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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 124 - Dezember 2008


Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen:
André Breton, Paul Éluard und dem Maler

von Jürgen Rother
(Download als pdf hier)

Ich habe Ihnen heute etwas aus meinem Büro mitgebracht. Ein Bild, das dort an der Wand direkt neben der Tür hängt, so daß ich es beim Betreten und Verlassen des Zimmers immer vor Augen habe. Und dieses Bild möchte ich heute mit Ihnen gemeinsam betrachten.

Der Titel ist: Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler. Gemalt wurde es von Max Ernst im Jahre 1926. Als es erstmals in Paris im "Salon der Unabhängigen" gezeigt wurde, löste es einen handfesten Skandal aus. Nach Paris wurde es sodann in Köln gezeigt, wo die Resonanz noch heftiger ausfiel. Der Erzbischof erzwang nicht nur die Schließung der Ausstellung noch am Eröffnungstag, er exkommunizierte Max Ernst, der damals im benachbarten Brühl lebte, wegen Gotteslästerung, ausgeübt durch dieses Bild. Heute hängt das Bild im Kölner Museum Ludwig, im Schatten des Domes und bildet dort eine Hauptattraktion.

Das Bild ist im Original sehr groß, es misst 1 Meter 96 in der Höhe und 1 Meter 30 in der Breite. Der Aufbau ist klar und durchsichtig. Durch stellwandartige Kulissen wird ein stilisierter Innenraum geschaffen, in dem sich formatfüllend die Mutter mit dem Kind auf dem Schoß befindet. Durch eine fensterartige Öffnung in der linken Wand sieht man die Köpfe der drei Zeugen. Die Jungfrau bildet ein nach oben zulaufendes spitzwinkliges und gleichschenkliges Dreieck, ein klassisches Kompositionsschema von Marienbildern seit der Renaissance, das sich Max Ernst hier geschickt zunutze macht. Die beiden langen Schenkel des Dreiecks werden freilich durchbrochen durch die strampelnden Beine des Jesusknaben und den angewinkelten linken Arm mit den abgespreizten Fingern. Dadurch wird die Konstruktion lebhaft und die Szene bekommt geradezu Dramatik. Auch was die Farbenwahl anlangt, bedient sich Max Ernst der traditionellen Vorgabe. Maria ist in rot und blau gekleidet, das Kind ist nackt. Und sofort stellt sich beim Betrachter die Erkenntnis ein: eine rot - blau gekleidete Frau mit einem nackten Kind auf dem Schoß, das ist eine Mariendarstellung.

Und so ähnlich ging es auch mir, als ich dem Bild erstmals begegnete. Ich betrachtete ein großes, plakatartiges Bild, auf dem etwa fünfzig, jeweils nur wenig mehr als briefmarkengroße Einzelbilder zusammengestellt wurden unter dem Titel: Madonnenbilder aus aller Welt. Ich suchte nach dem deutschen "Beitrag" und fand nach einigem Suchen mitten im Gewimmel der Bilder dieses Bild. Und ich musste mehrmals hinschauen, bis ich begriff: das ist kein normales Madonnenbild wie alle anderen, das ist etwas völlig anderes. Und so geht es auch den allermeisten Besuchern in meinem Büro, die ja alle an diesem Bild vorbeikommen. Keiner bemerkt etwas. Eine einzige junge Mitarbeiterin hielt beim Verlassen meines Zimmers inne und rief verwundert aus: "Huch, das wird ja verhauen!" Ich hätte sie umarmen können!

Max Ernst bricht aber auch mit vielen Bildtraditionen. Mutter und Kind schauen den Betrachter nicht an. Das Kind hat das Gesicht in das blaue Tuch von Marias Gewand gedrückt und wendet uns stattdessen das nackte Hinterteil zu. Marias Blick ist starr auf das vom Zuschlagen bereits gerötete Hinterteil des Kindes gerichtet. Der mediterran leuchtende Himmel ist und bleibt leer, und kein himmlisches Personal, geflügelt oder ungeflügelt umschwirrt Mutter und Kind. Wo sonst ein Paradiesgärtlein mit Hecke und Rasenbank, mit Heilkräutern und edlen Rosen, mit Häschen und Vögelein eine heile Welt vorgaukelt, da stehen jetzt sterile Stellwände, zwischen denen sich eine wenig erbauliche Familienszene abspielt. Meditative Stille und Andacht können hier nicht aufkommen.

Maria selbst ist als üppige Frauenschönheit dargestellt, so wie sich in Mitteleuropa seit dem 15. Jahrhundert der Typ der "schönen Madonna" durchsetzte und aus der byzantinisch-gestrengen Herrscherin "unsere liebe Frau" wurde. Sie trägt ein eng anliegendes, tief ausgeschnittenes Oberteil, und der erotische Reiz, den Max Ernst offenbar bewusst erzeugen will, wird dadurch noch verstärkt, dass die Mittelachse des Bildes zwischen ihren Brüsten und über die nackten Gesäßbacken des Kindes läuft. Ihre rechte Hand aber hat Maria nicht wie sonst üblich grüßend und segnend erhoben. Sie holt kräftig zum nächsten Schlag aus und die Hand ist fast unnatürlich verdreht. Die zum Himmel offene Handfläche, üblicherweise die Darstellung einer betenden Geste, wird hier in ihrer Bedeutung verdreht, im Wortsinn pervertiert.

Das Bild hat durchaus autobiografische Züge. Max Ernst wuchs in einer streng katholischen Lehrerfamilie auf. Er selbst berichtet, dass ihn sein Vater oft und heftig verprügelte, dass er ihn aber andererseits — er war Hobbymaler — als Engelchen ganz in Weiß gekleidet oder als süßlichen Jesusknaben in kitschigen Bildern malte. Und so stellt dieses Bild eine Abrechnung mit seiner familiären Herkunft dar.

Das Bild ist aber auch, und zwar hauptsächlich, als Provokation gedacht, wie man an dem auf der Erde rollenden Heiligenschein des Kindes, in den der Maler seine Signatur gesetzt hat, erkennt.

Ich will mich aber nicht provozieren lassen, schon gar nicht auf diesem Gebiet! Ich halte es lieber wie der Milchmann Tewje aus Anatevka, der gerade dann, wenn er schlimme Schicksalsschläge beklagt, immer die Kraft findet zu einem "Andererseits aber", so dass er am Ende dann sagen kann: "....und so ist auch das zum Guten!"

Jesus ist in seiner Doppelnatur ganz Mensch und ganz Gott. Wenn er aber ganz Mensch, einer von uns, also ein Alltagsmensch geworden ist, dann heißt das in der Zeit, zu der er auf die Welt kam, ganz sicher auch, dass er von seinen Eltern gezüchtigt wurde. Und das würde es auch heute fast überall auf der Welt bedeuten. Machen wir uns da nichts vor, auch hierzulande und heute werden Kinder nicht nur gezüchtigt, sie werden vielfach und auf unterschiedlichste Weise auch gequält und misshandelt. Das Bild macht also, wenn man so will, deutlich, dass Gott in Jesus ganz Mensch, einer von uns geworden ist. Letztlich verhält es sich damit genau so auch bei Kreuzigungsdarstellungen, die uns vor Augen führen, dass Jesus ein Mensch war, der litt und starb. Denken Sie doch an den Isenheimer Altar von Mathias Grünewald! Hier wird der leidende Jesus in drastischer und abstoßender Deutlichkeit als gequälter und gemarterter Mensch dargestellt. Warum empört man sich nicht über eine solche Darstellung, während man bei Max Ernst zumindest irritiert ist? Das liegt hauptsächlich an unseren Sehgewohnheiten in der darstellenden Kunst. Die Bildsprache der alten Meister wird nur noch selten verstanden.

Nehmen wir zum Beispiel ein von mir besonders geschätztes Werk, die Sixtinische Madonna von Raffael. (Ja, ja, auch eine in blau und rot gekleidete Frau mit einem nackten Kind auf dem Arm...) Sie wird heute hauptsächlich im verkitschenden Missbrauch der beiden kleinen Engelchen vom unteren Bildrand wahrgenommen; dass da eigentlich Gott in Gestalt eines Menschenkindes zu uns herübergetragen und uns geschenkt wird, das wird dem heutigen Durchschnittsbetrachter nicht mehr klar. Um die doch eigentlich sensationelle Botschaft, dass Gott Mensch geworden ist, heute zu verdeutlichen, braucht es eher solch ein Bild wie das von Max Ernst.

Aber noch ein anderer Gesichtspunkt ist mir wichtig. Und jetzt komme ich zu den drei Zeugen und dazu, warum ich mir dieses Bild ins Büro gehängt habe.

Nur durch eine dünne Stellwand mit Fensteröffnung von der eigentlichen Prügelszene getrennt sind drei Männer zu sehen, der Maler selbst und zwei seiner Künstlerkollegen, André Breton und Paul Éluard. Es sind keine einfältigen Hirten und auch keine weitgereisten Könige, die hier zuschauen, sondern Menschen von heute, namentlich bekannt. Damit wird verdeutlicht, dass wir im hier und jetzt gemeint sind. Und was machen diese Zeugen des Geschehens? Sie schauen zu und doch gleichzeitig auch weg, sie sind dabei und mischen sich doch nicht ein. Sie lassen dem Geschehen seinen Lauf.

"Und sie verwunderten sich sehr und fragten: Wann, Herr, haben wir Dich leiden gesehen und haben Dir nicht geholfen? — Wahrlich, ich sage Euch, was Ihr einem meiner geringsten Mitgeschöpfe nicht getan habt, das habt Ihr auch mir nicht getan." Ich habe frei formulierend zusammengefasst, Sie haben die Stelle aber erkannt. Jedes mal, wenn ein Kind misshandelt wird und die Menschen in seiner Umgebung nicht einschreiten sondern wegsehen, machen sie sich mitschuldig am Leid dieses Kindes. Und jedes mal, wenn ein Kind oder sonst ein schwaches und wehrloses Geschöpf geschlagen, gequält, unterdrückt oder entrechtet wird, dann wird Jesus geschlagen, gequält, unterdrückt und entrechtet, dann wird er aufs neue gekreuzigt. Und wer zuschaut und nicht hilft, obwohl er helfen könnte, macht sich in gleicher Weise schuldig wie der Haupttäter. Und weil ich das nicht vergessen will, dass es meine verdammte Pflicht ist, den Schwachen und Wehrlosen zu schützen und ihm zu helfen, deshalb hängt dieses Bild in meinem Büro, nicht als Andachtsbild, zu dem es nicht taugt, sondern als Denkbild.




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