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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 137 - August 2015


Einspruch gegen die Rückzugsmentalität in der Kirche

von Herbert Erchinger
(Download als pdf hier)

Ich komme gerade zurück von einem Bildungsurlaubsseminar der Ev Erwachsenen- Bildung zum Thema „Fairer Handel“ . Ein buntes Gemisch der TeilnehmerInnen, kirchlich Engagierte, im Fair Trade Handel Aktive, Gewerkschaftler, VW Beschäftigte, RentnerInnen, Mitglieder von Kirchenvorständen, Kirchlich Beschäftigte. Dies bunte Gemisch tut gut, es führt zu lebendigen Diskussionen und macht Gemeinsamkeiten deutlich . Auch Atheisten bereichern die Gespräche. Uwe Salzmann leitete thematisch das Seminar. Meine Aufgabe war es, biblische Bezüge zur Solidarität mit Unterdrückten und Armen sowie zu gerechtem Wirtschaften herzustellen sowie passende Lieder dazu anzubieten, da ich gern Gitarre spiele.
Mir fiel wieder auf, wie viele biblische Bezüge es zu allen gesellschaftlich relevanten Themen gibt und wie groß die Verknüpfungen zwischen Evangelium und Gesellschaft sein können. Alle singen mit, alle reden mit und es entsteht durch Lieder, Referate, Filme und Bibeltexte eine handlungsfähige Gemeinschaft. „Let my people go!“ Besonders Spirituals und Ohrwurm- artige Kirchentagslieder kommen gut an. Da singt auch der Atheist aus vollem Herzen und genießt die spirituelle Atmosphäre.
Genau so erlebe ich es im immer noch wachsenden Taizé- Kreis in der Pauli-Kirche. Jeder ist willkommen, jeder wird akzeptiert. Da gibt es Schwule, Behinderte, Suchtgefährdete, Buddha- Fans, Konservative, Grüne und Linke, Katholiken, Atheisten und Protestanten. Alle gehören dazu, schweigen und singen gemeinsam und hören zu, wenn andere Meinungen zur Sprache kommen und geben auch selbstverständlich Raum zum Gebet.
Wir haben vom Evangelium und von der spirituellen Gemeinschaft her so viele Chancen. Nutzen wir sie! Gehen wir in die Offensive!
Ich beobachte in den offiziellen Ebenen dagegen eine zunehmend defensive Rückzugsmentalität in der Kirche. Auch das entmutigende Gerede von der Minderheitenkirche nervt. Breiten wir lieber fröhlich unseren Teppich aus, statt ihn verzagt einzurollen!
Stattdessen werden zunehmend Gemeinden zusammengelegt, zB „Pauli-Matthaeus“. Mehrmals habe ich schon erlebt, dass Besucher umherirrten und nicht wussten, ob die gesuchte Veranstaltung nun in Pauli oder in Matthäus stattfindet. Nein, Kirche braucht klare Ziele, örtlich und inhaltlich. Jede Kirche und Gemeinde hat doch ihre eigene Geschichte und ihre eigene unverwechselbare Würde.
Auch den Pfarrermangel lasse ich als Rückzugsargument nicht gelten. Er ist ja zT selbstverschuldet. Da die Landeskirche in den 90er Jahren manchen Vikar in die Arbeitslosigkeit entließ, durfte man sich nicht wundern, dass in der Folge die Zahl der Theologie Studierenden abnahm auf Grund mangelnder Berufsperspektive. Ein verbitterter entlassener Vikar erzählte mir damals, der zuständige Vorgesetzte habe die Namen der Entlassenen verlesen und dann fortgesetzt: Nun singen wir das Lied „Vertraut den neuen Wegen“ EG395 . Zynischer geht’s nicht.
In der katholischen Kirche ist die Zusammenlegung von Gemeinden und die Schließung, ja sogar der Abriss ganzer Kirchen gang und gäbe, obwohl diese doch gerade im katholischen Sakralverständnis geweihte heilige Orte sind mit Ewigem Licht und Hostienschrein. Der Grund ist auch dort der Priestermangel. Und weil Heilige Messen und Sakramente in der katholischen Kirche nur von geweihten Priestern vollzogen werden können, ist dieser Rückzug zwingend. Denn die katholischen Priester hetzen schon heute von Kirche zu Kirche, da sie bei Amtshandlungen nicht von Laien vertreten werden können.
Diese Blockade gibt es doch in der Evangelischen Kirche nicht. Statt aus Pfarrermangel Gemeinden zusammenzulegen, sollten wir das von Luther betonte allgemeine Priestertum aller Gläubigen wieder ernst nehmen. Ich kenne einen ganzen Blumenstrauß hoch engagierter Prädikantinnen und Lektorinnen, die ganz scharf darauf sind, Gottesdienste zu halten und Verantwortung zu übernehmen. Sie sind von dieser Aufgabe ganz erfüllt und müssen oft warten, bis sie wieder angefordert werden. Schon heute werden im Theologischen Zentrum meines Wissens mehr PrädikantInnen und LektorInnen als Vikare ausgebildet. Vielleicht entwickelt sich bei uns eine engagierte ehrenamtliche Prädikanten- und Lektorenschaft als neuer Klerus, wenn wir sie entsprechend kirchenrechtlich anerkennen und fortbilden.
Ja, statt Gemeinden geschichtsvergessen zusammenzulegen, sollten wir Kirchen und Gemeinden, die keine PfarrerInnen haben, ehrenamtlichen PrädikantInnen und LektorInnen anvertrauen. So mancher pensionierte Studienrat, so manche pensionierte Lehrerin, Kindergärtnerin oder Verwaltungsangestellte wäre glücklich über das Vertrauen, ein solches Amt ehrenamtlich für eine gewisse Zeit zu betreuen. Inzwischen dürfen PrädikantInnen ja auch die Sakramente austeilen. Auf diesem Wege könnten wir die Zusammenlegung vieler Gemeinden und die Stilllegung vieler Kirchen in ländlichen Räumen vielleicht vermeiden. Hilfreich ist da auch die Tatsache, dass die bauliche Erhaltung und Pflege vieler Kirchengebäude von denkmalpflegerisch und kulturell Engagierten und Institutionen außerhalb der Kirche unterstützt wird.
Viel aussichtsloser ist doch die Situation in der katholischen Kirche, die aus dogmatischen Gründen vom exklusiven Priestertum nicht lassen kann.
Zwei weitere Symptome der Rückzugsmentalität in der Kirche möchte ich noch benennen. Die Aufhebung der Residenzpflicht halte ich für einen großen Fehler. Kirche muss vor Ort erreichbar sein. Kürzlich hörte ich die Geschichte eines Gemeindepfarrers, der ins nächste Dorf zog, weil seine Frau das Glockengeläut der Kirche neben dem Pfarrhaus nicht mehr ertragen konnte. Na toll.
Ein weiteres Rückzugssymptom sehe ich darin, dass es zunehmend schwerer wird, einen Pfarrer oder eine Pfarrerin überhaupt telefonisch zu erreichen. Der Anrufbeantworter ist kein guter Seelsorger. Auch der Austausch von E-Mails oder SMS ersetzt kein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Wir alle sitzen viel zu viel am Computer.
Zeigen wir unser Gesicht, statt uns in elektronischen Rückzugsgebieten zu verschanzen.




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