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[Kirche von Unten]

Weiter so – aber Demokratie

Über die ev. Kirche in der direkten Nachkriegszeit

Vortrag am 23.11.2022 in der Akademie zusammen mit H. U. Ludewig,
der den politisch-gesellschaftlichen Anteil ausgearbeitet hat.


von Dietrich Kuessner

(Download als pdf hier)




8. Die Kirche im Westen lebt als Volkskirche, kirchliche Mitte, weiter wie bisher


Es ist schwierig, sich ein Bild von den Kirchengemeinden zu machen, weil die Quellenlage in vielen Landeskirchen unzugänglich ist. Aber soviel lässt sich doch sagen: die Taufen, Konfirmationen und Beerdigungen wurden nach wie vor begehrt, selbst im Jahr 1945. Für die Stadt Braunschweig ist das relativ gut erforscht. Im Sommer 1945 wurden wie eh und je Kinder zur Taufe gebracht und Eheleute begehrten die kirchliche Trauung. In der Johanniskirche wurden 123 Kinder getauft, die erste Taufe war nach der Besetzung am 29. April 1945. Oft fanden am Sonntag mehrere Taufen statt: am 2. und 23. September 5 Täuflinge, am 9. Dezember sieben. Einen eben solchen Ansturm auf die Taufen erlebte die Stadtrandgemeinde St. Georg, obwohl Kirche und Gemeindesaal zerstört waren Bis zum April 1945 waren es fünf Taufen, nach der Besetzung 90 Taufen.

Die Taufgesellschaft war zeitgemäß gemischt und ließ die Vergangenheit erkennen. Bei den Taufen in der Johanniskirche waren fünf Väter dissidentisch, 14 gottgläubig, dreimal waren sogar beide Elternteile gottgläubig und begehrten trotzdem die Taufe ihres Kindes. In der St. Georgkirche waren 1946 29 Väter gottgläubig und drei Taufeltern bezeichneten sich als gottgläubig. Gottgläubig war das 1935 vom Reichinnenminister neu eingeführt Konfessionssignal für aus der Kirche ausgetretene Personen, das vermied, sich, wie die Freidenker, als atheistisch zu verstehen. Es waren meist SS- Männer, die es strikt, wie Himmler, ablehnten, als atheistisch bezeichnet zu werden. Sie verstanden sich als im weiteren Sinne religiös.

Es ist billig ihnen zu unterstellen, dass ihr Taufbegehren in Wirklichkeit auf eine positive, politische Entlastungsbescheinigung, sog. Persilschein, abzielte, der bei der Arbeits - oder Wohnungssuche hilfreich sein konnte. Die Kirche war auch bekannt als Sammelstelle für nahrhafte Care-Pakete, die über das Ev. Hilfswerk weiter verteilt werden sollten. Wir fragen ja auch heute nicht, wie sich Taufeltern und Paten einen Weg des Täuflings in der Nachfolge Jesu vorstellen.

Die Kontinuität der „Kirchlichen Mitte“ mit ihren drei Säulen (stabile Mitgliedschaft, stabile Finanzen, anhaltende Nachfrage nach Kasualien) garantierte für viele Jahrzehnte ein „Weiter so“ und ist heute im Abbruch begriffen.

Die kirchliche Wirklichkeit war in der Nachkriegszeit vielfältiger als ich es oben beschrieben habe. Aber es gab auch eine durchgehend Tendenz des „weiter so“, die heute weitgehend vergessen ist. Das Geheimnis der Erlösung sei die Erinnerung. Möge uns auch die schmerzliche Erinnerung dem Geheimnis näher bringen.



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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/weiter_so/, Stand: Dezember 2022, dk