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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

Erinnerungen der Zeitgenossen

Studentengemeinde zeigte Mut zum politischen Engagement

Manfred Laube

Aus studentischer Perspektive bot die braunschweigische Landeskirche in den 1970er Jahren eine Menge an Reibungspunkten. Einzelne Konflikte wie eine öffentliche Diskussionsveranstaltung mit dem hannoverschen Psychologieprofessor Peter Brückner, der die Terroristin Ulrike Meinhoff beherbergt hatte, eskalierten dermaßen, dass sich die Landeskirche öffentlich von ihrer Studentengemeinde distanzierte.

Landesbischof Gerhard Heintze griff nicht selbst in die Auseinandersetzungen ein. Von der ESG wurde er so wahrgenommen, als hielte er im Hintergrund schützend seine Hand über den unbequemen Haufen in der Braunschweiger Pockelsstraße. Im Landeskirchenamt in Wolfenbüttel war Oberlandeskirchenrat Henje Becker für die ESG verantwortlich, der die ESG zähmen und integrieren wollte.

Die Landeskirche setzte zu diesem Zweck einen „Begleitenden Ausschuss“ mit Pfarrer Alwin Block als Vorsitzenden ein und berief unter anderem (konservative) TU-Professoren in dieses Gremium. Weitere Konflikte waren damit vorprogrammiert. Die ESG musste ihr jeweiliges Semesterprogramm dem Ausschuss vorlegen und fühlte sich kontrolliert. Die Studenten wollten damals keine Hochschulgemeinde, die die Professorenschaft in irgendeiner Form einbezog.

Damals schrieben sich die ersten Frauen für den Studiengang Elektrotechnik ein. Selbst, wenn die Studentinnen in der ersten Reihe saßen, eröffnete der Professor die Vorlesung mit den Worten „Guten Morgen, meine Herren!“ Die Braunschweiger TU-Professorenschaft blieb lange konservativ. Politisch linke Dozenten fanden sich da schon eher an der damals noch selbständigen Pädagogischen Hochschule (PH), darunter auch der evangelische Theologieprofessor Reinhard Dross.

1974 schien der politische Freiraum der Evangelischen Studentengemeinde gefährdet. Das Landeskirchenamt hatte den Studentenpfarrer Jens Ball wegen seiner außerehelichen Beziehung zu seiner späteren Ehefrau vom Dienst suspendiert. Der Betroffene schien sich mit seiner Versetzung eher abzufinden als die Gemeinde. Aus der Sicht der ESG galt es, wachsam zu sein. Das galt insbesondere für die Wiederbesetzung der Stelle des Studentenpfarrers.

Die meisten in der ESG waren links, aber undogmatisch. Die ESG verstand sich als „Durchlauferhitzer“ für politisches Engagement auch anderswo. Die Studenten suchten nach alternativen Lebensformen. Viele wohnten in Wohngemeinschaften. Politische und persönliche Emanzipation gehörten zumindest theoretisch zusammen. Aus der Arbeit der ESG entstand das Martinswerk. Es war lange Jahre eine Institution in Braunschweig. Wohngemeinschaften hatten es zu dieser Zeit nicht leicht, Vermieter zu finden. Deshalb mietete das Martinswerk die Wohnungen und sorgte für kontinuierliche Belegung und Mietsicherheit.

Die politische Szene an der Uni war durch die Auseinandersetzungen insbesondere mit den K-Gruppen und unter den K-Gruppen bestimmt. Als Kommunisten rivalisierten der Kommunistische Studentenbund (KSB), die Kommunistische Studentenvereinigung (KSV) und der Marxistische Studentenbund Spartakus. Für den MSB Spartakus saß Michael Heinrich im Vorstand des AStA. Der Psychologe arbeitete später in der Evangelischen Stiftung Neuerkerode und profilierte sich als Vorsitzender der Mitarbeitervertretung und bundesweit als Akteur gegen arbeitsrechtliche Sonderstellungen von Diakonie und Kirche. Der bis heute kommunalpolitisch aktive Peter Rosenbaum, der zuvor noch bei den Jungsozialisten der SPD den Marxismus-Arbeitskreis geleitet hatte, kämpfte für den KSB. In der Pädagogischen Hochschule PH spielte die Juso-Hochschulgruppe eine große Rolle. Der spätere Stadtrat Ulrich Markurth begann hier seine politische Karriere.

Der Lyriker Erich Fried besuchte mehrere Male die ESG und beeindruckte mit seinen Lesungen die Zuhörer. Den Streit unter den K-Gruppen thematisierte er unter der Überschrift „Konflikte unter Alleinerben“:

Mein Marx wird deinem Marx
den Bart ausreißen

Mein Engels wird deinem Engels
die Zähne einschlagen

Mein Lenin wird deinem Lenin
die Knochen zerbrechen

Unser Stalin wird eurem Stalin
den Genickschuss geben

Unser Trotzki wird eurem Trotzki
den Schädel spalten

Unser Mao wird euren Mao
im Jangtse ertränken

damit er dem Sieg
nicht mehr im Wege steht

Erfolglos versuchten K-Gruppen immer wieder, die ESG auf ihre Seite zu ziehen. Das gelang ihnen nicht in der pfarrerlosen Zeit und erst recht nicht, als Herbert Erchinger die Stelle des Studentenpfarrers übernommen hatte. Am 22. Januar 1977, kurz vor Erchingers Amtseinführung, erschien in der „Braunschweiger Zeitung“ ein ausführlicher Bericht über den neuen Studentenpfarrer. Die stellvertretende Leiterin der Lokalredaktion, Ilse Stephani, hatte den dreispaltigen Bericht veranlasst. Er erschien im Kasten unter der Überschrift: Gespräch mit dem neuen Studentenpfarrer: „Mut zum gesellschaftlichen Engagement“ – Herbert Erchinger: Wachsam sein gegenüber jeder Art von Ideologie.

Erchinger beschrieb die ESG als „ein Experimentierfeld der Kirche“. Das normale Gemeindekonzept sei auf die ESG nicht übertragbar. Wörtlich sagte der neue Studentenpfarrer: „Das Evangelium und das Verhalten Jesu enthalten eine starke gesellschaftskritische Tendenz. Die Kirche als Staatskirche gab sich früher einer scheinbaren Neutralität hin, die oft eine Parteinahme für die Mächtigen bedeutete. Jesus jedoch ergriff für die Schwachen und Unterdrückten Partei.“

In seiner Predigt im Einführungsgottesdienst am 24. Januar 1977 unterstützte Landesbischof Heintze den gesellschaftskritischen Kurs. Der Landesbischof betonte, dass christliche Staatsbürger nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hätten, sich für mehr Gerechtigkeit und Freiheit einzusetzen, das gelte auch für junge Hochschulangehörige.

Die Branschweiger Zeitung zitiert Heintze mit der Forderung, dass sich Christen bei ihrem politischen Engagement um konkrete Verbesserungen und nicht nur um abstrakte Ideale bemühen sollten: „Man kann dabei durchaus manchmal zu einem Protest genötigt sein, der für andere unbequem wird.“ Man müsse auch mit Verleumdungen und übler Nachrede rechnen, wenn man dafür eintrete, was das Evangelium gebiete, fügte der Landesbischof hinzu.

Großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte eine Diskussion am 27. Oktober 1977. Mehr als 800 Menschen füllten das Freizeit- und Bildungszentrum im Bürgerpark in Braunschweig. Die ESG, die Hochschulinitiative demokratischer Sozialismus und die Evangelische Erwachsenenbildung waren gemeinsame Veranstalter eines Abends über „Gewalt – Widerstandsrecht – demokratische Veränderung“.

Auf dem Podium saß neben anderen der hannoversche Pastor Klaus Geyer aus Königslutter-Beienrode. Das „Haus der Helfenden Hände“ in Beienrode war Ende der 1970er Jahre Schauplatz des „Festivals der Friedensdienste“. 1978 trafen sich dort 2.000 Freunde und Mitarbeiter von Friedensdiensten unter dem Motto „Leben ohne Waffen“. 1979 kamen sogar 2.800 Teilnehmer aus 15 Ländern nach Beienrode. Prominenteste Teilnehmer waren der Schriftsteller Erich Fried und der Berliner Theologieprofessor Helmut Gollwitzer. (Geyer wurde am 16. April 1998 wegen Totschlags an seiner Frau zu acht Jahren Haft verurteilt.)

Im Mittelpunkt des Interesses stand am 27.Oktober in Braunschweig jedoch der von der niedersächsischen Landesregierung des Dienstes enthobene Psychologieprofessor Peter Brückner aus Hannover. Brückner war wegen der „Mescalero-Affäre“ disziplinarisch belangt worden. Der AstA, die Studentenvertretung, der Universität Göttingen, hatte einen so genannten Nachruf auf den von Terroristen ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback veröffentlicht. Der Autor konnte seine „klammheimliche Freude“ nicht verhehlen, die der „Abschuss von Buback“ bei ihm hervorgerufen habe.

Brückner gehörte zu einer Gruppe von 48 Professoren, die mit einer Dokumentation des „Buback-Nachrufes“ die Diskussion versachlichen wollten. Die meisten der Professoren gingen unter dem Druck der Öffentlichkeit und des Wissenschaftsministers wieder auf Distanz. Peter Brückner schrieb ein Buch, in dem er seine Haltung untermauerte.

Das Landeskirchenamt in Wolfenbüttel distanzierte sich wegen der Teilnahme Brückners von der Veranstaltung und teilte mit: „Trotz intensiver Gespräche zwischen Vertretern des Landeskirchenamtes, dem Vorsitzenden des von der Landessynode eingesetzten Begleitenden Ausschusses für die Arbeit der Studentengemeinden und Vertretern der ESG Braunschweig sieht sich die Evangelische Studentengemeinde nicht in der Lage, die Veranstaltung zu verschieben oder den Kreis der Referenten zu verändern. In diesen Gesprächen wiesen die Vertreter der ESG darauf hin, dass die Veranstaltung bereits seit Herbst 1976 vorbereitet und kurzfristig nicht abzusagen ist. Nach Ansicht der ESG hat dieser Gesprächsabend das Ziel, sich mit der Frage von Gewalt und Widerstandsrecht sachlich auseinanderzusetzen und dieses Feld nicht kommunistischen Kreisen zu überlassen. Das Landeskirchenamt hält diese Veranstaltung zu diesem Zeitpunkt trotzdem für falsch und kann die Durchführung nicht billigen. Es wird für nicht vertretbar gehalten, dass an der Veranstaltung ein Referent mitwirkt, der zu diesem Zeitpunkt durch den Wissenschaftsminister der Niedersächsischen Landesregierung von seinem Dienst suspendiert und gegen den ein förmliches Disziplinarverfahren eingeleitet ist.“

Es waren nicht nur politisch links stehende Professoren als Referenten, mit denen die ESG aneckte. 1979 lud Studentenpfarrer Erchinger den Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Philipp Potter, ein. Die Umstände dieser Einladung reichten ebenfalls aus, um mal wieder ins Landeskirchenamt zitiert zu werden. Die Landeskirche war sauer, weil sie von dem Zusatzauftritt Potters bei der ESG nichts wusste. Außerdem hatte Erchinger der Landeskirche die Show gestohlen. Er präsentierte den politischen Potter und das Programm des Weltkirchenrates „Ohne Waffen leben.“

Abends in der Stadthalle dann die harmlosere Version. Hier lautete das Thema „Vielerlei Sprachen – ein Geist“. In einem Kommentar, der am 21. Oktober in der Evangelischen Zeitung erschien, räumte Landesbischof Heintze ein, dass die Veranstaltung in der Stadthalle zu den drängenden Fragen der brutalen Gewaltanwendung, die auch unter dem Vorzeichen des Kampfes gegen Apartheid und kapitalistische Ausbeutung ausgeübt werde, keinen weiterführenden Beitrag geliefert habe. Den Wert der Veranstaltung sah Heintze eher in der persönlichen Begegnung mit Potter. Auf die Mitwirkung Potters an der ESG-Veranstaltung ging der Landesbischof nicht ein. – Die Vorladung Erchingers erfolgte durch den stellvertretenden Landesbischof, Friedrich-Wilhelm Wandersleb, einem ehemaligen Militärpfarrer.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk