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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 125 - April 2009


Seelsorge am Ende des Lebens

von Dietrich Kuessner
(Download als pdf hier)

In den letzten hundert Jahren hat sich in der Seelsorge am Ende des Lebens ein markanter Wechsel vollzogen. Jahrhunderte lang, im 18. und 19. Jahrhundert, gab es in den üblichen Gemeinden nur in Ausnahmefällen ein "christliches Begräbnis" wie wir es heute kennen. Erst langsam, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, kamen die heute gebräuchlichen Formen der Beerdigung auf. Wie war es davor?

Nach der noch 1862 erneut gedruckten Kirchenordnung von Herzog Anton Ulrich von 1709 war ein christliches Begräbnis auf dem Friedhof gar nicht vorgesehen. Es gab keine Begräbnisagende für die Hand des Pfarrers. Für eine Taufe und für eine Trauung, aber keine für ein Begräbnis.
Der seelsorgerliche Dienst des Pfarrers endete am Sterbebett des Gemeindemitgliedes.

Auf zehn Seiten beschreibt das Kapitel 13 der Kirchenordnung "Wie die Prediger mit Krancken umzugehen haben", und auf weiteren 17 Seiten "Wie mit den Krancken umgangen werden soll, welche in den letzten Zügen liegen". Das Sterben und der Todeskampf wurden als der letzte Versuch des Teufels verstanden, sich der Seele der Sterbenden zu bemächtigen. Der Dienst des Pfarrers bestand darin, den Sterbenden im Stande des Glaubens zu erhalten. Daher begann der Pfarrer am Sterbebett mit drei Fragen, ob der Sterbende die Vergebung seiner Sünden durch Jesus Christus begehre.
In den folgenden neun Gebetsvorschlägen machte sich der Pfarrer zum Sprecher des Sterbenden, der sich in einer Gethsemanesituation befände. "..der du für mich im Garten am Oelberge hat blutigen Schweiß mildiglich geschwitzest, ich armer Sünder bitte dich, wasche und reinige mich, mit solchem deinen Todes-Schweiß vor allen meinen Sünden, in meiner letzten Stunde: Zeige deinem himmlischen Vater dieses dein Blut, so du für mich vergossen, und stille damit seinen Zorn, welchen ich mit meinen Sünden wol verdienet habe, die Seele, die du hast erlöset, der gib, Herr Jesu deinen Trost. Amen."

Der Versöhnungstod Jesu galt als der zentrale Trostgedanke. "Der du auch in deinem Todt dein heiliges Haupt geneigt hast, alle arme tröstlich zu küssen. Nimm auch mich auf in deine Gnadenreiche Arme, und beschütze mich für aller List und Gewalt des Teuffels; Küsse auch mich armen Sünder mit dem Kusse deines Mundes und gib kräfftigen Trost in mein betrübtes Hertz, Amen." Diese kräftige, bilderreiche Sprache wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts formuliert.

Zuletzt kniete der Pfarrer am Sterbebett nieder und bestürmte Gott mit der Erinnerung, dass der Sterbende sein Geschöpf wäre. "Es ist deiner Pflantzen eine, welche du lieber himmlischer Vater durch deinen heiligen Geist selbsten in die Kirchen gepflanzet und biß daher darinnen erhalten hast. Darum so bitten wir, du wollest diese krancke Person auch anjetzo in ihrem letzten Abschied für dein werthes Geschöpff, für dein teuer erkaufftes Gut und für deine liebe Pflantzen erkennen und annehmen, muß schon der Leib anjetzo zur Erden werden, dieweil er von der Erden genommen ist, so befehlen wir doch die Seele in deine Hände..."
Das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die Litanei, das Nunc dimittis beschließen diese Gebetsserie.

Wenn der Tod eingetreten ist, spricht der Pfarrer ein Gebet zu Gott dem Vater und nimmt dabei die Gedanken der Umstehenden auf: "Wir können nicht sagen, warum machstu uns also? Noch klagen über deinen heiligen Willen, daß du abermal einen von uns aus dieser Welt abgefordert und dem zeitlichen Todt ergeben hast, sondern müssen vielmehr deiner väterlichen Liebe dancken von Hertzen, daß du den Menschen nach deinem Bild erschaffen und zu einem Erben deines Reichs verordnet..hast.."
Das Gebet zu Gott, dem Sohn, bittet um eine christliche und selige Nachfahrt und beginnt mit einer barocken Anrede Jesu: "Herr Jesu Christe, ein Licht der Blinden, ein Weg der Irrenden, ein Lehrer der Unwissenden, ein Hoherpriester der Verlassenen, das Leben der Sterbenden, eine Aufferstehung der Todten, ein Heyl der Gläubigen und der einige Mittler zwischen Gott und den Menschen: Wir trösten uns anitzo deiner treuen Hülff und Zusage über dieser abgestorbenen Persohn, indem du gesagt: Warlich ich sage euch, wer mein Wort höret und glaubet dem, der mich gesandt hat, der wird nicht kommen in das Gericht, sondern ist vom Tode ins Leben hindurchgedrungen.." Die vielfache Beschreibung der Person Jesu nimmt die Situation der Hinterbliebenen bildlich auf, die sich verlassen vorkommen, keinen Weg nach vorne sehen, an irrigen Gedanken hängen und denen der Trost zugesprochen wird, dass der Verstorbene "hindurchgedrungen ist" und zwar durch das Gericht ins Leben. Es überwiegt in diesen Gebeten der Gedanke vom überstandenen Kampf mit dem Bösen und die Zusage eines ewigen Lebens bei Gott.
Das dritte Gebet zu Gott dem Heiligen Geist dient der Beruhigung "Daß Er uns gebe zu betrachten die Ruhe der auserwehlten Seelen". Der Heilige Geist habe dem Verstorbenen bis in den Tod beigewohnt und die Seele bis in das ewige Leben geführt. "Darüber wir auch deine Güte und tröstliches Amt von Hertzen preisen und demütiglich bitten, du wollest täglich verklären die seelige Ruhe der auserwehlten Seelen, damit wir über dero Hinfahrt getröstet, zu einer seeligen Nachfahrt aufgemuntert, und in allem Leyden frölich gemacht werden. Ach seelig, und aber seelig seind, die in dem Herren sterben von nun an.."

Diese Gebetsordnung am Sterbebett schließt mit einer Anweisung, dass auch alle Umstehenden sich am Beten beteiligen möchten, "und die arme in höchster Angst und der letzten Gefahr liegende Seele, welche der Sohn Gottes mit seinem theuren Blut und bittern Todt erworben hat, dem Teuffel aus dem Rachen gerissen werden möge." Da wird am Ende noch einmal das beherrschende Motiv für die Seelsorge, die Fürbitte und die ausdrucksstarken Gebete genannt.

Es ist alles bedacht und gesagt, was unter den gegebenen religiösen Voraussetzungen aus der Sicht des Pfarrers am Sterbebett und zu den Hinterbliebenen zu sagen war. Eine weitere Begleitung der Leiche auf dem Friedhof erwies sich nunmehr als überflüssig. Den Frauen war ein Gang hinter dem Toten auf dem Friedhof untersagt. Daher wurden in der Landeskirche noch um 1850 durchschnittlich weniger als 30 Prozent der evangelischen Gemeindemitglieder unter Teilnahme eines Pfarrers begraben, auch um 1870 wurden noch 70 Prozent der Verstorbenen ohne einen Pfarrer begraben wurden und die anderen 30 Prozent nur, wenn um Teilnahme des Pfarrers ausdrücklich gebeten wurde.

Ich gestehe, dass mich die bilderkräftige Sprache sehr beeindruckt.

Es bleiben trotzdem viele Fragen: ist das infernalische Szenario, das der Pfarrer vor Augen stellte, angemessen und hilfreich? Ist bei aller Sprachegewalt des Betens nicht zu viel? Wirkt bei der fortgeschrittenen Säkularisierung in Stadt und Land diese Ordnung nicht als Überrumpelung und Überforderung des Sterbenden und seiner Familie?

Es hatten sich aber auch allerlei Missstände eingebürgert. Da eine Beerdigung auch Kosten verursachte, wurden sog. "stille Beerdigungen" auf den Friedhöfen zur Nachtzeit veranstaltet. Es kam vor, dass nun statt des Pfarrers andere Redner auf den Friedhöfen auftraten. Es muss auch offen bleiben, ob denn eine derart ausgebreitete Sterbebegleitung in den Kirchengemeinden allgemein üblich oder doch eher die Ausnahme war. Der Sterbefall wurde dem Pfarrer gemeldet und gegen eine Gebühr in das Sterberegister eingetragen. Der Pfarrer fungierte wiederum als Staatsbeamter und sah darin zunehmend wohl seine Hauptaufgabe. Im Kirchenblatt für die evangelisch-lutherischen Gemeinde aus dem Jahre 1850 beschrieb ein Teilnehmer in einem Leserbrief sein tiefes Missbehagen. Die Kirche ginge herzlos und handwerksmäßig vor. Der Sarg würde eingesenkt, die Totengräber forderten zu einem stillen Vaterunser auf, hielten sich dazu die Hüte vors Gesicht und verabschiedeten sich vorzeitig mit einem "Guten Morgen, meine Herren" statt mit einem Amen vom Friedhof. Es herrsche ein "Mangel an allen Segnungen der Kirche". Die Kirche nähme wohl die Gebühren, aber tue nichts dafür.

Thiele
Eine erste Begräbnisliturgie bot der Braunschweiger Domprediger Thiele in seinem Kirchenbuch von 1850. Danach begleiteten Pfarrer, Kantor und Schulkinder die Leiche zum Friedhof und sangen auf dem Weg unter Glockengeläut ein Begräbnislied. Der Sarg wurde sofort hinabgelassen, der Pfarrer sprach einen Psalm, hielt möglicherweise eine knappe Ansprache und warf dreimal Erde auf den Sarg.

Es folgt die Lesung von der Auferstehung der Toten aus 1. Korinther 15, ein Dankgebet, Vaterunser und der Segen. Danach konnte auch noch in der Kirche eine Leichenrede gehalten werden.
Die Handlung auf dem Friedhof war kurz gehalten. Friedhofskapellen gab es nicht.

Während der vierten Landessynode 1886 wurde eine Begräbnisordnung verabschiedet, die der heutigen vergleichbar ist. Bei den Beerdigung wurde nunmehr die Teilnahme des Pfarrers zwingend vorgeschrieben und eine Ordnung nur auf dem Friedhof oder zunächst in der Kirche und dann auf dem Friedhof mit biblischen Voten, Lesung, Gebet, Vaterunser und Segen beschlossen. Da die Leiche mangels Friedhofskapellen zu Hause aufgebahrt wurde, konnte auch eine kurze gottesdienstliche Handlung im Trauerhause vorangehen. Die Anzahl der Begräbnisse mit Teilnahme des Geistlichen stieg spürbar an. 1880: 30,3 %, 1888: 45,9 %, 1897: 55,1 %, 1902 60% und 1907 68,8 % der Gemeindemitglieder.

Während also früher die Begleitung der Sterbenden die Hauptaufgabe des Seelsorgers war, so ist es heute die Begleitung der Hinterbliebenen. Die Begleitung von Sterbenden ist bei einem Gemeindepfarrer der Ausnahmefall, seit Jahrzehnten.




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