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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 135 - Mai 2012


Brasilienrundbriefe Februar und April 2012

von Hans Goswin Clemen
(Download als pdf hier)

Brasilienrundbrief Februar 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

die im vorigen Jahr wegen der Ermordung von Hilario Schregele abgesagte Reise werden wir jetzt durchführen. Zu viert fliegen wir vom 24. Februar bis zum 20. März. Und natürlich trägt jeder die Kosten selbst. Wir sind sehr gespannt, was uns dort erwartet.

Das sind die Stationen unserer Reise:
Wir fliegen bis Foz do Iguacu in Parana, am Dreiländereck von Brasilien, Paraguay und Argentinien. Dort sind nicht nur die spektakulären Wasserfälle vom Rio Iguacu sondern auch das von Siemens erbaute Wasserkraftwerk ITAIPU mit seinem fast 300 km langen Stausee, von dessen Ufern über 8.000 Familien vertrieben wurden. Nicht weit entfernt in Cascavel hat sich 1984 die Landlosenbewegung MST offiziell gegründet.

Mit dem Bus fahren wir nach Campo Ere, wo Baldomar Schregele 1979 die erste Landbesetzung in Santa Catarina organisiert hat. 320 Familien sind auf der Fazenda Burro Branco angesiedelt worden. In Campo Ere haben wir bei unserem letzten Besuch 1999 eine Sonnenkollektoranlage auf das Gewerkschaftshaus gebaut und eine Werkstatt dafür eingerichtet. Die Volksorganisationen führten dort gerade einen 900 Stunden Kurs über biologischen Anbau TERRA SOLIDARIA durch. Baldomar lebte zu der Zeit mit seiner Frau und 60 Familien auf Fazenda Caldato, die sie im Einvernehmen mit der staatlichen Landbehörde INCRA gerade besetzt hatten.

350 km weiter nach Osten liegt unser wichtigstes Ziel, das Munizip Lebom Régis. Dort lebt Baldomar mit seiner Familie nach der gewaltsamen Vertreibung von Caldato durch Pistoleiros im Juli 2000. Die INCRA hatte kein Geld für die Enteignung. So sind die Familien nach Zeiten auf der Straße in das Lager Ponte Serrada mit weiteren 180 Familien gekommen. Und Lager bedeutet ein Leben in Hütten aus Ästen und Plastikplanen, angewiesen auf Hilfe von außen, hoffen auf die Versprechen der INCRA.

Baldomar hat von dort weitere Besetzungen von brachliegendem Land mit organisiert. Er selbst ist mit seiner Frau Erica und zunächst 49 Familien im März 2001 auf das 140 ha große Landstück SALTINHO gezogen. Die INCRA versprach die Legalisierung. Aber bis heute warten sie. Die anderen Familien haben nach und nach in Gruppen Land bekommen. Es ist ein großes Gebiet mit fast 100 km Durchmesser. Baldomar hat mit jetzt 150 Familien eine Gemüsekooperative gegründet, die ganz nach dem Beispiel TERRA SOLIDARIA arbeitet.

Wir haben diese Gruppen in den letzten Jahren mit ihren Spenden unterstützt. Jetzt werden wir sehen, was dort geschehen ist, welche Schwierigkeiten und welche Erfolge da sind. Wie funktionieren die Bewässerungsanlage, die Gewächshäuser, die Maschinen und die Fahrzeuge? Wie haben die Menschen die Rückschläge durch die Überschwemmungen, die großen Trockenperioden und die Stürme überstanden? Ist da noch Mut zum Weitermachen?

Aber für uns ist auch ganz wichtig, Erica und Baldomar Schregele zu treffen, die so sehr von Krankheit betroffen sind und den gewaltsamen Tod ihres Sohnes nicht verwinden können.

Brasilien hat sich unter Lula und der neuen Präsidentin Dilma Roussef verändert. Sie sind eine wichtige Macht in der Welt geworden. Viel ist geschehen zur Bekämpfung der Armut. Aber eine Agrarreform konnten sie bisher noch nicht durchsetzen. Viele Programme für die Armen sind noch von der alten Bürokratie ausgebremst worden. Es liegen immer noch Millionen Familien auf der Straße, in den Favelas am Rande der Orte auch im Innern.

Was MST heute macht, welche Projekte der MST in ganz Brasilien umgesetzt hat hauptsächlich in den Bereichen Wiederansiedlung, Wirtschaften, Gesundheit und Bildung darüber werden wir auch auf unseren weiteren Stationen viel erfahren.

Wir werden Salete und Antoninho Campigotto in Ronda Alta und Annoni wieder treffen. Sie waren im Straßenlager Nathalina und dann auf Nova Ronda Alta. Salete arbeitet als Lehrerin in einer Schule von MST für Jugendliche vom Land. Auch Padre Arnildo werden wir treffen in seiner jetzigen Gemeinde Carazinho.

Unsere letzte Station ist bei der IECLB, der lutherischen Kirche, zunächst in Sao Leopoldo. Dort treffen wir Hans Trein vom COMIN, der Indianermission. Und schließlich auch Vertreter in Porto Alegre, die uns bei jedem unserer Besuche empfangen und 1999 so hilfreich unterstützt haben.

Von Porto Alegre fliegen wir zurück. Hoffentlich mit vielen guten Nachrichten, neuen Ideen und Anregungen auch für unseren Umgang mit unserer einen Welt. Wir werden davon berichten.

Begleiten Sie uns alle mit ihren Gedanken.

Herzliche Grüße
E um grande abraco

Hans Goswin Clemen



Brasilien-Rundbrief April 2012

Jetzt sind wir wohlbehalten und voller neuer Erfahrungen wieder zurück. Es hat sich viel verändert in Brasilien. Sie treffen keine Bettler mehr auf den Straßen und keiner verhungert mehr. Es geht voran auch für die Armen. Lula, der 2001 Präsident wurde, und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff seit 2010 haben keine Mehrheiten. Im Senat sind von den 90 Sitzen nur 14 Sitze von der PT, und im Parlament haben sie von 530 Sitzen nur 140. So gibt es noch keine Agrarreform. Und Landwirtschaftsministerium verfügt die Abteilung für Agraria familiar über 17 Milliarden R$ während die Abteilung für die Großen über 100 Milliarden R$ verfügt. Umso mehr haben wir über ihre Projekte für die Armen gestaunt.

Heute berichte ich von 2 Beispielen:
Nach 36 Stunde Reise sind wir in der Poussada Natureza in Foz angekommen, haben uns mit Besuchen der Wasserfälle und von Itaipu akklimatisiert. Mit dem Bus sind wir nach Campo Ere gefahren, haben eine Gewerkschaftsversammlung der Kleinbauern mitgemacht und drei Familien besucht, die alle zu ihrer kargen Landwirtschaft neue Arbeiten dazu angefangen haben: Weinproduktion, eine Lanchonete, ein Imbiss, an der Asphaltstraße und einen Heilpflanzengarten mit Weiterverarbeitung.

Und am nächsten Tag in Santa Terezinha sind wir bei der Einweihung von 25 neuen Häusern. Zuerst spricht Lisete, die Gewerkschaftsvorsitzende, 2 Stunden bei Versammlung von über 200 Leuten über ihre gemeinsame Arbeit. Dann werden wir vorgestellt und sprechen zu den Leuten, dann der Bürgermeister. Und schließlich bekommen die 25 Familien ihre Urkunden und von uns die T-Shirts der Gewerkschaft. Nach dem gemeinsamen Essen aus riesigen Töpfen besuchen wir eine Familie. Über die Gewerkschaft haben sie die Kosten für das Material zum Hausbau von LULA bekommen. Es ist das PROJEKT: MEU CASA – MEU VIDA. Vier Familien haben sich immer zu einer Equipe zusammen getan und gebaut. Und es haben sich viele kleine Handwerksbetriebe gegründet, die die Sanitär- und Elektroarbeiten oder die Ausschachtung machen. Und alle zahlen Steuern. Der Staat zahlt und profitiert.

Das zweite Beispiel beginnt gleich am nächsten Tag. Denn am Abend fahren wir noch weiter nach Lebom Régis, wir um 3 Uhr ankommen. Um 8.30 sind wir bei der Versammlung der PT mit einem Abgeordneten aus Brasilia und mit Baldomar. Er ist wieder voll engagiert.

„Heute Nachmittag bringen wir schwarze Bohnen in die Favela von Fraiburgo. Wir müssen jetzt los.“ Baldomar fährt uns in das Haus der Kooperative von Fraiburgo, Coopercontestado. Weil Baldomars Coopreste noch kein Haus zum Lagern und Weiterverarbeiten hat, sammeln sie hier ihre Gemüse, die über CONAB in die Stadt geliefert werden.

Antonio und Leandro, zwei etwa 30 Jahre alte sympathische Männer aus der Equipe von MST Fraiburgo, erwarten uns. Dazu gehört auch Japonese. Der Camion ist schon mit den in 30kg Säcken verpackten Bohnen beladen. Die Favela liegt an einem Abhang am Rande von Fraiburgo. „Hier wohnen so 10.000 Leute in den Hütten da, zum Teil aus Brettern, einige auch aus Stein.“ Es geht steil bergab auf unbefestigten Wegen. Viele Kinder und Frauen und wenige Männer erwaten uns. Eine kräftige Frau mittleren Alters begrüßt Baldomar, Antonio und Leandro. Sie wohnt hier und ist die Organisatorin dieses Viertels. Baldomar stellt uns als Freunde und Unterstützer von MST vor. Wir werden neugierig und freundlich beguckt. Dann packen auch wir mit an und tragen die Säcke in den offenen Unterstand. Es ist eng und so bleibt es nicht aus, das man sich gegenseitig mit den Säcken auf der Schulter anrempelt. Das gibt fröhliche Blicke und Gelächter. Als der Camion leer ist, die Leute an den beiden Seiten erwartungsvoll stehen, ein etwa 13 jähriges Mädchen ein dickes Heft vor sich auf dem Tisch aufgeschlagen hat, reden erst einmal Antonio und Leandro. Sie begrüßen die Leute, erklären kurz die Aktion, stellen sich und MST vor und rufen dazu auf, mit MST auf Landbesetzungen zu gehen, um das Leben in der Favela zu beenden und ein neues, selbstbestimmtes Leben auf eigenem Land zu beginnen. Sie erklären, wie das gehen kann. Was jeder dazu braucht, und das niemand allein gelassen wird. Sie verschweigen nicht, dass das Ganze Mut und Geduld braucht. Die Leute klatschen. Dann werden die Bohnen verteilt. Das Mädchen trägt die Namen ein, jeder bekommt einen Zettel, einen Abholschein. Zwei Helfer verteilen die Bohnen in die von jedem mitgebrachten Tüten. „Damit ihr das miterleben könnt, haben wir die Bohnenverteilung auf Heute verlegt“, erklärt uns Baldomar. Er ist ein Organisationsgenie. Wir werden noch weiter staunen.

Das Projekt CONAB hat Lula eingeführt: Assentados, Kleinbauern, die über MST zu Land gekommen sind, können ihre Produkte zu den Armen in die Stadt bringen und werden von CONAB bezahlt.

An einem anderen Nachmittag fahren wir in das Accampamento bei Curitibanos. MST hat hier ein Stück Land besetzt. Die INCRA hat diese Besetzung anerkannt. Jetzt mussten die Familien ein Accampament, ein Lager, machen und warten, dass die INCRA das Land liberiert, also dem Besitzer abkauft. Das Lager besteht schon 2 Jahre. Jetzt leben hier 500 Leute. Einige Familien sind aus der Favela von Fraiburgo. Heute sind 5 Familien von dort gekommen, die sich nach unserem Bohnenbesuch dafür entschieden haben.

Die INCRA liefert jetzt jeden Monat Lebensmittel: Reis und Bohnen. Aber das reicht nicht. In der nächsten Woche gehen 40 Familien auf ein Landstück, das die INCRA für sie bestimmt hat. Der Lider des Lagers erzählt uns seine Geschichte. Er stammt aus Parana als Sohn eines Kleinbauern, der sein Land verloren hat. 8 Jahre hat er dann als Tagelöhner gearbeitet und dann MST kennengelernt. Jetzt hat er ein Ziel gehabt. „Wir müssen alle wieder Land haben, um ein würdevolles Leben führen zu können.“ Er hat schon in anderen Accampamentos für MST geholfen. Hier haben sie eine Organisation aufgebaut, dass immer 10 Familien eine Gruppe bilden, jeder in einer Kommission ist und so das Lager organisiert: für Sauberkeit und Hygiene, für Schule, für Verteilung der Lebensmittel, für Konflikte, für Arbeit. Wenn jemand Alkoholprobleme hat, wird ihm geholfen. Alles wird gemeinsam besprochen. Erst in der kleinen Gruppe, dann im ganzen Lager.

Im ganzen Staat gibt es Besetzungen und Assentamentos. In früheren Jahren hat die CPT mit den Padres viel geholfen mit Geld für die Fahrten und Busse. Mit dem Tod von Dom José ist auch die CPT gestorben. Kein Padre kommt mehr, die Kirche hilft nicht mehr.

Erica ist heute mitgekommen. Sie kennt hier viele Familien und erzählt mit ihnen.
Eine Hütte dient als Schule. Die INCRA hat Lernmaterial geliefert. Eine Lehrerin wohnt mit im Lager. Sie unterrichtet gerade drei Kinder. Zwei andere Kinder werden in der Plastikhütte von einer anderen Frau betreut.

Bisher gibt es noch keine Agrarreform. Jedes Stückchen Land muss erkämpft werden. So berichten Tonio, Leandro und Baldomar von ihrer Arbeit für MST: In Santa Catarina organisiert MST Equipen von 4 – 5 Leuten, die jeweils für 7 Munizipien zuständig sind. Die Equipe um Fraiburgo arbeitet mit über 500 Familien. Sie motivieren und begleiten die Familien aus der Favela zur Besetzung oder gleich in ein bestehendes Accampamento und schließlich auf ein Assentamento. Auch dort geht die Unterstützung weiter durch landwirtschaftliche Beratung. Sie gehen durch die Favelas in von Familie zu Familie und erklären ihnen die Möglichkeiten zu Land zu kommen. In den Favelas herrschen oft Drogen und Kriminalität. Sie können in ein Accampamento, ein Lager, kommen. Das ist der erste Schritt. Die Accampamentos sind durch Landbesetzungen von MST entstanden. Am Anfang müssen die Besetzer mit MST für alles selber sorgen: Fahrtkosten, Unterkünfte und Verpflegung. Wird die Besetzung von der INCRA anerkannt, versorgt INCRA sie nach etwa 3 Monaten mit Lebensmitteln. Wer in ein bestehendes Accampamento kommt, wird dann mit versorgt und hat Anspruch auf Land. Die INCRA macht Land frei und verteilt es nur an Accampados über MST. In der letzten Woche haben Baldomar und Tonio 20 Familien aus dieser Favela in ein Lager gebracht. Wenn Land frei ist, kommen die, die am längsten im Lager sind, auf das neue Land und sind dann Assentados. Sie bekommen das Startgeld von INCRA und kommen in die Projekte von LULA: Häuser, Licht usw. Agrartechniker von MST, die die Regierung bezahlt, unterstützen die Familien.




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