzüge mit Konfirmanden in Begleitung des Bischofs nach Südtirol fuhren im KFS, einem bundesweit einzigartigen KU Model. Agapefeiern waren damals ausgesprochene Highlights in der Gemeindearbeit. Nach einer Agape gingen Jugendliche um Mitternacht mit Resten des Abendessens durch Schöningen zu Orten, an denen Menschen ihren nächtlichen Dienst an der Allgemeinheit taten: Krankenhaus, Feuerwehr, Polizei und überbrachten einen kleinen Gruß von der Kirche. Wenn die Jugendlichen bei so einer Agape die altehrwürdigen Abendmahlsgeräte aus der Kirche holen ließen, war dies keine Entweihung, sondern im Gegenteil Ausdruck der Achtung und Liebe gegenüber dem Sakrament. Taizé ist ein weiteres Beispiel für diesen „Kleinen Frühling der Kirche“, wie Papst Johannes 23. einmal liebevoll sagte. In Salzgitter Lebenstedt entstand eine Taizégruppe Jugendlicher, die sich 10 Jahre lang wöchentlich mindestens einmal traf zur Andacht, Bibellesung und Abendessen. „Johanneische Stunden“ nannten wir diese Treffen in Anlehnung an Taizé. Es war eine der konstantesten Gruppen, die ich je erlebt habe. Sie gestaltete völlig selbständig einen Gottesdienst am Heiligen Abend 1989, als ich krankheitsbedingt ausgefallen war. Eines Tages erschien zur Andacht ein Drogensüchtiger, der von da an regelmäßig teilnahm und die Andacht durch lautes und obszönes Reden störte. Ich meinte dann, die Gruppe vor ihm schützen zu müssen, sprach darüber und war zutiefst beschämt, als ich von der Gruppe hörte, sie müssten diesen Mann ertragen. Hatten sie mehr von Nächstenliebe begriffen, als ich? Wenige Monate danach war er tot. Und vergangen sind jene Zeiten, Jahre des Aufbruchs voller Energie und Hoffnung. Geblieben sind die Erinnerungen. Nur Erinnerung? Noch fahren die Sonderzüge nach Südtirol. Noch fahren Konfirmanden und Teamer nach Hinterglemm, noch fahren Jugendliche Jahr für Jahr von St. Pauli nach Taizé, noch ist die Jugendkirche nicht geschlossen. Die Zeiten haben sich geändert. Von Aufbruchstimmung in Kirche und Gesellschaft ist derzeit kaum etwas zu spüren. Eher verspüren wir den kalten Atem der Restauration. Es war Johann Sebastian Bachs Kantate zu dem bekannten Choral: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehre“. Der Erfolg war so überragend, dass man ihn auf einem späteren Kirchentag wiederholen wollte, was, wie leicht zu verstehen ist, nicht recht gelang. Vergangenes ist Geschichte, der Geist ist lebendig.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk