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[Kirche von unten]

Die Braunschweiger Landeskirche in den 70er Jahren

und ihr Bischof Gerhard Heintze

Erinnerungen der Zeitgenossen

Der Geist der 70er – gab es den?

Gudrun Hermann

Ich begann meinen Dienst als Architektin im Baureferat im November 1972. Die „60er“ Jahre hatte ich als Teenager und Schülerin, die Zeit der „68er“ als Studentin erlebt. In meinem studentischen Umfeld genossen wir die neuen Freiheiten, arbeiteten aber auch hart für einen erfolgreichen Studienabschluss. Die politischen Aktivitäten der Mitstudierenden registrierten wir neugierig, aber beteiligten uns daran selten. Von dem besonderen, historischen Ereignis der Einführung der Frauenordination 1968, vom damaligen Landesbischof Dr. Heintze initiiert, hatte ich nichts mitbekommen. Auch dass 1965 mit der Wahl Dr. Heintzes zum Landesbischof große Hoffnungen in Erneuerungen verbunden waren, war mir nicht bekannt. Ich war mit meinem persönlichen Aufbruch beschäftigt, die mir die neuen Zeiten eröffneten: Bildung, Studium, Berufstätigkeit.

Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen waren schon lange, zum Teil seit Ende der 40er Jahre, im Landeskirchenamt beschäftigt. Aus ihren Erzählungen erfuhr ich, was einige Jahre zuvor noch kirchlicher Alltag war: Dass sonnabends gearbeitet wurde, dass bei einer Bewerbung auf eine Stelle ein pfarramtliches Leumundszeugnis beigefügt werden musste, dass die Landeskirchenräte und Oberlandeskirchenräte mit ihrem Titel angeredet wurden, dass es eine unausgesprochene Kleiderordnung gab. „Was machen Sie denn, wenn Sie auf eine Leiter steigen müssen?“ Diese Frage eines Landeskirchenoberrates wurde einer Frau gestellt, die sich in den 60er Jahren im Landeskirchenamt als Architektin bewarb. Sie wird verständlich vor dem Hintergrund, dass von allen Mitarbeitenden im Amt eine angemessene Kleidung erwartet wurde. Dass Frauen in Hosen unangemessen gekleidet waren, darauf musste man damals keine Mitarbeiterin hinweisen. Das Kleidungsproblem der Architektin wird zufriedenstellend gelöst worden sein, denn sie wurde angestellt; vielleicht war das ja der Anlass, die „Kleiderordnung“ zu lockern.

Diese Geschichten waren 1972 für mich schon kuriose Historie. Aber immer noch blieb vieles nicht hinterfragt. Ich machte mir keine Gedanken darüber, warum ich es im Pfarramt nur mit Männern zu tun hatte. Auch meine eigenen Probleme, die ich als Frau in einem Männerberuf hatte, betrachtete ich als individuelle Probleme, mit denen ich fertig werden musste. Dass es sich um strukturelle Probleme handelte, wurde mir erst in den 80er Jahren bewusst, als mich die Kirchenfrauenbewegung erfasste.

Dass ich unter den strukturellen Problemen relativ wenig zu leiden hatte, hatte mit den Menschen zu tun, mit denen ich im Landeskirchenamt arbeitete. Da war der Ltd. Landeskirchenbaurat Werner Taeger und der Finanzreferent Dr. Konrad Bluhm, die mich – obwohl Frau – selbstverständlich einstellten, ohne mir zu unterstellen, dass ich ja bald heiraten, Kinder bekommen und dann sowieso wieder aufhören würde. Die Zusammenarbeit mit meinen Vorgesetzten, zunächst Herrn Taeger und kurze Zeit später Klaus Renner, war hervorragend. Die Zeit unter diesen beiden Chefs war geprägt von einem hohen Anspruch an Ethik und Arbeitsmoral, von gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung.

In den Kirchengemeinden begegneten mir die Menschen neugierig und freundlich, aber auch ein bisschen skeptisch. Im Laufe der Zeit überzeugte ich durch Kompetenz und Leistung, und immer häufiger erlebte ich Begeisterung, weil ich als Frau manche Dinge anders sehe und deshalb auch anders baue. So vernahm ich z.B. den Ärger über die Küchen, die in Gemeindehäusern in der Regel als „Teeküchen“ konzipiert wurden. Nach meiner Erfahrung im privaten und kirchlichen Bereich waren Küchen nicht nur Funktionsräume, sondern auch Kommunikationsräume. Als solche baute ich sie, und wenn in einem kleinen Gemeindehaus kein Platz war, wurde die Küchenzeile eben im Sitzungsraum installiert.

Die Probleme, die ich als Frau in einem Männerberuf hatte, kamen von außen. Eins der geringeren waren die Briefe, die an Frau Dipl.Ing. Gudrun Hermann adressiert waren, aber begannen mit „Sehr geehrter Herr Kollege!“ Schwerwiegender war es, wenn Frauen als Baufachfrauen erst gar nicht gedacht werden konnten. In einem Telefongespräch verstand der anrufende Unternehmer einfach nicht, dass ich es bin, die das Bauprojekt, weswegen er anrief, betreute. Es gipfelte in seinem verzweifelten Ausruf: „Aber ich muss mit einem MANN sprechen!“ Worauf ich ihm sagte: „ Dann betrachten Sie mich doch jetzt ausnahmsweise mal als Mann.“ Hier war meine Geduld und Überzeugungsarbeit nicht erfolgreich – der Anrufer besprach seine Angelegenheit mit meinem Chef.

Wirklich diskriminierend waren für mich Fälle, wo ich in Telefongesprächen von Anrufern angebrüllt und „heruntergeputzt“ wurde, weil sie dachten, sie hätten eine „kleine“ Verwaltungsangestellte am Apparat. Wenn ich diesen Männern dann sagte, mit wem sie sprechen, war es ihnen sehr peinlich. Ich bekam auf die Weise manchen Blumenstrauß, aber auch ein schärferes Bewusstsein für die Problematik von „Oben und Unten“ und seinen geschlechtsspezifischen Aspekt.

Zurück zum Landeskirchenamt. Ich heiratete und bekam tatsächlich Kinder, aber wollte gerne in Teilzeit weiterarbeiten. Das war zu der Zeit (1975) nicht möglich. Meinem Antrag wurde jedoch stattgegeben. Wieder gab es Menschen – meine Chefs, Dr. Bluhm und auch Landesbischof Dr. Heintze – die meine Arbeit schätzten und sich für mich einsetzten. Meine Stelle war die erste Teilzeitstelle im Landeskirchenamt. Ich behielt alle bisherigen Aufgabenbereiche (bis zur Referatsleitung bei Abwesenheit des Vorgesetzten), auch das war ungewöhnlich. Aber ich war hauptsächlich im Entwurf tätig, diese Arbeit war relativ unabhängig vom Baustellenbetrieb. Und ich war flexibel. Selbstverständlich habe ich auch als Angestellte in Teilzeit nicht auf die Uhr gesehen, wenn die Arbeitssituation es erforderte, sowie manches, wie Telefongespräche, von zu Hause aus erledigt (dies war mein eigener Anspruch, nicht der Anspruch des Landeskirchenamtes). Der Privatbereich hatte zur Not zurückzustehen und seine Organisation war selbstverständlich Privatsache.

Diese protestantische Dienstauffassung war in den 70er Jahren normal (was ich allerdings nur für das Baureferat beurteilen kann). Auch wenn wir nach einer Kirchenvorstandssitzung erst nach Mitternacht zu Hause waren, war es für uns selbstverständlich, am nächsten Morgen um 7.30 Uhr wieder am Schreibtisch zu sitzen oder auf der Baustelle zu sein. Als die Gleitzeit und Arbeitszeiterfassung eingeführt wurde, waren wir erstaunt, wie viele Überstunden wir machten und natürlich auch froh, dass wir nach einer langen Sitzungsnacht morgens nun eine Stunde länger schlafen konnten.

Die Verwaltung spielte in den 70ern keine große Rolle. Es ging noch vieles nach „Treu und Glauben“. Mündliche Absprachen waren ausreichend und verlässlich, und manche Zeichnung wurde auf der Baustelle auf einer Zementtüte skizziert. Wir waren froh, einen Stamm guter, vertrauenswürdiger und zuverlässiger Baufirmen zu haben, mit denen wir – besonders in der Bauunterhaltung – zusammen arbeiteten. Auch war es selbstverständlich, dass die in den Kirchengemeinden ortsansässigen Handwerker die kirchlichen Bauaufträge bekamen. Schließlich waren sie es, die auch sofort zur Stelle waren, wenn z.B. sonntags die Kirchenheizung ausfiel. Das änderte sich mit den Sparzwängen und den zunehmenden öffentlichen Zuschüssen in den 80er Jahren, die eine verstärkte Kontrolle und somit Verwaltungsarbeit erforderlich machten. Bezeichnend für die Veränderungen in jener Zeit war auch die Andacht im Landeskirchenamt. Sie fand jeden Morgen um 7.30 Uhr statt, 1972 noch im Sitzungsraum im Haus 88 am Alten Weg. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger, schwerer Konferenztisch. Die Stühle wurden für die Andacht rechts und links der Längsseiten des Tisches sowie an einer Schmalseite aufgestellt. An der anderen Schmalseite stand das Lesepult. Zur Andacht war der Raum fast immer bis auf den letzten Platz besetzt. Es war auch noch gut die alte Sitzordnung zu erkennen: Rechts die Männer, links die Frauen, hinter den Frauen die Auszubildenden, in der 1.Reihe die Mitglieder des Kollegiums. In dem Sitzblock an der Schmalseite war die Sitzordnung gemischt, auch ich wählte dort meinen „Stammplatz“. Diese überkommene hierarchische Sitzordnung spielte keine Rolle mehr und löste sich sofort auf, als wir ein paar Jahre später den neuen Versammlungsraum im Anbau bezogen.

Ein weiterer Fortschritt war, dass ich Andachten halten durfte, obwohl ich weder eine Prädikantinnen- noch Lektorinnenausbildung hatte. Die Abkündigungen (z.B. wurden neue Mitarbeitende willkommen geheißen, ausscheidende verabschiedet und Geburtstags“kindern“ gratuliert) waren aber lange noch dem Landesbischof, bei seiner Abwesenheit einem Kollegiumsmitglied, vorbehalten.

Diese Entwicklung in Richtung Priestertum aller Gläubigen ging weiter: Immer mehr Mitarbeitende übernahmen die Andacht, und später auch die Abkündigungen. Ende der 90er Jahre, auf dem Kirchencampus, bekamen wir sogar einen wunderbar gestalteten Andachtsraum, die Kapelle „Maria Magdalena“ (den Namen hatte ich als damalige ehrenamtliche Frauenbeauftragte des Landeskirchenamtes vorgeschlagen). Trotz dieser räumlichen und inhaltlichen Erneuerungen und Chancen ging der Andachtsbesuch leider immer mehr zurück. Grund dafür ist sicher auch die Frage des Amtsverständnisses. Das Priestertum aller Gläubigen zu betonen und zu leben ist gut und richtig, aber für viele ist es bis heute ein großer Unterschied, ob der Landesbischof persönliche Worte zum Geburtstag spricht oder „nur“ eine oder einer der Mitarbeitenden. Das Amtsverständnis war bis in die 60er Jahre streng hierarchisch geprägt. Auch das hat sich verändert. Landeskirchenbaurat Renner, der kurz nach mir im Baureferat anfing, verstand sich nicht als „Amtsperson“, sondern als Dienstleister für die Kirchengemeinden. Diese Haltung hat uns im Baureferat geprägt, und sie wurde von uns in unserer Arbeit vertreten – überwiegend. Das Dienen – im positiven, christlichen Sinn – stand, auch in unserer Kirche, nicht bei allen für menschliche Stärke.

Den Geist der 70er Jahre – gab es den?

Ich habe bis 2008 im Landeskirchenamt gearbeitet, also 36 Jahre. Es waren insgesamt gute Jahre. Jede Zeit hatte ihren besonderen Reiz, ihre besonderen Herausforderungen und ihre besonderen Schwierigkeiten, und ja: ihren besonderen Geist. Das Besondere an der Zeit, in der Dr. Gerhard Heintze Landesbischof war, ist für mich die Nachhaltigkeit. Er legte eine Saat, die zum Teil auch erst nach seinem Eintritt in den Ruhestand aufging. Ich denke z.B. an den Impuls, den die Einführung der Frauenordination gab. Dieser Impuls brachte Bewegung in die Frauenfrage und führte zur großen Kirchenfrauenbewegung der 80er und 90er Jahre, die ihrerseits Impulse gab, die bis heute ihre reformatorische Wirkung entfalten.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/Heintze/, Stand: November 2015, dk