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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 125 - April 2009


Predigt im ökumenischen Gottesdienst für "Unbedachte"
am 9.11.2008 in St. Petri, Braunschweig

von Pfarrerin Kristina Kühnbaum-Schmidt
(Download als pdf hier)


I

Liebe Gemeinde,

Namen, so viele Namen.
Gerhard, Marianne, Martin, Ursula,
Charlotte, Karl, Marie, Uwe.
So viele Namen.
Über 200 Namen nennen wir heute
in diesem Gottesdienst.
An über 200 Menschen denken wir heute.
Den einen oder die andere von ihnen
Hat vielleicht jemand von uns gekannt,
verbindet etwas mit seinem,
mit ihrem Namen:
Eine vage Vorstellung vielleicht nur,
ein Gesicht,
vielleicht aber auch mehr als das -
eine Beziehung, eine Geschichte, ein Gefühl.
Vielleicht Schmerz oder Trauer,
Fragen oder Ratlosigkeit.

Und andere Namen,
so viele Namen,
stehen heute für Menschen,
die keiner von uns,
die anscheinend überhaupt niemand mehr gekannt hat,
für die niemand mehr da sein wollte oder konnte.
Menschen,
die niemand begleitet hat auf ihrem letzten Weg,
keiner,
der an der Seite des Bestatters oder Friedhofmitarbeiters ging,
niemand,
der von ihnen Abschied nahm,
niemand,
der noch einmal ihren Namen sprach:
Karl, Charlotte, Gerhard, Ursula,
Martin, Marianne, Uwe, Maie.

Und dass das so war,
über 200 mal in unserer Stadt
im zurückliegenden Jahr,
über 200 "anonyme" Bestattungen
ohne Trauerfeier, ohne Begleitung,
das lässt uns nachdenklich werden,
lässt uns ins Nachdenken kommen,
weil wir Menschen eben keine anonymen Nummern,
keine namenlosen Dinge sind,
die man ablegt und vergisst,
die man beiseite packen kann,
wenn man keine Verwendung mehr für sie
oder keinen Nutzen mehr von ihnen hat.

Die über 200 unbegleitet und unbedacht Gestorbenen
lassen uns ins Nachdenken kommen
nicht nur über den Tod
und die Würde auch des gestorbenen Menschen,
sie lassen uns auch ins Nachdenken kommen
über das Leben, das wir führen
und über die Gemeinschaft,
in der wir leben und deren Teil wir sind.
Und allem angeblichen Individualismus zum Trotz
ist es heute eben oft so:
Nicht wer der andere ist,
was ihn bewegt, was er denkt und fühlt,
was ihn als Menschen ausmacht,
ist entscheidend,
sondern es überwiegt das Interesse daran,
inwieweit er für andere und ihre Ziele von Nutzen ist,
verwertbar, ver-brauchbar.

Aber gegenüber allen Kosten-Nutzen-Rechnungen
und Machbarkeitskalkulationen
betont der christliche Glaube
und betont die christliche Tradition
den unschätzbaren Wert,
die Kostbarkeit, das Geschenk jedes einzelnen Menschenlebens.


II

In der Bibel im Buch Jesaja heißt es:
"So spricht der Herr,
der dich geschaffen hat
und der dich gemacht hat:
Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!"


Gott ruft uns beim Namen,
jeden und jede einzelne von uns,
jede und jeden der über 200 Unbedachten unserer Stadt.
Und das heißt:
Wir sind keine namenlosen Nummern bei Gott,
keine Masse unbedeutender Wesen,
die man getrost vergessen kann.
Gegen das vergessen ruft Gott uns beim Namen.
Bei ihm ist niemand,
kein Lebender, kein Gestorbener, unbedacht.

Bei Gott ist keiner unbedacht -
dieser Satz macht auch etwas deutlich
vom Sinn des Glaubens an die Auferstehung,
an das ewige Leben.

Der Glaube an die Auferstehung besagt nämlich auch:
Jedes menschliche leben ist so wertvoll, so kostbar,
dass Gott es auch nach dem Tod
nicht als sinnlose Materialsammlung,
als pure Anhäufung chemischer Stoffe
oder als bloßen Schauplatz biologischer Prozesse ansieht.

Wenn Gott selbst mit den Toten
so aufmerksam und liebevoll umgeht,
wenn Gott selbst den Toten eine Zukunft verheißt,
wenn er also selbst dem anscheinend sinnlosesten,
weil leblosem Leben,
eine Perspektive, eine Hoffnung gibt,
was mag das dann uns sagen,
über unsere Haltung dem eigenen
und dem Leben anderer gegenüber!

Es ist an uns,
Anteil zu nehmen am leben derer,
die in unserer Nachbarschaft wohnen,
es ist an uns,
die Würde jedes einzelnen menschlichen Lebens
bei uns und weltweit
als ein unendlich höheres Gut anzusehen
als konjunkturelles Wachstum und steigende Renditen,
es ist an uns,
aufmerksam zu sein
für das Schicksal derer,
mit denen wir das Leben teilen,
sei es in unseren Familien,
in unserem Freundeskreis,
in unserer Straße,
in unserer Stadt.

Ist das denn
- um Gottes Willen -
so schwer?


III

"So spricht der Herr,
der dich geschaffen hat
und der dich gemacht hat:
Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!"


Gott ruft uns beim Namen -
Wenn wir ins Leben kommen,
wenn wir aus dem leben gehen.

Vor Gott nennen wir heute
die Namen der Frauen und Männer,
die bei ihrer Bestattung
von Menschen unbedacht geblieben sind.
Wir achten damit die Würde ihres Lebens,
das von Gott niemals unbedacht war.

Und wenn wir das heute hier,
in der St. Petri-Kirche tun,
so knüpfen wir damit an
an eine alte, in Vergessenheit geratene Tradition.

Im Mittelalter war an unserer Kirche
der sogenannte Petri-Kaland angesiedelt,
eine Gemeinschaft der Geistlichen der Stadt,
die hier jährlich der Gestorbenen aus ihren Reihen,
aber auch derer gedachten,
die hier auf der Durchreise oder auf Pilgerfahrt
ohne Angehörige und Freunde
gestorben und bestattet worden waren.
In dieser Kirche werden heute
also nicht zu ersten Mal
die Namen von Menschen Unbedachter genannt.

Wir nennen heute die Namen
der in unserer Stadt unbedacht Gestorbenen.
Wir wissen wenig oder gar nichts von ihrem Leben,
aber wir denken an sie mit Trauer und mit Respekt.
Ihr Leben war kostbar,
so wie es unser Leben ist.
Für sie wie für uns
gilt im Leben, im Sterben, im Tod Gottes Wort:
"So spricht der Herr,
der dich geschaffen hat
und der dich gemacht hat:
Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!"

Amen.




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