Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 125 - April 2009


Anmerkungen zum Verhältnis von Staat und Kirche zur Zeit der Weimarer Republik
Vortrag im Braunschweigischen Landesmuseum am 26.11.2008

von Prof. Dr. Friedrich Weber
(Download als pdf mit Fußnoten hier)

Der Vortrag führt hin zu der im Laufe der Veranstaltung darzustellenden konkreten Situation im Raum der braunschweigischen Landeskirche im November 1918. Er gliedert sich in allgemeine Ausführungen zum zeitgeschichtlichen Zusammenhang, konkretisiert diesen an Hand von Quellenmaterial aus einem anderen kirchlichen Raum, das allerdings in Beziehung gesetzt werden kann zu den Braunschweiger Daten und schließt mit einer kurzen Betrachtung von Römer 13, als oft gebrauchtem und mißbrauchtem "Grundtext" zur Beschreibung des Verhältnisses von Kirche und Staat.

I. Einführung in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang
Die Kirche und ihre Arbeit in den evangelischen Territorien wurden bis zum Jahre 1919 vom so genannten landesherrlichen Kirchenregiment mitbestimmt. Eigentlich hätte Luthers Wertschätzung der Gemeinde, aber auch die Differenzierung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment im Zusammenhang seiner Zwei-Reiche-Lehre eine andere Entwicklung ermöglichen müssen. Dass es im Gegensatz zu diesen theologischen Voraussetzungen zu einem verstärkten Einfluss der Landesherren auf die Gestaltung und das Leben der entstehenden evangelischen Kirche kam, hat seine Ursachen vor allem darin, dass die das Kirchenwesen ordnenden Kräfte durch die Reformationsauseinandersetzungen ihre Bedeutung und Wirksamkeit verloren hatten. (Eherecht, Sendrecht, Steuersystem u.a.) Wenn die sich von der römisch- katholischen Hierarchie lösenden Regionen kirchlich nicht dem äußeren Chaos verfallen sollten, bedurfte es einer Kraft, die an die Stelle der römisch-katholischen Bischöfe trat, auch die nötigen Visitationen verantworten konnte. Luther bat seinen Fürsten als "hervorragendes Glied der Kirche" um diesen Dienst. Aus dem "Dienst" wurde im Laufe der Jahrzehnte das eigentliche landesherrliche Kirchenregiment, das mit unterschiedlichen Theorien (Episkopalsystem, Territorialsystem) begründet wurde. Im Episkopalsystem ist der Landesherr im Besitz der bischöflichen Rechte aber im Sinne einer Übertragung der bischöflichen Jurisdiktion auf ihn, wohingegen im Territorialsystem der Fürst als Landesherr zum Haupt der Kirche wird.
Auf jeden Fall hatten die evangelischen Landesherren aus diesem aus der Reformation erwachsenen Konstrukt Einfluss auf die kirchliche Gesetzgebung, die Besetzung kirchlicher Ämter sowie die Kontrolle der kirchlichen Finanz- und Vermögensverwaltung. Teilweise übertrug der Landesherr diese Rechte auf besondere Kirchenbehörden, die Konsistorien. Bei den Funktionen, die der Landesherr im kirchlichen Bereich ausübte, unterschied man genau "zwischen dem ihm als Landesherrn zustehenden Aufsichtsrechten der Kirchenhoheit und der ihm nicht kraft Souveränität, sondern auf Grund von 'Übertragung' ausgeübten Kirchengewalt. Aus der Unterscheidung folgte das Verbot der Verschmelzung kirchlicher und staatlicher Verwaltung. Tatsächlich brachte die Konsistorialverfassung die Rechtslage angemessen zum Ausdruck: Konsistorien fungierten zwar als landesherrliche Einrichtungen, sie waren aber aus der allgemeinen Behördenhierarchie ausgegliedert. Die Ausübung der Kirchengewalt blieb an ... spezifisch kirchliche Ordnungsgrundsätze gebunden. Schließlich blieben im kirchlichen Bereich - im Gegensatz zum allgemeinen staatlichen Gewaltverhältnis - gemeindliche Mitwirkungsrechte in Kraft."
In den Gemeinden allerdings war die "Verquickung von Staat und Kirche niemals im Laufe ihrer Geschichte so stark wie in den letzten Jahrzehnten vor der Trennung von Staat und Kirche durch die Weimarer Reichsverfassung." Sie entstand vor allem durch die finanzielle Abhängigkeit der Gemeinden vom Staat. So wurden das Armenwesen, die Schulen - früher ausschließlich Angelegenheit der Gemeinden -‚ die Pfarrerbesoldung und auch die lnvestition in Gebäuden sehr stark vom Staat subventioniert. Hinzu kam, so wird für Ostfriesland als Teil Hannovers berichtet , daß die Pastoren, die seit 1872 nach dem preußischen Schulgesetz die Aufgaben der Schulinspektoren übernommen hatten, "auf dem besten Wege, Staatsbeamte zu werden" , waren.
Mit dem Erlass von Kirchenverfassungen - nach 1871 - war eine konstitutionelle Machtbeschränkung des Landesherren erreicht. Der Ausgestaltung von kirchlichen Leitungsorganen zu landesherrlichen, aber nicht mehr staatlichen Behörden, bewirkte, dass um die Jahrhundertwende die Trennung von staatlicher und kirchlicher Verwaltung zumindest formell durchgeführt war. Dass der Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments im Jahre 1918 mit dem Ende des ersten Weltkrieges und damit verbunden dem Ende der Monarchie keine gravierenden Erschütterungen für die evangelischen Kirchen mit sich brachte, ist diesem Vorgang zu verdanken. Dennoch gilt, dass trotz der formellen Trennung von staatlicher und kirchlicher Verwaltung es doch bis zum November 1918 in den evangelischen Landeskirchen Deutschlands keine wesentlichen Entscheidungen in personeller oder organisatorischer Hinsicht gab, die nicht im Namen des jeweiligen Landesherrn getroffen worden wären.
Alleine aus diesem Grund musste sich mit der Abdankung des Kaisers und der Landesfürsten das Verhältnis von Staat und Kirche noch einmal ändern. In den Gemeinden, Kirchenleitungen, in den Pfarrhäusern sah man dem Zusammenbruch des seit fast 400 Jahren Gewöhnten mit allergrößter Skepsis, Unsicherheit, ja Existenzangst entgegen. Die Berichte und Kommentierung speziell der Ereignisse um den November 1918 sind ein beredtes Zeugnis für die Seelenlage der Pastoren. Vieles sprach für eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Die Arbeiter- und Soldatenräte forderten sie ebenso wie die Sozialdemokratie.
In der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wurde jedoch nur erklärt, dass keine Staatskirche bestehe und die Kirchen ihre Angelegenheiten selbständig regeln durften, d.h. die Kirche erhielt nach der Weimarer Verfassung die Freiheit, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen. Sie hatte den Status einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" und war berechtigt, Kirchensteuern einzuziehen. Die frühere "Geistliche Schulaufsicht" entfiel, doch wurde der Religionsunterricht verfassungsmäßig festgeschrieben. Mitte der 20er Jahre waren auch die notwendigen Verfassungsänderungen der Landeskirchen abgeschlossen: Synode, Bischofsamt, Kirchenpräsident, Kirchenämter, Oberkirchenrat sind die nunmehr bestimmenden Bezeichnungen für die Organe der kirchlichen Verwaltung. Hat sich für die Kirchen viel geändert?
Im "Kirchlichen Jahrbuch" heißt es: "Nur der landesherrliche Summepiskopat (der weltliche Herrscher ist zugleich oberster Kirchenherr) ist auf der Strecke geblieben, alles andere ist hinübergerettet."
1922 schlossen sich die Landeskirchen zum Evangelischen Kirchenbund zusammen.
Das Verhältnis zum neuen Weimarer Staat war geordnet aber doch kühl. In dieser Situation bemühte sich die junge Weimarer Republik um einen neuen politischen Anfang. Ihre liberalen und westlich-demokratischen Anschauungen stießen in der Kirche jedoch auf tiefes Misstrauen. Problematisch wurde aber das belastete Verhältnis der Kirchen zur Sozialdemokratie, die eine entscheidende politische Kraft des neuen Staates war, denn schon im 19. Jahrhundert hatte die Kirche kein sachliches Verhältnis zur Sozialdemokratischen Partei gefunden. Trotzdem war kirchlicherseits mit dem neuen Staat zu leben. Kultusminister Hoffmann, der die Einziehung des Kirchenvermögens, Einstellung der staatlichen Zuschüsse zur Pfarrerbesoldung, Aberkennung ihrer beamtenrechtlichen Stellung und des passiven Wahlrechtes von Geistlichen forderte, musste im Januar 1919 sein Amt niederlegen. Im Pfarrerstand glaubte man, dass gegen die schleichende Gefahr einer "roten Flut" nur die alte Gemeinschaft von Deutschtum und Christentum helfen könne. Diese nationalprotestantischen Ideen, wie sie die Mehrzahl der Pfarrer verstanden und vertraten, wurden aber sehr bewusst von der Ideologie des Nationalsozialismus - dem germanischen Heidentum der völkischen Bewegung, der darwinistischen Rassenmythologie, den antisemitistischen Ausschreitungen und den rücksichtslosen Kampfmethoden der Nationalsozialisten - unterschieden. Kurz: sie sollten "an die Synthese christlich-deutsch gebunden bleiben."
Die evangelischen Kirchen gestalteten den gewonnenen Freiraum in den 20er Jahren im Sinne einer landeskirchlichen Struktur und im Geist des deutsch- nationalen Konservativismus. Verständlich wird dies, wenn man die Beziehungen sieht, die aus dem 19. Jahrhundert in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hineinreichen. Es ist - verstärkt in der Wilhelminischen Kaiserzeit - eine geistige Haltung erkennbar, "die sich gegen die Aufklärung, gegen den westeuropäischen Rationalismus und gegen die eigene selbstgenügsam-optimistische Lebens- und Weltdeutung des Bürgertums richtete. Im ¢deutschen Geist¢ (E. Troeltsch) vom August 1914 kulminierte diese ältere deutsch-nationale Gesinnung, die sich besonders im Protestantismus ausgebreitet hatte. Das herausfordernde Problem für das liberale Bürgertum war die geistige Verarbeitung der verheerenden, nicht fassbaren Niederlage. Dort, wo man die Niederlage anerkannte, war die geistige Haltung eine andere als da, wo man sie nicht wahrhaben wollte. Die innere Abwehr ließ den Krieg nicht als Ende, sondern als Anfang eines weiteren Kampfes gegen Liberalismus und Demokratie erscheinen."
Versuche des Pfarrers Friedrich Naumann eine Synthese von Christentum und Sozialismus herzustellen, blieben episodenhaft. Die Kriegspredigten des 1. Weltkrieges bestätigen die vernichtende Analyse der Schweizers Leonhard Ragaz (1868-1945), dass das Christentum von dem Vater Jesu Christi zu Wotan, Jupiter und Baal abgefallen sei. Die gegenseitige Treuebindung von Pastorenschaft und Staat hat die Weimarer Republik nicht erlebt. Die republikanische Autorität wurde nicht als Obrigkeit angenommen. Sie galt als ein Provisorium, das höchstens zu tolerieren war.
"Die Befürworter der Demokratie unter den Protestanten und Katholiken hatten es nicht leicht, dem antidemokratischen Druck in den eigenen Reihen standzuhalten. Abgesehen von den Einwänden gegen die Herrschaft des Volkes und die Leistungsfähigkeit der demokratischen Staatsform sahen die Gegner der Republik den Weimarer Staat mit einem nicht tilgbaren Kainsmal behaftet: mit dem Verrat an Kaiser und Reich... Im evangelischen Lager war das Republikanertum aus Vernunft bei den ... so geschmähten Kulturprotestanten zuhause. Ihr führender Kopf, der allzu früh verstorbene Ernst Troeltsch (gest.1923) hatte auf die Stärkung der Demokratie durch einen politisch gereiften Protestantismus gehofft. Es war eine Politik der demokratischen Integration, die Troeltsch verfolgte, eine Politik, die zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren realistisch zu unterscheiden wusste Nach der Ermordung Walter Rathenaus schrieb Troeltsch, eine tiefe Trauer werde wohl nie mehr von ihm weichen: ¢So weit ich für irdische Dinge gelebt habe, habe ich für mein Vaterland gelebt, und ich sehe nun seinen hoffnungslosen Verfall¢."
Die neue nationale, antidemokratische Bewegung in den 20er Jahren, die im Bürgertum und vor allem bei der Jugend viel Anklang fand, trägt als "konservative Revolution" eine geistig einflussreiche Strömung in der Weimarer Republik. Von diesem Gedankengut aus haben nur wenige bei Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft die großen Gefahren dieser Ideologie wahrgenommen.
Theologisch war die Zeit der Weimarer Republik sehr bewegt. Die dialektische Theologie wurde von den verschiedensten Ansätzen der wichtigste. Ihr führender Kopf war Karl Barth, der immer wieder darauf verwies, dass nicht der Mensch mit seinen Wünschen, Bedürfnissen und Sehnsüchten Gegenstand und Aufgabe von Theologie und Kirche sein solle, sondern Gottes Gebot und Wille, wie beide in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi Ereignis geworden seien.

II. Zum Verständnis der Pfarrerrolle in der Chronik Jan Friesemann Vietors
Auf dem oben beschriebenen Hintergrund sind nun auch die Auszüge aus der Chronikdes Pfarramtes Greetsiel/Ostfriesland, verfasst von Jan Friesemann Vietor , zu lesen. Er war und blieb als evangelischer Pastor dem konservativ-nationalen Geist verhaftet und deutete von ihm her alle Veränderungen nach 1919 als Niedergang. Aber auch der Weg dorthin ist unverkennbar distanziert gegenüber allen vermeintlich revolutionären Bewegungen gegenüber beschrieben.
Teilweise verständnislos wird der heutige Leser der Chronik Vietors dessen durchgängige Ineinssetzung der kirchlich-christlichen Sache mit der des Staates wahrnehmen. Gottes Sache ist auch Deutschlands, bzw. des Kaisers Sache - so kann es bei Vietor heißen. Die begeisterte Schilderung des Kaiserbesuches in Emden, die Stellung Vietors zur Sozialdemokratie, die Schilderungen der Zeit des 1. Weltkrieges zeugen davon. Um so krasser ist der Stimmungsumschwung nach der Abdankung des Kaisers und der Errichtung der Weimarer Republik. Wie ist das alles zu deuten? Hat nicht gerade das Arbeitsbuch des Pfarrers, die Bibel, genügend Impulse zu einem kritischen Nebeneinander beider Größen an die Hand gegeben?

  1. Pfarrer jener Zeit sahen im Gefolge einer Deutung der lutherischen Zwei-Reiche--Lehre als System politischer Ethik, nach der auch für die weltlichen Bereiche der Politik die naturrechtlich - christlichen Sittengesetze im Kraft bleiben, in der Obrigkeit (Landesherr = summus episcopus) Gottes Ordnung. Hatte aber Luther in seiner Lehre ein Spannungsverhältnis beschrieben, "in dem sich der zwei Reichen angehörende Christ befindet - die fundamentale Orientierung im Glauben (gerichtet auf das Reich Gottes) und die Verantwortung für eine nach (begrenzten) Kräften zu gestaltende christliche Lebensführung (im Hier und Jetzt)" - so erfuhr dies im 19. Jahrhundert einen Bedeutungswandel. "Führende Theologen und Staatswissenschaftler vernachlässigten den Gedanken eines produktiven Widerspruchs im ¢doppelten¢ Leben von Christen als Angehörigen beider Welten. Sie postulierten dagegen - wofür es bei Luther auch Belege gibt - eine strenge Trennung zwischen dem Reich Gottes und dem Reich des Gesellschaftlich-Politischen. Handlungen des Staates fielen von daher grundsätzlich nicht unter den Anspruch christlicher Normen. Ihnen wurde eine Eigensachlichkeit zugestanden.
    So standen moralisch bedenkliche Unternehmungen der Obrigkeit, wie z. B. die Flottenpolitik, fragwürdige Kriegsentscheidungen und eine menschenverachtende Praxis in den Kolonien nicht unter einer auf christlichen Wertvorstellungen beruhenden öffentlichen Bewertung und Kontrolle. Auf solchem Weg in eine unverbindliche Herzensfrömmigkeit konnten sich daher die Fähigkeit und die Bereitschaft der Bürger zu kritischer Wachsamkeit nicht in der notwendigen Weise entwickeln. Es fehlte die Orientierung an einem universellen Wertesystem, welches die Einmischung in politische und gesellschaftliche Konflikte hätte herausfordern und legitimieren können. Als verhängnisvoll erwies sich dieser Umstand in der Zeit des 3. Reiches. Als die Nationalsozialisten mit dem pseudoreligiösen Anspruch auftraten, alle Widersprüche in der Gesellschaft der Deutschen tendenziell aufzuheben (Ein Volk-Ein Reich-Ein Führer), also recht eigentlich eine Art Gottesreich (freilich ohne Gott) in dieser Welt errichten wollten, sah sich ein Teil der evangelischen Christen schon vor der Machtergreifung dazu bewogen, Elemente der NS-Ideologie in ihre Vorstellungen von Kirche aufzunehmen."

  2. Für das heutige Verständnis der Zwei-Reiche-Lehre ist es wichtig zu wissen, dass Luther in seiner Schrift aus dem Jahre 1523 "Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" in einer ganz konkreten historischen Situation redet. Obrigkeitliche Übergriffe gegen Glaubensfreiheit und Kirche galt es abzuwehren. Die Fürsten werden von ihm als Personen angesprochen - ebenso wie die Untertanen -‚ die Christen sind oder sein wollen. Er entfaltet so in seiner Schrift den Zusammenhang von Reich Gottes und Reich der Welt, von geistlichem und weltlichem Regiment. Zuordnung und Unterscheidung beider ist die zu leistende Aufgabe. Diese kann allerdings nur gelingen, wenn sie sich an der Predigt des Wortes Gottes orientiert.

  3. Die Gleichsetzung von Obrigkeit und Staat wird wohl auch für die Verständnislosigkeit protestantischer Theologen gegenüber den Prozessen gesellschaftlicher Wandlung verantwortlich sein. Man stützt den Staat (Obrigkeit) in seinen konservierenden, den jeweiligen Zustand festschreibenden Bemühungen. Die Einstellung zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, die höchstens von den "Christlich-Sozialen" ernst genommen wurde, zeigt einen deutlichen Mangel an Bereitwilligkeit außer einer religiösem Analyse (Armut = Folge des Glaubensabfalls) folgend, zu den technischen und ökonomischen Ursachen der Verelendung der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert vorzudringen. Die Sozialdemokratie wurde nach der Art einer abweichenden Religion, einer Sekte also, bekämpft.

  4. Nicht zu unterschätzen bei der Deutung des engen Miteinanders von Pastorenschaft und Staat ist die Tatsache, daß dieser Staat und seine Obrigkeit die Pastoren für die Aufrechterhaltung von Sitte und Moral brauchte, somit aber auch zur Existenzsicherung der Pastoren beitrug.

  5. Wichtig für das Verständnis der nationalprotestantischen Äußerungen Vietors ist es zu wissen, dass die Vorstellungen vom "Deutschen Gott" und dem deutschen Volk als dem "auserwählten Gottesvolk" keine Errungenschaft seiner Zeit waren, sondern schon in die Zeit der napoleonischen Feldzüge zurückreichen. Pfarrer verstanden sich als "Pastoren im heiligen evangelischen Reich deutscher Nation".


III. Auszüge (1900-1924) aus der Pfarramtschronik der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Greetsiel/Ostfriesland, verfasst von Superintendent Jan Friesmann Vietors, Greetsiel

1. Januar 1900
Die ungerechte, brutale Bekämpfung der Buren Transvaals in Süd-Afrika erregt in ganz Europa großen Unwillen. Man gönnt dem frechen Albion die Schläge und empfindlichen Niederlagen. Für uns aber heißt es: Mehr Kriegsschiffe, damit wir unsere Colonien schützen, und die gewaltig emporsteigende und strebende Macht zur See und den Handel schützen können. Das letzte Jahrhundert war "das Jahrhundert Deutschlands", das durch das wunderbare Walten Gottes einig und stark wurde. Ein gläubig Geschlecht wird das Errungene bewachen und mehren. Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott gefallen. Was aber nicht Gott gefällt, das zerfällt. Vorwärts mit Gott für Kaiser und Reich.

1906
Der Besuch des Gottesdienstes war mäßig (Visitation). Überhaupt geht es mit demselben zurück. Die neuen von auswärts mehr und mehr einziehenden Bürger und Arbeiter, besonders aber die Landwirte stehen nur in sehr losem Verbande mit der Kirche, lassen sich nur selten sehen im Gottesdienste. Der materielle Sinn läßt höhere Interessen nicht aufkommen. Der Vorzug vorzüglicher Kirchlichkeit wird allem Anschein nach in Greetsiel in einigen Jahren nicht mehr vorhanden sein. Gott gebe, daß ich mich darin irre. Es scheint, daß das Rütteln an den Grundlagen des Glaubens sowohl von Seiten der Theologen und Gelehrten, als auch der Volksführer und Verführer das ganze Volk mehr und mehr verseucht und schließlich Katastrophen herbei führt, wie wir sie in Rußland vor Augen sehen, wo alle Bande frommer Scheu sich gelöst haben, und nach den furchtbaren Niederlagen durch die Japaner zu Lande und im Seekriege die volle Anarchie herrscht.

4.April 1908.
Die Reichstagswahl veranlaßte ziemliche Unruhe und Tumult. In der Stichwahl 1. April erhielt hier der Rechtsanwalt Groeneveld aus Weener (konservativ deutsch-sozial) 97, der Landwirt Jan Fegter aus Schotten-Aland (freisinnig) 51 Stimmen. Die Arbeiter benutzen die Gelegenheit, ihre Mißstimmung gegen den Bauernstand kundzugeben. Fegter, wiewohl selbst Bauer, wird von seinen Berufsgenossen, die meist dem Bund der Landwirte angehören (Konferent) sehr bekämpft, von den Juden sehr unterstützt. Er hat in den Städten die große Stimmenzahl erhalten.

1913
Die Lage der Weltpolitik ist noch immer unsicher. Die Türkei ist von den 4 Balkanverbündeten Montenegro, Bulgarien, Serbien, Griechenland besiegt worden. Die Großmächte geben sie preis. Es scheint, daß Mohammed nach langer Schreckensherrschaft Europa räumen muß. Unsere starke Kriegsmacht zu Lande und zu Wasser bewahrt uns vor Angriffen der Nachbarn. Besonders auch die Angst vor den Luftschiffen (Zeppelins) seitens Englands.
Es ist hocherfreulich, daß ohne Anregung und Befehl von den Behörden spontan aus dem Volke die Gedächtnisfeier der Leipziger Schlacht (1813) sich überall unter großer Teilnahme aus allen Kreisen des Volkes so begeistert gestaltet hat, während der Kaiser und sämmtl. deutsche Fürsten im Verein mit den Vertretern des Zaren u. des Kaisers v. Österreich zur Einweihung des imposanten Völkerschlachtdenkmals in Leipzig versammelt sind.

Trotz aller fanatischen Hetzereien der vaterlandslosen Socialdemokratie hält das deutsche Volk fest an seinen Idealen, die in der großen Zeit vor 100 Jahren todesmutige Begeisterung und Sieg zu Wege brachten.

An dem am 4. August ausgebrochenen Weltkrieg mit Frankreich, Rußland, England, Japan, Belgien, Serbien, Montenegro, Portugal ist auch die Gemeinde Greetsiel durch die Einberufung zahlreicher Militärpflichtigen beteiligt, im Ganzen bis zum 1. Oktober: 37, darunter zu dem Feinde in Frankreich 11, in Rußland 1, die Anderen in Wilhelmshaven als Mariner, in Borkum als Besatzung, und an einzelnen Besatzungsorten. Gefallen ist bisher am 7. Sept. in Frankreich der Dienstknecht Waalke Iwwerks an den Folgen schwerer Verwundung im Lazarett in Guise (belg. Grenze). Eine Besatzung von etwa 50 Landwehrmännern steht unter einem Feldwebel im Orte als Wachtmannschaft; sie stammen meist aus Oldenburg, 37 Reg. Cloppenburg, Vechta, Varel u. and. Gegenden und sind bei den Einwohnern einquartiert. Die Schiffahrt steht, sonst geht Alles seinen gewohnten Gang. Abends findet Kriegsbetstunde an einem Wochentage statt, der von den Soldaten besucht wird und zahlreiche Zuhörer aus der Gemeinde findet. Überhaupt geht ein sehr ernster Zug durch das ganze Volk, das zu Gottes Wort und Gebet eine entschiedene Wendung genommen hat unter dem Druck der Zeit. Da die Ernte vorzüglich war und die Angehörigen der Einberufenen gut versorgt werden (monatl. 9 bis 12 M (im Winter) und 6 M für jedes Kind), so ist bis jetzt kein Notstand zu bemerken (1. Nov.). Die Siege in Belgien (Lüttich, Antwerpen) und im Osten (Gen. v. Hindenburg) erwirkten viel Jubel u. gute Zuversicht, während anfangs der Abzug viel Erregung verursacht hatte. Zur Heeresführung herrscht unbedingtes Vertrauen. Zuerst erwartete man den Angriff der Engländer auf Flotte und Küste. Da dies heimtückische .Krämervolk sich ganz passiv verhält, nur auf See Handelsschiffe kapert, so ist die Besorgnis verschwunden. Für die im Dienst Stehenden werden durch die Frauen der Gemeinde Kleider angefertigt, zur Erwärmung: Unterkleider, Strümpfe u. dgl., die nach Hannover abgesandt werden (Intendantur des Armeecorps). 1200 M wurden für Notfälle (Miete u. and. Unterstützung) kollektiert; auch ein Betrag v. 200 M zur gelegentlichen Verwendung. Jedem Eingezogenen wird wöchentlich das Sonntagsblatt gesandt.

1915
Die einigermaßen Kriegstauglichen sind nun bis ca. 42 Jahre fast alle einberufen. Daß wir besonders gegen England durchfechten müssen, steht Allen fest, wenn auch große Sehnsucht nach Frieden vorhanden ist. Der zweite Winterfeldzug wird jetzt als notwendig mit Geduld aus Gottes Hand hingenommen. Jedermann freut sich der heldenmutigen Taten unserer Armee, der Einigkeit des Volkes und der vorzüglichen Führung und mit vollem Vertrauen und Liebe blicken Alle auf den obersten Kriegsherrn, Kaiser Wilhelm1 der mit Zuversicht auf den Sieg der gerechten Sache den lügnerischen Feinden die Stirn bietet.
Unser Arbeiterverein steuert noch treu bei zur Beschenkung unserer Krieger in wöchentlichen Sammlungen. Greetsiel, den 26. November 1915

Jahresende 1915
Am Jahresschluß sind wir dankbar für die bisherige große Hilfe unseres Bundesgenossen, des starken Gottes, der uns dem Sieg gab im Osten, Westen und Süden. Fest steht der Wall der Schützen in Frankreich an den Grenzen. Belgien und Polen mit Kurland ist unser. Galizien ist fast ganz den Russen entrissen. Serbien durch das verbündete Deutschland; Österreich und Bulgarien unter Gen. Feldm. Mackensen in 2 Monaten erobert. In der Türkei steht unser General Excall. Liman Sanders Pascha ein deutsches auserlesenes Korps an der Spitze der Abwehrtruppen, die die Dardanellen behaupteten. Unsere Unterseeboote tun der engl. Meeresherrschaft Abbruch. Ist der Friede noch nicht errungen, so ist doch auf den Sieg zu rechnen. Unser Volk ist einig und fest trotz Teuerung, Strömen von Blut und Tränen. Gott verleihe ferner Ausdauer und Zuversicht

1916
Die Teuerung der Lebensmittel mit Ausnahme des Brotes wird immer drückender. Futterwaren fehlen fast ganz. Die Butter kostet 2 M 50 Pf, ein Ei 25 Pf. - Die Ortsbehörde läßt von Zeit zu Zeit Tiere schlachten und verkaufen zu ermäßigten Preisen. Der Fleckensvorsteher hilft dem Mangel ab soweit er kann aus Kreismitteln. Die Ernte des Jahres (16. August) ist Gottlob gut ausgefallen (Erbsen ausgenommen). Nach langem Regen u. Kälte ist Mitte Juli warmes Erntewetter eingetreten. Die Stimmung der Bevölkerung ist im Ganzen gedrückt, doch auch ergeben in Gottes Willen und dankbar für die bisherige Bewahrung vor Einfällen der Feinde.

1917
Der Krieg hält mit unverminderter Heftigkeit an, auch nach der Gefangensetzung und Absetzung von Zar Nikolaus II. Die Entscheidung im Westen in Flandern und durch die Unterseeboote scheint aber näherzukommen. Unser Volk hält aus unter Entbehrungen, und erhofft vom Lenker der Schlachten einen ehrenvollen Ausgang. Der Plan der Aushungerung unseres Vaterlandes - von unserem Kaiser ein niederträchtiger Gedanke genannt - wird durch die günstigen Ernteaussichten in diesem Jahre in Frage gestellt und so Gott will vereitelt werden (Juli 1917). In den größeren Städten ist die Knappheit der Lebensmittel groß.
Die Lasten des Krieges werden mit mehr Ergebung getragen als bisher. Am empfindlichsten sind die Entbehrung von Fett für Schwerarbeitende und von Milch für Kranke und Kinder. Erfreulich ist, daß der Alkoholgenuß fast ganz aufhörte, da Branntwein gar nicht und Bier nur zu hohem Preise und in minderwertigem Gehalt zu bekommen ist.

1918
Die Teuerung hält an. Butter fehlt seit Monaten. Milch ist schwer zu bekommen. Die Kühe sind schlecht genährt und geben wenig Milch. Fett ist nicht zu bekommen. Ein Ferkel von 30 Pfd kostet 75 M; ein Schaf 400 M. Tee giebt es schon lange nicht mehr, Tabak für 12 - 16 M das Pfund, wenn es solchen giebt. Das Beste ist, daß alkoholische Getränke so teuer sind oder ganz fehlen. Trinker kommen nicht mehr vor. Eier kosten 30 Pf das Stück. Der Stundenlohn ist für Arbeiter 70 Pf bis 1 M für Schwerarbeiter. Seit dem großen Siege im Westen (März u. Anfang April) ist die; Stimmung gehobener. Der Friedensschluß mit Rußland, Ukraine und Rumänien übt eine gute Wirkung aus auf die Gemüter. Man erhofft auch von dort Kornzufuhr. Von einer durch die Kriegserfahrungen hervorgerufenen Vertiefung christlichen Sinnes ist nichts zu merken. Der Kirchenbesuch ist mittelmäßig, im Ganzen befriedigend, da ja etwa 100 Männer fehlen und die Frauen viel in und außer dem Hause zu arbeiten haben. Man sieht sie überall mit den älteren Kindern graben und pflanzen.

November. Große Umwälzung im Staat. Abdankung des Kaisers. Die Republik durch den Arbeiter und Soldatenrat proklamiert, der Waffenstillstand angeboten von der Volksregierung, von den Feinden angenommen unter sehr harten Bedingungen. Sämmtliche deutschen Fürsten haben dem Thron entsagt. Die Nationalversammlung soll 1919 entscheiden über die künftige Verfassung des deutschen Volkes.

1919
Am 28. Juni wurde der Friedensvertrag zu Versailles unterzeichnet. Nach dem kopflosen Waffenstillstand am 9. Nov. 1918 das schmachvolle Ende des glorreichen Krieges. Ex oriare aliquis nostris ex ossibus ultor! Für unsere Gemeinde hatte der Krieg zweierlei gute Folgen:
  1. Der Trunksucht wurde ein Ende bereitet durch Mangel an Rauschtrank.
  2. Die Arbeiter erlangten bessere Lebensbedingungen: mehr Ackerland und höhere Löhne. Dafür verpflichteten sie sich, die Einwohner durch Beteiligung an der Sicherheitswehr gegen Plünderung durch umherstreifende bewaffnete Banden zu schützen.

Das christliche Leben ist bisher durch den Krieg nicht gefördert. Die Lügen der Feinde über unsere Schuld am Kriege, die Verhetzung gegen Regierung und Heerführer haben Eingang gefunden auch in dem Arbeiterstand bei uns. Die vielen "gemeinen Genuß- und Geldhunde mit ausgestreckter Zunge" (Fr.Th. Sischa) in allen Kreisen des Volkes deuten auf tiefen inneren Verfall, der nur durch ein großes Unglück zu heilen ist, indem es die Menschen vertieft und bessert.
Unser ev. Arbeiterverein ist umgestaltet in einen "sozialen Volksverein". Er hat 42 Mitglieder. Ein Gesangchor aus Männern und Frauen (Mädchen) hat sich gebildet unter Leitung von Lehrer Rosenboom. Lehrer Otten ist Vorsitzender. Fischer Hermannus Baalmann Schriftführer, Schuhmacher Remmers Rechnungsführer.
Ein Bürgerverein wurde gegründet am 13. Mai an Stelle des ev. Arbeitervereins, der durch den Verband landwirtschaftlicher Arbeiter lahmgelegt wurde.

1921
Am 21. Nov. fand die Wahl von Abgeordneten zu verfassunggebender Kirchenversammlung der ev. reform. Kirche der Prov. Hannover durch Urwahlen, alle 24jährigen Konfirmierten der Gemeinde statt. 58 Männer und 64 Frauen, zus. 126 Personen übten ihr Wahlrecht aus und wählten die ihnen durch Stimmzettel vorgeschlagenen Männer, Pastor Frerichs in Eilsum, Kaufm. G. ter Vehn - Norden und Strohhändler J. Smidt in Groothusen und deren Ersatzmänner. Die Wahl geschah v. 1 - 7 Uhr nachm. im Konfirmandenzimmer. Die Kirche soll ganz selbständig werden, nachdem das landesherrliche Kirchenregiment in Wegfall gekommen ist. Konsistorium, Superintendenten werden von den kirchlichen Korporationen gewählt werden. Frauenwahlrecht kommt zur Einführung, das Pfarrwahlrecht soll geändert werden.
Die Zukunft ist sehr dunkel. Da die Demütigung unter der gewaltigen Hand Gottes noch wenig zu spüren ist, ist auch eine Erhöhung aus der Tiefe noch nicht zu erwarten. Möge die Not beten lehren.
In der Vereinbarung zwischen dem Schulverband (politische Gemeinde) und der Kirchengemeinde wurden 2/3 der Grundstücke der Kirche, 1/3 dem Schulverbande überlassen.

1922
Die Lage unseres Vaterlandes wird v. Monat zu Monat betrübender.
Die kriegerische und brutale Haltung und die passive Haltung der Staaten, besonders der Terror i. Rheinland und Ruhrgebiet, trägt die Schuld an dem Niedergang unseres Volkes, dazu die unseligen Parteiungen in unserem wehrlosen Volke, das den "Welschen" (Präsid. Wilson) zum Opfer wurde in seinem unpolitischen Wahn vom Völkerfrieden.

1923
Die hierneben verzeichneten 10 Arbeiter sind nach Lingen transportiert. Die schwere Strafe soll abschreckend wirken. Die Mehrzahl bedachte nicht, wie strafwürdig Gewalttätigkeiten waren und ließ sich fortreißen von einigen Heißspornen, die seit Jahren gegen die Landwirte, die freilich durch ihr selbstbewußtes Benehmen Zündstoff aufhäuften, stark reizten, hetzten. Der durch die unsinnige Revolution 1918 entfachte Geist, der besonders von Emden her die Landarbeiter beeinflußte, trieb die Leute zu solchen Exzessen, die in 1848, dem ,,tollen" Jahre ihr Vorspiel hatten. Damals schlug die Greetsieler Bürgerwehr den Aufstand nieder. So lange die Arbeiter nicht durch eigenen Landbesitz (Erbpachten) selbständiger gestellt werden und auf eigener Scholle ihr Heim haben, werden Explosionen immer wiederkehren. Ein Agrargesetz (Bodenreform) muß Wandel schaffen. Abkürzung der Strafzeit (60 Proz. d.h. 60 Tage v. 100) wird im Gnadenwege erfolgen, wie man hofft. P.S. Ist erfolgt. (Zeitungsbericht mit Angabe der Namen in Ostfries. Zeitung vom 24.10.1923).

1924
Juli. Nach der großen Verwirrung, die die Revolution 1918 in den Köpfen der unter den Folgen des entnervenden Weltkrieges angerichtet hatte, bahnt sich allmählich eine Ernüchterung an. Der Kirche hält sich der an meisten in Aufregung und Kopflosigkeit versetzte Arbeiterstand noch immer bis auf einige Ausnahmen fern. Die Autorität des Staates und der Kirche hat einen schwer zu überwindenden Stoß empfangen. In den umliegenden Dörfern zeigen sich erfreuliche Erweckungen die zu der Hoffnung dauernder Hebung des christl. Lebens ermutigen. In der Jugend zeigt sich ernstes Suchen geistlicher Gabe und Kraft.

IV. Anmerkungen zum Verständnis von Römer 13
Das Problem von Römer 13, 1-7 liegt in seiner Deutung und seiner Wirkungsgeschichte. Mit Hilfe dieses Textes - und seiner Überinterpretation - sind bestimmte politische Positionen gerechtfertigt worden. Aber so wie für diesen Text, gilt es im Blick auf das ganze neue Testament, dass hier keine staatstheoretischen Systeme entwickelt werden. Genau so wenig "gibt es hier eine Staatslehre, in der ... eine bestimmte Staatsform empfohlen würde." Der Staat ist für die junge Christengemeinde nicht anders als ein Provisorium, keinesfalls eine heilbringende Institution. Sie erwarten ihr Heil und das der Erde von dem wiederkommenden Christus. Diese Einschätzung relativiert und entideologisiert den Staat und macht frei, missbräuchliches Machtgebaren zu kritisieren. Deutlich ist, dass dort, wo der Staat zur totalitären und sich selbst vergöttlichenden Macht verkommt, die christliche Gemeinde widerständig sein wird. Wenn nach Römer 13 auch die Christen sich der staatlichen Gewalt unterzuordnen haben, dann wird dies damit begründet, dass die gesellschaftliche Ordnung auf Gottes Willen zurückgeht (1-2) und durch die Polizei- und Strafgewalt (3-4) dem Staat aufgetragen ist, das Gute zu belohnen und das Böse zu bestrafen. Offen bleibt die Frage, was geschieht, wenn der Staat zum Unrechtsstaat wird. Der Abschnitt selber nimmt nach Käsemann das hellenistische Staats- und Bürgerideal auf, um Schwärmer in der römischen Gemeinde zur Ordnung zu rufen (Röm 12,3; 1. Korinther 7,24). Vor Augen stehen ihm nicht, das zeigt die Verwendung von Ausdrücken aus der römischen Verwaltungssprache, "das Paulus an dieser Stelle keine grundsätzlichen Aussagen über das Verhältnis von Christen zur Obrigkeit geben will." Vielmehr "stehen dem Apostel, wie seine Terminologie anzeigt, die verschiedensten lokalen und regionalen Behörden, und zwar weniger als Institutionen, mehr in ihren Organen und Funktionen von Steuereinnehmern über die Polizei zu den Magistratsangestellten und römischen Beamten hin, vor Augen. Es handelt sich um jenen Kreis von Machtträgern, mit denen der kleine Mann in Berührung kommen kann und hinter denen er die regionale oder die zentrale Verwaltung sieht." Weil Paulus offenbar hier nicht damit rechnet, dass staatliche Gewalt totalitär werden könne, mahnt er zum Gehorsam und thematisiert die Frage eines legitimen Widerstandes nicht. Auch für Wilkens gilt, dass die Gehorsamsforderung des Paulus in Römer 13 zwar generell sei und sie das Thema des Briefes sei, nicht aber der Staat als solcher. "Römer 13, 1-7 ist keine christliche Staatstheorie."
Von Römer 13 also ein Gottesgnadentum der jeweils Regierenden abzuleiten, ist mehr als verwegen. Keine Regierung ist von Gottes Gnaden, sonder sie braucht Gottes Segen und Gnade, um ihre schwere und verantwortungsvolle Aufgabe zu bewältigen. Dies gilt auch für Kirchenregierungen. Im Blick auf den modernen Staat als Institution und Organisation gilt, dass er in seinen drei Gewalten - Legislative, Exekutive und Jurisdiktion - dem Volk verantwortlich ist. Versteht sich doch der demokratische Staat nicht als Diener Gottes, sondern als rein säkulare Größe." Jeder Einzelne aber hat verantwortlich teil an der Ausübung der Macht und darum wird die Kirche den Einzelnen in seiner Stellung als Regierender oder Regierter darauf verweisen, dass er und sie für ihr Handeln oder Nichthandeln Gott verantwortlich sind.




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu125/staatundkirche.htm, Stand: April 2009, dk