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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 137 - August 2015


35. Deutscher- Evangelischer Kirchentag 2015 in Stuttgart
( 03.-07. Juli 2015)

von Birgit Rengel
(Download als pdf hier)

Stuttgart 21: da sah die Stadt rot!
Stuttgart 35: wieder Rot in der Stadt! Aber dieses Mal sind es viele Kirchentagsschals, die mit dem Motto des Kirchentages zu den Musikveranstaltungen und Gottesdiensten (vor allem auch zum Abschlussgottesdienst auf den Canstatter Wasen) in die Luft gehalten wurden und zu Rhythmen geschwenkt oder um Kopf oder Hals oder Bauch gebunden wurden.
Wer den Schal trug, zeigte: Ich gehöre dazu - zu dieser Bewegung, die die Stadt, die öffentlichen Verkehrsmittel, die Messehallen, den Bahnhof, die zigtausenden gastgebenden Haushalte für die fünf Tage des Kirchentages „infiltrierte“ mit Kirchentagsliedern - alten und neuen-, mit Gebeten, mit Hoffnung, mit guter Laune und Freundlichkeit - selbst wenn man wie die Heringe in den U und S Bahnen stand und die Luft auf den Canstatter Wasen bei fast 40 Grad Hitze und Schwüle kaum zu atmen war, wurde gesungen und gelacht.
Das Thema hatte es in sich: „ Damit ihr klug werdet..“ (Psalm 90,12)
Über 100.000 Menschen aller Generationen, kunterbunt und von vielfältiger Frömmigkeit und Motivation für diesen „kirchliche Ausnahmezustand“(?) KIRCHENTAG beschäftigten sich fünf Tage lang mit dem Ende des Lebens, mit der Begrenztheit, mit der daraus evtl. resultierenden bewussten Lebenshaltung - verantwortlich für sich, für andere, für die Umwelt, für den Frieden...-
Die Bibelarbeit zu Mt 25,1-13 mit Anne und Nikolaus Schneider berührte mich zutiefst, nicht zuletzt, weil in jedem Wort auch die aktuelle Lebenssituation der Familie Schneider zu spüren war und daraus eine enorme Kraft und Lebenshoffnung für die Zuhörer erwuchs.

Der Kirchentag war schon immer politisch. Aus ihm ging das politische Nachtgebet und viele liturgische Formen hervor, die Spiritualität und politisches Handeln auf engste verbinden. Ein Mitbegründer des politischen Nachtgebets: Fulbert Steffensky, evangelischer Theologe, einst katholischer Mönch, dann Konvertit und Ehemann von Dorothee Sölle, die aus der Geschichte der Kirchentage nicht wegzudenken ist.
Fulbert Steffenskys Bibelarbeit zu Kohelets Gottesfurcht beinhaltete solche eindrücklichen Sätze wie: „Gott fürchten heißt: Nichts sonst fürchten. Gottesfurcht ist die Befreiung dazu, Mensch zu sein. Die Befreiung von der Überheblichkeit. Die Befreiung zur Endlichkeit und zum Loslassen, zum Lassen. Wir müssen nicht alles bis zum Letzten auskosten.
Wir werden sterben und nicht mehr sein, aber die Welt wird mit uns sein, die Welt unserer Kinder wird sein - und Gott wird sein. Das genügt.“
Nüchterne Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, gepaart mit hoffnungsvoller Gelassenheit und tiefem Trost - so habe ich seine Worte gehört und gefühlt. Seine Exegesen schließt er stets mit einem Wort aus der theologischen Arbeit seiner Frau D. Sölle - in dieser Bibelarbeit gegen alles, was das Leben aus Gottes Hand nehmen und rauben, ja verkäuflich machen möchte: „Ich bin das Geheimnis des Lebens, du wirst mich nicht entziffern und verkäuflich machen.“ (D. Sölle). - Diese Worte höre ich auch im Hinblick auf unseren Arbeitskreis Solwodi (Solidarity with women in distress) in unserer Gemeinde, der sich für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Braunschweig, aber auch in unserem kleinen, scheinbar überschaubaren Helmstedt einsetzt.

Wer an die Kirchentage der Vergangenheit denkt, dem fallen auch die Namen Richard v. Weizsäcker, Friedrich Schorlemmer und natürlich die Dekade „Gerechtigkeit- Frieden-Bewahrung der Schöpfung“ ein.
Resolutionen an den Bundestag zum Frieden, zum atomaren Abbau gingen vom Kirchentag aus. Auch auf diesem Kirchentag wurde ( wenn auch für manche nicht genug) politisch gedacht, gestritten, gerungen u.a. zwischen Frank-Walter Steinmeier und Kofi Annan in der bis auf den letzten Platz gefüllten Hanns-Martin-Schleyer-Halle (Arena).
Die aktuell brennende Sorge um die Flüchtlingssituation stand im Mittelpunkt vieler Debatten.

In der gut gefüllten Porsche- Arena der Mercedesstraße führte der höchst inspirierende und bekannte Moralphilosoph Michael J. Sandel ( „Moral und Politik. Gedanken zu einer gerechten Gesellschaft“)in seine Gedankenwelt zu den moralischen Herausforderungen der Marktwirtschaft ein. Er beleuchtete die Bereiche unserer Gesellschaft, die aus ethischen Gründen den marktwirtschaftlichen Gesetzen nicht unterworfen sein dürften und doch sind.
Welche Bereiche unseres Lebens dürfen nicht der Käuflichkeit ausgesetzt sein? so fragte er und ließ das Publikum in Diskussionen den „Advokat Diaboli“ spielen.
Allerdings kam mir bei den vielen Fallbeispielen wie Organverkauf, etc... die Frage,
inwieweit nicht auch Bildung der Würde des Menschen unterliege und nicht käuflich sein dürfe. Michael J. Sandel ist übrigens Professor an der Harvard Universität, wo er seit 1980 lehrt und durch seine Vorlesungsreihe „Justice“ und durch seine Bücher „Gerechtigkeit“ und „Was man für Geld nicht kaufen kann" zum weltweit bekanntesten Moralphilosophen wurde .
Harvard ist die erste der „Top Ten Unis“ in den USA und die teuerste! Nur die Reichen oder die absoluten Überflieger, die ein Vollstipendium erhalten, können sich dort das Studium und damit eine Vorlesung bei Herrn Sandel leisten! Allein diese Tatsache führte m.E. seine gesamte (moralische) Argumentation ad absurdum und erschwerte mir ernsthaft, seiner klugen Darstellung zu trauen.-

Auch die Ehe für Homosexuelle wurde diskutiert und im Abschlussgottesdienst wurde betont, eine Kirche könne sich nicht gegen die Liebe von Menschen stellen. Wird die Kraft des Kirchentages in diesen Diskussionen bis in die Gemeinden vor Ort, vor allem auch in die Kirchenregierungen reichen?! -

Im Abschlussgottesdienst erfuhr die große Kirchentagsgemeinde zudem, es habe im Vorfeld des Kirchentags Auseinandersetzungen mit pietistischen Richtungen gegeben. War ihnen die bunte Vielfalt zu bedrohlich? -

Ebenso war das Thema „Mission und Judentum“ ein Brennpunkt und führte zu Ausschlüssen von Ständen und Veranstaltern, die sich hierfür stark machten.
Verantwortlichkeit im jüdisch-christlichen Dialog war ein großes Thema auf diesem Kirchentag- auch im Hinblick auf das Reformationsjubiläum:
Luthers Antisemitismus und die Frage, inwieweit die Rezeptionsgeschichte seiner Rechtfertigungslehre der Gnadenlehre des Judentums nicht gerecht werde, führte zu einer spannenden Podiumsdiskussion zwischen Rabbinern und christlichen Theologen. In der Tat ist selten bekannt, dass die Erkenntnis „allein aus Gnade“ bereits in Luthers Psalmvorlesung Raum fand und nicht erst aus Gal oder Rö erwuchs..
Findet in der EKD Schrift „Rechtfertigung und Freiheit" eine Auseinandersetzung mit der evtl. antijüdischen Gestalt von Luthers Rechtfertigungsschriften statt?
Werden solche Themen bei den Veranstaltungen unserer Gemeinden zur „Lutherdekade 2017„ auch behandelt werden oder bleibt es in unseren Propsteien und Landeskirchen bei einer (vielleicht auch oberflächlichen) Heroisierung der Person Luthers ohne eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Schriften für die Kirche und Gesellschaft heute und jetzt?

Theologische Verantwortlichkeit - und bei aller Vielfalt keine Beliebigkeit - das ist die Kunst und die Schwierigkeit eines evangelischen Kirchentags, der neben Bibelarbeiten mit Tausenden von Menschen, in Podiusmsdiskussionen, bei spirituellen Experimenten und Sonderwegen, in Feierabendmahlen, bei Musikveranstaltungen und Konzerten auch noch den Markt der Möglichkeiten bietet, auf dem sich an den jeweiligen Ständen
Gruppierungen innerhalb und außerhalb der Kirche begegnen und hoffentlich miteinander ins Gespräch kommen, die- inhaltlich betrachtet- Welten trennen!
Auch das könnte Friedensarbeit sein -
zumindest ist es Vielfalt, und das ist ja bekanntlich immer schon einmal eine Voraussetzung für Leben und Lebendigkeit.
Der Kirchentag macht Mut zu einer Kirche, zu der sich diese Vielfalt von Menschen und Meinungen hingezogen fühlt und dort auch Raum findet. Eine Kirche, die ein breites Forum für und rund um das Leben bietet.
Endet das dann wieder mit dem Abschlussgottesdienst und der Heimfahrt in die „Amtskirche“? Ist der Kirchentag ein Ausnahmezustand? -
Das liegt auch an uns allen, die wir alle Amtskirche sind.
Tragen wir „nur“ die neuen Lieder in die Gemeinde und singen dann nach Baltruweit, Bittlinger, Viva Voce, Wise Guys? Die haben zumindest bei aller Unterschiedlichkeit eine Botschaft für das Leben...-- oder gehen die Impulse vom Kirchentag darüber hinaus und haben gar auch Einfluss auf die Überlegungen der Neustrukturierungen unserer Landeskirche?-
Unsere Kirchentagspilgergruppe aus St. Christophorus, Helmstedt, bringt von diesem Kirchentag erneut die Bestätigung mit „nach Hause“:
Konformität und Starrheit haben nichts mit der Geistkraft zu tun, die das Pfingstfest uns vermittelt. Zugleich brauchen Menschen Bezüge und Kontinuität,- verlässliche Räume und Zeiten, in denen“ der Glaube wohnen kann.“ (F. Steffensky) ,
...auf dass wir klug werden.




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