Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

(Download des Textes mit Fußnoten als pdf hier)


Die Geschichte der Braunschweiger Stadtkirchen in den 50er Jahren

Vortrag in der Petrigemeinde am 30.10.2009
von Dietrich Kuessner


Der Paukenschlag 1949/1950: die Kirchenaustritte
Das Jahr 1950 begann für die Braunschweiger mit einer erfreulichen Nachricht: die Rationierung für Butter, Margarine und Milch wurde aufgehoben. Das kirchliche Leben hingegen begann mit einem Paukenschlag. Zu Beginn des Jahres 1950 wurde bekannt, dass im vergangenen Jahr 1949 3.019 Braunschweiger aus der ev. Kirche ausgetreten waren, aus der übrigen Landeskirche hingegen nur 640, und Ende des Jahres 1950 waren es immer noch 1.653, aus dem Rest der Landeskirche nur halb so viel: 742. Ihnen standen magere Wiedereintritte von nur 268 und 212 Personen entgegen. Der prozentuale Anteil der konfessionslosen Braunschweiger war zwischen 1946 und 1950 von 16,8 % auf 19,1 % gestiegen, in Zahlen: von rund 30.000 auf 42.000 Braunschweigern. Die Austritte konnten als zeitbedingt und einmalig abgetan werden, denn sie waren eine Reaktion auf den automatischen Abzug der Landeskirchensteuer von der Einkommenssteuer und der gleichzeitigen Einführung eines Kirchgeldes, das vor Ort erhoben wurde und dort auch verblieb. Mit der Zeit würden sich die Kirchenmitglieder an den Abzug gewöhnen, und wirklich nahmen die Austrittsziffern im Laufe der 50er Jahre wieder ab.

Ein weiterer Befund deutete aber einen zunächst sehr dünnen, jedoch nachhaltigen Riss in den Mitgliederbestand an: ab 1950 überwogen in der Propstei jährlich die Austrittsziffern die der Wiedereintritte. Damit wurde "die Säkularisierung" als Jahrhundertthema statistisch angedeutet.
Als drastische Form der Säkularisierung, nämlich als Abfall von Glaube und Kirche, galt vielen die zurückliegende Zeit des Nationalsozialismus, und die Folgen habe man vor sich: die zerstörte Altstadt Braunschweig.

Die Braunschweiger haben ihre Stadt selber zerstört
Das historische Ausmaß der Zerstörung der Altstadt und zugleich von Kirchengebäuden und Kirchengemeinden war auch Anfang der 50er Jahre unübersehbar, wurde aber kaum reflektiert. In der zurückliegenden mehr als 400 jährigen Geschichte der evangelischen Kirchen in Braunschweig hatte es ein solches Ausmaß von Verwüstung nicht gegeben. Fragen: "Wie kam das"? "War das vermeidbar?" Wer ist der Urheber?" lagen auf der Hand, Einer von ihnen, der ehemalige nationalsozialistische Ministerpräsident Klagges, war seit dem 10. Januar 1950 vor dem Braunschweiger Schwurgericht angeklagt. Bis März stellten 250 Zeugen der Anklage die Schrecken des damaligen Staatsterrors den Braunschweigern vor Augen, die Presse berichtete darüber, auch über folgende typische Reaktion: "Gestern, als wieder ein Verhandlungstag gegen Klagges zu Ende war, und sich die Zuhörer ins Freie ergossen, regten Sie sich auf der Münzstraße auf: "Jetzt hacken sie alle auf ihm rum, damals hat keiner einen Ton gesagt."

Fragen nach Urheber und Ursache werden auch heute noch weggeschoben, wenn man wie der stellvertretende Chefredakteur Stefan Kläsener in der BZ vom 17.10. zwar die furchtbaren Erlebnisse der "Trümmerkinder" in Erinnerung ruft, aber gerade diese Eindrücklichkeit die Fragen nach Ursachen und Vermeidbarkeit erdrückt. Jede Erinnerungsfeier, wo auch immer, erstarrt ohne die bohrende Frage nach der Ursache zum sentimentalen Event.
Zugespitzt: die Tatsache, dass die englische Luftwaffe nicht das historische Braunschweig bombardiert hat, sondern das nationalsozialistische Braunschweig, das sich von Hitler, Klagges und seiner nationalsozialistischen Führung nicht trennen wollte, vielleicht auch nicht mehr konnte, ist nicht bewusst und wird auch nicht ins Bewusstsein gerufen. Gepflegt wird eine verräterische Opferterminologie.

Drei Antworten auf die Frage, wie es weitergehen soll
Die evangelische Kirche in Braunschweig entwickelte auf die Zukunftsfrage, wie es nach der Zerstörung weitergehen sollte, drei Antworten. Die erste lautete: Wir bauen alles wieder auf. "Wiederaufbau" lautete das Zauberwort. Mit einem bewundernswerten Fleiß wurde für diese Aufgabe gesammelt und gespendet, der Stadtkirchenverband, der nach Wolfgang Juenke damals "im Geld schwamm", bewilligte 700.000 RM für erste Maßnahmen, aber alle Ersparnisse schmolzen durch die Währungsreform 1948 wieder dahin, und trotzdem: "wir bauen alles wieder auf."
Siegfried Stange, 35 jähriger Pfarrer aus Pommern, seit Herbst 1945 in Katharinen, weil, wie er schrieb, sich "herausstellte, dass doch noch mehr als 800 Familien in den Trümmern des alten Katharinenbereiches wohnten," schrieb ein Jahr später in die Kirchenchronik:
"Von den alten Braunschweiger Kirchen ist außer dem Dom und der St. Michaeliskirche die St. Katharinenkirche die einzige, die das Wüten des Krieges in der Stadt einigermaßen überstanden hat. Zwar sind die äußeren Wahrzeichen, die beiden Türme, herabgestürzt, sämtliche Fenster zersprungen und noch zu guter Letzt am 31.3.1945 zwei Drittel des Dachstuhles abgebrannt, aber der Bau steht. Er kann ohne große Schwierigkeiten und allzu hohe Kosten in seiner früheren Gestalt wiederhergestellt werden. Die wertvolle alte Fritzsche-Orgel, die einst Friedemann Bach gespielt hat, war größtenteils ausgebaut und sichergestellt und kann zu gegebener Zeit wiedereingebaut werde. Die großen Bronce-Kronleuchter waren nach auswärts ausgelagert und können nach erfolgte Instandsetzung des Innenraumes wieder aufgehängt werden."
Die Eintragung aus dem Jahr 1946 spiegelt die Stimmung des 35 Jährigen wider: wir bauen alles wieder auf.

Auch von der Andreas-, Martini-, Petri,- Brüdern- und Magnikirche standen die Außenmauern, Turmstümpfe und größtenteils auch die Gewölbe. Die Gottesdienste fanden überwiegend entweder in den Sakristeien oder Gemeindesälen statt, in Mascherode-Siedlung in einem oberen Raum des bombastisch-nazistischen Gemeinschaftshauses.
Es ging also jahrelang auch ohne große Kirchen. Aber diese Erfahrung wurde nicht nutzbar gemacht.
Erst 1950 konnte die Johannisgemeinde aus ihrem Gemeindesaal wieder in die Kirche einziehen, am 23. Dezember 1951 die Pauligemeinde aus dem Anbau in ihren Kirchenraum.
Am Pfingstsonntag 1953 wurde Katharinen neu eingeweiht, am 7. März 1954 zog die St. Georggemeinde im Siegfriedviertel aus den Gemeinderaum im Unterge schoß in ihre wiederhergestellte Kirche, am Martinsstag im November 1956 die Martinigemeinde aus dem Gemeinderaum im Pfarrhaus wieder in ihre Kirche, am Reformationstag 1959 die Petrigemeinde aus dem Jakobigemeindesaal in die Petrikirche. In seiner Festpredigt ging Propst Otto Jürgens auf die "vielleicht hier und da auftauchende Frage, warum wurde diese Kirche wieder aufgebaut?" ein, und gab folgende Antwort: "Es war eine Pflicht, das von den Vätern überkommene Erbe zu wahren; die Petrigemeinde brauchte wieder eine eigene Stätte für ihren Gottesdienst; für die Stadt war eine weitere Stätte der Anbetung nötig."

Die andere Antwort lautete: es kommt auf den inneren Aufbau an. Erst eine andere Gemeinde, dann das dazu passende Gehäuse. Das war die Antwort der Brüderngemeinde, deren Sakristei ununterbrochen für Gottesdienste zur Verfügung stand. Die Ursache der Zerstörung war nämlich für sie die Verwüstung des lutherischen Bekenntnisses und die Absage an das treue Festhalten an der überlieferten Bibel in der nationalsozialistischen Zeit. In der Sakristei der Brüderngemeinde amtierte seit seiner Rückkehr aus französischer Kriegsgefangenschaft 1948 Pfarrer Max Witte.
Witte, 39 Jahre alt, suchte die Antwort in einer Rückwendung zurück in die Reformationszeit. Dabei übernahm er altlutherische Gottesdienstformen, die auf Braunschweiger "römisch-katholisch" wirkten, wie Messgewänder, das Bekreuzigen, Niederknien, die ewige rote Lampe, Beichte, Stundengebete u.a. Diese Antwort fand Widerhall in der Kirchenleitung bei Landesbischof Erdmann und dem Oberlandeskirchenrat für Gemeindefragen, Hans Eduard Seebass, und bei den zum Lutherischen Bruderkreis zusammengeschlossenen Pfarrern. Sie lag auch im überregionalen Trend der Neugestaltung des Evangelischen Gesangbuches, das vom Hannoverschen Oberlandeskirchenrat Mahrenholz 1950 unter der massiven Einführung reformatorischer Choräle und rücksichtloser Beseitigung des Liedgutes aus dem 19. Jahrhundert betrieben wurde. Aber die Stadtgeistlichkeit zeigte bei der Frage, wann das neue Gesangbuch eingeführt werden sollte, eine gewisse Behäbigkeit. Das alte Braunschweiger Gesangbuch von 1902 hatte sich in zwei Weltkriegen, in Revolution und widrigen Zeiten während des Nationalsozialismus bewährt, warum ein neues, zumal in ihm die beliebten Choräle "Harre meine Seele" und "Stille Nacht" fehlen sollten und nur auf Druck von OLKR Röpke in einen Sonderanhang angefügt waren? Als die Gemeinden zu Bestellungen aufgefordert wurden, bestellte Katharinen ganze 20 Exemplare, Martini zehn, Michaelis 30, Petri acht, Jakobi 50, Gliesmarode 100 also ein deutliches Votum, es zunächst bei dem alten Gesangbuch zu belassen.

Das Brüdernmodell stieß vor allem auf heftige Ablehnung bei jedem Teil der Braunschweiger Stadtpfarrerschaft, der sich fast zur Hälfte aus sog. Ost- oder Flüchtlingspfarrern zusammensetzte. Das war neben der Zerstörung der Hauptkirchen eine weitere, grundlegende, bisher einzigartige Veränderung im Leben der Braunschweiger Stadtkirchen.
Hans Damrow in Martin Luther, Ernst Froese in Riddagshausen, und Studentenpfarrer Helmut Wielgoß waren aus Ostpreußen geflüchtet, Martin Pahl in Rühme aus Westpreußen. Gotthard Gläser an Andreas und Heinz Chilla, später in Querum, aus Pommern, Paul Finck in der Schuntersiedlung aus Brandenburg. Andere folgten im Laufe der 50er Jahre wie Gotthold Lutschewitz und Kurt Schmidt. Sie kamen aus den Kirchen der sog. altpreußischen Union, die ein gemäßigtes und nicht allzu strenges lutherisches Verständnis vom Abendmahl pflegten. Ihnen allen warf der junge Vikar und Hilfsprediger Wittes, der 25 jährige Hellmut Lieberg, ein häretisches Abendmahlsverständnis vor, und verweigerte ihnen die Abendmahlsgemeinschaft. Das war nun das Wenigste, was die Kirche über den Trümmern Braunschweigs brauchten: einen theologischen Streit über das richtige Verständnis vom Abendmahl, für den Brüdernkreis jedoch die grundlegende Wurzel allen Übels und daher kompromisslos durchzusetzen.

Die Stadtkirchen entwickelten drei Antworten. Die dritte Antwort gewann architektonische Statur. Die einzige Kirche, die nicht "wieder"aufgebaut wurde, war die Magnikirche. Dort hatte Pfarrer Johann Heinrich Wicke schon bald nach der Zerstörung der Magnikirche seiner Gemeinde als Ursache der Zerstörung ein falsches liberalistisches Verständnis von Kirche und das enge Verhältnis von Kirche und Staat in der Herzogzeit, aber auch in der nationalsozialistischen Zeit genannt und vor allem die Unbußfertigkeit der Kirche nach 1945. Auf keinen Fall also einen "Wieder"aufbau ohne das Eingeständnis eigner Schuld, und ohne eine wirkliche Umkehr in allen Gremien der Landeskirche. So war also Martin Niemöller, einer der Mitverfasser der Stuttgarter Schulderklärung, mehrfach in der Magnigemeinde zu Vorträgen zu Gast, sowie die Vertreter einer neueren Theologie wie Gerhard v. Rad u.a. Um die Gestaltung der neu zu errichtenden Magnikirche gab es dann heftige Auseinandersetzungen. Völlig unerträglich war es für Wicke, dass im Klaggesprozeß der Goslarer Propst Wilhelm Rauls und der frühere Stadtpropst von Braunschweig Johannes Leistikow als Entlastungszeugen genannt wurden und Klagges bescheinigten, er wäre ein "guter Christ" gewesen.

Mit dieser Auffassung geriet Pfarrer Wicke in einen grundsätzlichen Konflikt mit dem 1946 gebildeten Stadtkirchenbauamt unter der Leitung von Dipl. Ind. Dr. Friedrich Berndt. Der 42jährige Friedrich Berndt war zuvor bei der Luftwaffe beschäftigt gewesen und nach dem Krieg arbeitslos geworden. Propst Otto Jürgens hatte ihn mit dieser neuen Aufgabe betraut. Berndt äußerte sich im Gemeindesaal von St. Jakobi am 27.10.1948 vor der Petrigemeinde in einem grundsätzlichen Vortrag über das Thema "Kann die Petrikirche wieder aufgebaut werden?" Nach einer ungeschminkten Beschreibung der Situation ("Einsam und verlassen steht die Ruine der Kirche in der Einöde, die sich um die Petrikirche ausbreitet...Vier Winter sind seither dahingegangen, Regen, Schnee und Frost setzen das Werk der Zerstörung an Mauerwerk und Gewölbe fort, während die noch erhaltenen Teile des Dachstuhles durch Fäulnis angegriffen werden.") bejahte Berndt die Frage, ob die Petrikirche es verdiene, wiederaufgebaut zu werden, und zwar durch eine ausführliche Beschreibung der Baugeschichte und folgerte: "Ein teures Erbe ist uns anvertraut, an dem jahrhundertelang unsere Väter gearbeitet haben. Sollen alle ihre Opfer, ihr Fleiß und ihre Kunstfertigkeit umsonst gewesen sein? Als historisches Baudenkmal wie als steinernes Monument der Frömmigkeit unserer Väter verdient die Petrikirche wiederhergestellt zu werden."
Berndt baute einen starken moralischen Druck auf. Wer sich gegen einen Wiederaufbau wende, vergreift sich an dem Erbe der Väter. War es das Erbe der ganzen Gemeinde? Auch der Flüchtlinge, die an ihre Heimatkirchen denken werden?
Berndt stellte nicht die Frage: wie wiederaufgebaut werden sollte. Wieder gotisch? Wieder mit einer so hohen Decke und schlechter Akustik? Wieder mit spitzen Türmen? "Die endgültige Bekrönung des Turmes dürfte die letzte größere Arbeit an der wiederaufzubauenden Petrikirche sein", hatte Berndt erklärt und damit klargestellt, dass der Turmstumpf nicht so bleiben und womöglich dort ein luftiges Cafe eingerichtet werden könnte. Berndt fixierte die Gemeinde geradezu auf die Wiederherstellung des alten Zustandes und beschwor dazu die Hilfe Gottes. Es wäre auch möglich, die Gemeinde anzuregen, den Bau als ein Dokument ihrer geschundenen, erprobten Frömmigkeit zu entwerfen, sodass es nicht nur ein Bauwerk der Frömmigkeit der Väter, sondern auch in ihrer äußeren Gestalt der gegenwärtigen Kinder Gottes an Petri ist.
In einem anderen bilanzierenden Vortrag zwei Jahre später über den "Wiederaufbau der Braunschweiger Stadtkirchen" pries Berndt zwar die Ruine der zerstörten Magnikirche als "ein Bild unverwüstlicher Schönheit und Erhabenheit", fordert aber "große Anstrengungen, um die geretteten Bauten in alter Schönheit wieder erstehen zu lassen" , also wieder gotisch, auch neugotisch, wieder mit Epitaphien, die nicht immer ein Lob des Schöpfers sondern Eigenlob und Selbstdarstellung des Stifters sind, also wieder hohe Türme, man soll wohl nicht merken, was geschehen ist und keine unpassenden Fragen nach den Ursachen stellen.

Vierzig Jahre später stellte Christian Kohn, damals Pfarrer an Martini, anlässlich einer Ausstellung fest, die Renovierung von Martini, 1991 vollendet, würde "über den Grad der Zerstörung und ihren jämmerlichen Zustand nach dem Krieg hinwegtäuschen."

Die alte Kasualpraxis läuft auf Hochtouren
Für den "Wiederaufbau" der Stadtkirchen gab es ein starkes Argument: die kirchlichen Amtshandlungen waren so stark gefragt waren wie vor dem Kriege. Man ließ seine Kinder taufen und konfirmieren, man ließ sich kirchlich trauen, wenn man heiratete, und natürlich mit kirchlichem Beistand begraben. Die Pfarrer konnten das angenehme Gefühl haben, dass sie gebraucht wurden. Dafür einige Beispiele:
viele Braunschweiger waren aus der Innenstadt in den Nordteil der Stadt ausgewichen, und obwohl die St. Georgkirche im Siegfriedviertel wegen Bombenschäden unbenutzbar war und Taufen im Gemeindesaal im Untergeschoss stattfinden mussten, wünschten viele dortige Bewohner die Taufe ihres Kindes.: 1950: 173 Taufen, 1951: 186, 1952: 162 Taufen, 1953: 154 Taufen, 1954 156 Taufen. Unvorstellbar groß war die Konfirmandenzahlen ab 1954 jeweils knapp unter oder über 200 Jugendlichen.

Aus diesem Stadtteil war in Folge der Bebauung der Schuntersiedlung und der Kralenriede eine neue Gemeinde gegründet worden, aber auch in dieser neuen Gemeinde hatte Pfarrer Finck für heutige Verhältnisse unbegreiflich große Zahlen zu bewältigen: 1951: 164 Taufen und 201 Konfirmanden: 1952: 97 Taufen, 192 Konfirmanden, 1953: 198 Taufen, 213 Konfirmanden, 1954: 142 Taufen und 189 Konfirmanden Die Taufen fanden in der Kindergartenbaracke meist im Kindergottesdienst statt. Wem das nicht festlich genug war, konnten sein Kind von Pfarrer Finck auch im Braunschweiger Dom taufen lassen: 1952: 40 im Dom, 1953: 65 im Dom, aber die weit überwiegende Zahl in der Baracke. 1955 in der dort neu gebauten Dankeskirche: 129 Taufen 220 Konfirmanden.

Ähnlich enorme Zahlen hatten die Pfarrer Gerhard Kalberlah und Max Wedemeyer an der Jakobikirche zu bewältigen. Das direkt an die Kirche angebaute Pfarrhaus war 1944 ausgebrannt und eine Ruine, aber der Kirchenraum konnte, nachdem die Fensterscheiben wieder eingesetzt waren, durchgehend benutzt werden. Zwischen 1950 und 1960 fanden in Jakobi jährlich zwischen 160 und 219 Taufen statt, zwischen 1954 und 1958 ließen sich jährlich über 200 Konfirmandinnen und Konfirmanden unterrichten.
Da die Mitgliederzahl der Katharinengemeinde inzwischen auf fast 8.000 gestiegen war, weil auf dem Steinweg, in der Wilhelmstraße und Maurerstraße zahlreiche Wohnblocks entstanden waren, unterrichtete Pfarrer Stange 16o Konfirmanden in fünf Jungen und Mädchengruppen. 60 Kinder besuchten den Kindergottesdienst.

Selbst in den zwei völlig zerstörten Gemeinden Andreas und Petri, die ihre Amtshandlungen nach außen verlagern mussten, war die Zahl sehr groß. Pfarrer Gläser hielt alle Amtshandlungen der Andreasgemeinde im Dom ab: 1950 100 Taufen und 77 Konfirmanden; 1952; 103 Taufen und 120 Konfirmanden; 1955: 114 Taufen und 150 Konfirmanden. Die trotz der zerstörten Neustadt hohen Zahlen erklären sich daraus, dass sich die Grenzen des Gemeindebezirkes weit in den Norden schob, und an ihnen bis heute festgehalten wird. Dass die Bevölkerung um Andreas ihr früheres linkes Gesicht nicht verloren hatte, wird an dem Verhältnis der Austrittszahlen zu den Wiedereintrittszahlen deutlich, dass hier größer ist als in anderen Gemeinden z.B. 1951: 7 Wiedereintritte, 72 Austritte, 1955: 19 Eintritte, 59 Austritte, 1959 26 Eintritte, 63 Austritte.
Die Petrigemeinde hatte als Ausweichquartier den Jakobigemeindesaal zugewiesen erhalten. Durchschnittlich hatte Pfarrer Theilemann pro Jahr 55 Kinder getauft und die Konfirmandenzahl erhöhte sich von 46 im Jahr 1950 auf 97 im Jahr 1957. Die Konfirmation im März 1955 war von insgesamt 554 Personen besucht, Konfirmation 1956 647 Personen, Heilig Abend 1.500, Silvester 56 47; bei einem sonnntäglichen Gottesdienstebsuch von 55 - 95 im Jahjr 1954, 65 und 80 1957.
Das war im Vergleich zu heute ein wirkliches Rackern im Weinberg des Herrn.
Die Kasualstatistik der Braunschweiger Stadtkirchen vermittelt den Eindruck stabiler kirchlicher Verhältnisse, die bis weit in die sechsziger Jahre hineinreichen.

Das Braunschweiger Milieu und die kirchliche Praxis
Das "Braunschweiger Milieu" hatte den Bombenkrieg überstanden. Das Braunschweiger Milieu war jene eigentümliche Mischung aus Liberalität und kleinbürgerlicher Behäbigkeit, aus gelegentlichen, radikalistischen Anwandlungen und modernistischen Traditions(Auf)brüchen; und zu diesem Milieu gehörte auf bürgerlich behäbige und zugleich distanzierte Weise auch die evangelische Kirche: man war in der Kirche, aber ging nicht in die Kirche. Taufen, Konfirmation und Trauung waren Traditionsinseln in der Braunschweiger Biografie mit mal mehr, mal weniger Ausstrahlung, oft auch ganz verlöscht. In den 50er Jahren war dieses Milieu noch lebendig, denn auch wenn ein Elternteil nicht der Kirche angehörte, wurde doch die Taufe gewünscht: 1955: 133 mal, 1956: 186 mal, 1957 149 mal, 1958 177. Es kam in Ausnahmefällen sogar vor, dass beide Elternteile nicht mehr der Kirche angehörten, aber doch ihr Kinder taufen ließen: von 1955 - 1959 221 mal. Das ist auffällig und nahm von den 70er Jahren an ab. Dann verzichtete die Eltern offensichtlich auf die Taufe.

Nicht alle Pfarrer beugten sich dieser Milieu-Praxis. Pfarrer Wilhelm Wedekind, seit 1950 an der Paulikirche, lehnte die Säuglingstaufe ab. Das war nicht eine Schrulle, sondern der bedeutende Kirchenlehrer Karl Barth hatte 1947 einen Grundsatzartikel über die Taufe geschrieben, in der er der evangelische Kirche zur Abschaffung der Säuglingstaufe geraten, weil sie biblisch nicht begründbar sei, und zur Einführung der Erwachsenentaufe aufgefordert hatte. Das löste in der Kirche eine große Unruhe aus, denn die Volkskirche schien gefährdet, wenn mit der Taufe wirklich ernst gemacht würde. Um die Ernsthaftigkeit der Taufe willen richtete Pfarrer Wedekind in Pauli Taufgespräche mit den Eltern und Paten ein - die ersten, die es überhaupt in der Landeskirche gab. Vor dem Gespräch ließ Wedekind den Eltern einige Fragen zugehen: "Was mag Sie bewegen, Ihr Kind taufen zu lassen?" "Mit Recht heißt es, das getaufte Kind bedarf einer Heimat, in der Gebet und Gottes Wort Raum hat. Ob dafür bei Ihnen gesorgt ist?" An der Paulikirche gab es noch zwei andere Pfarrer: Otto Henneberger und Rudolf Schwarze, von denen dann die erschrockenen Eltern die Taufe erbaten, von denen der Organist Pleus jedoch spöttisch vermerkte, Massentaufen von acht Kindern seien durchaus üblich.

Einen ähnlicher Milieu-Befund zeigte die Konfirmationspraxis. Es war zwischen 1955 und 1960 keine Ausnahme, dass der Vater und in seltenen Fällen auch die Mutter der Konfirmanden nicht der Kirche angehörten. Sehr ungewöhnlich finde ich es, wenn beide Elternteile nicht der Kirche angehörten, aber die Jugendlichen sich doch konfirmieren ließen: 1955 waren es in der Stadt Braunschweig 135, 1956 221,1957 154 dissidentische Elternpaare von Konfirmanden. Dabei wurde, wie Pfarrer Stange in der Kirchenchronik vermerkt, Jugendweihen angeboten und veranstaltet. Der Predigerseminardirektor Rudolf Brinckmeier bezeichnete diese Tatsache als die eigentliche Konfirmandennot, nämlich, "dass die Konfirmation gerade von diesen entkirchlichten Kreisen so dringend gewünscht wird Obwohl in Braunschweig 1957 im Malerviertel ein Katechetisches Amt eingerichtet wurde, in dem sich Pfarrer Heinrich Brinkmann um die Verbindung zur Schule und auch um Verbesserungen im Konfirmandenunterricht kümmerte, blieb der Konfirmandenunterricht gerade vor diesen Massen verschulter Pauk- und Lernunterricht von Katechismustexten, Bibelsprüchen und Liedversen; ein Pensum, das die Pfarrer nicht selten zur Verzweiflung trieb. "Es gibt viele Amtsbrüder, für die Jahr für Jahr der Konfirmationstag ein schwarzer Tag in ihrem Amtsleben ist", gestand Brinckmeier vor der Landessynode.
Paulipfarrer Wedekind sah also völlig zu Recht ein Problem des Konfirmandenunterrichtes bei den Eltern. Er lud sie zu einem Kurs von sechs Elternabenden ein, gestaltete die Konfirmation als Abschluss des Konfirmandenzeit und bot statt des üblichen Gelübdes einen Abendmahlsgottesdienst mit einem Bekenntnis der Konfirmanden an. Das störte die traditionelle Vorstellung der Eltern von einem "feierlichen" Gottesdienst und sie meldeten ihre Kinder um. 1958 verblieben bei Pfarrer Wedekind von insgesamt 432 Konfirmanden an Pauli nur noch 18. Wedekind verließ im nächsten Jahr die Pauligemeinde und ging nach Steterburg.

Man kann diesen Befund "Konfirmation bei konfessionslosen Eltern" auch so deuten, dass sich Jugendliche gegen ihre Eltern durchsetzten, was einen Blick auf die kirchliche Jugendarbeit der damaligen Zeit nahe legt. Kindergottesdienste waren in allen Gemeinden üblich und darüber wurde auch Statistik geführt. 60-120 Kinder kamen sonntäglich zum Kindergottesdienst, begleitet von insgesamt 30 - 40 Helferinnen und Helfern. In allen Kirchengemeinden gab es Jugendgruppen, gestaffelt nach Altersstufen und Geschlecht. Zeitzeugen berichten, dass nach dem Krieg die Jugend in die Arme der kirchlichen Arbeit geradezu geflüchtet sei.
Das Jugendheimheim Räbke füllte sich zu Freizeiten, die für die Mädchen von Annemarie Haedke und für die Jungen von den Diakonen Hermann Kolb und Ernst Stracke organisiert waren.

Die Kirchen als "Traditionsinseln"
Zum Braunschweiger Milieu gehören auch radikalistische Anwandlungen. Sie fanden ihren charakteristischen Ausdruck im Ausbau der Innenstadt. In den 50er Jahren begann der radikale Ausbau der Braunschweiger Innenstadt zu einer autogerechten Innenstadt. Dazu boten sich die freien Trümmerflächen geradezu an. In den Verwaltungsberichten der Stadt wurden die Plänen veröffentlicht und sie deuteten für die Stadtkirchen nichts Gutes an.
Die Stadtplaner billigten den Kirchen den Charakter einer Traditionsinsel zu. Aber sie verrieten kein Gespür für die Außenwirkung dieser massigen Gebäude und wenig Dankbarkeit für die beträchtlichen Bausicherungsarbeiten an den Stadtkirchen.
Die Katharinenkirche war eingezwängt zwischen der mehrspurig ausgebauten Fallersleberstraße und der Wilhelmstraße und einer dicht an den Türmen vorbeiführenden Straßenbahntrasse. Der Kirchenvorstand von St. Katharinen erhob vergeblich Einspruch. Noch schlimmer traf es die Petrikirche, die in der Ecke zwischen Lange Straße und Güldensttraße weniger auf einer Traditionsinsel als auf einer Verkehrsinsel lag. Die Andreaskirche war durch den Verkehrsstrom auf der Hagenbrücke, Küchenstraße und Langestraße von der Altstadt abgeschnitten. Die Michaeliskirche wurde durch die sinnlos breite Güldenstraße ebenfalls von ihrem natürlichen Lebensraum zur Martinikirche hin abgeschnitten. Ähnlich begrenzt heute die überbreite Georg Eckertstraße die Magnikirche, ganz zu schweigen von dem Rizzhaus, das den Blick auf die Magnikirche verstellt.
Die schlimmste dieser Straßen ist die Berlinerstraße, durch deren Breite die Bugenhagenkirche durch eine deichartige Mauer vom Verkehrsstrom getrennt nunmehr wie auf einer Hallig liegt. Es gab wenig Gespür dafür, dass ein solcher Bau in einer freien Umgebung atmen muß. Alteingesessene sprechen daher heute noch von der zweiten Zerstörung Braunschweigs.

Das Verhältnis von Stadt und Propstei
Das wirft die Frage nach dem Verhältnis der Propstei zum Rat der Stadt auf.
Oberbürgermeister von Braunschweig war von 1948-1952 und 1954-1959 Otto Bennemann. Als dieser von Hinrich Kopf als Minister nach Hannover berufen wurde, übernahm Frau Martha Fuchs das Oberbürgermeisteramt.
Bennemann war Braunschweiger, 1903 in einer Arbeiterfamilie in der heutigen Hugo Lutherstraße geboren, dort wuchs er in einer Zweizimmerwohnung mit Eltern und weiteren vier Geschwistern auf. Er wurde getauft und konfirmiert, trat mit 17 Jahren aus der Kirche aus und wurde wie seine Eltern Mitglied des Freidenkerverbandes. Kirche war für ihn negativ besetzt. Sie kam auch nicht als Traditionsinsel in seiner Biografie vor Bennemann wurde Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes und hatte sich der Philosophie des Göttinger Leonhard Nelson angeschlossen, der eine Ethik mit den Wurzeln in der Aufklärung und Immanuel Kant lehrte, mit einem grundlegend positiven Menschenbild, wonach sich der Mensch aus eigener geistiger Leistung zu Selbständigkeit und Toleranz erziehen könnte und diese in der täglichen Verantwortung zu bewähren habe.
In der Kriegsgefangenschaft lernte Bennemann das Miteinander von Sozialisten und Christen kennen, und er öffnete sich besonders seit der Debatte im niedersächsischen Landtag um die sog. christliche Grundschule 1954 für die Interessen und Äußerungen der ev. Kirche. Die niedersächsischen evangelischen Landeskirchen hatten sich anders als die katholische mit Forderungen sehr zurückgehalten.
Die Propstei agierte damals unabgesprochen, aber in der Praxis mit einer Doppelspitze: Otto Jürgens 51 Jahre alt, war seit 1925 Pfarrer an der Johanniskirche und Dienstältester unter den Kollegen, und wurde 1946 zum Propst bestellt. Er war schon 1933 als Kandidat für den Propstposten genannt worden. Nun ordnete er die Verwaltungsangelegenheiten von der Adolfstraße aus, wo das Propsteibüro lag, hielt die Visitationen und die Konfirmandenprüfungen und zeichnete die Kirchenchroniken ab. Als einer, der die Propstei und ihre Pfarrerschaft vor 1933 und danach kannte, nahm er die durch ihre Amtstätigkeit in der ns. Zeit kirchenpolitisch sehr schwer belasteten Amtsbrüder Erich Schwaab und Hans Georg v. Wernsdorff unter seine Fittiche, die in der Johannis- und Michaeliskirche die Möglichkeit zu einem neuen Anfang erhielten.
Von der Katharinenkirche zog als die andere Spitze der wendige und diplomatische Pfarrer Siegfried Stange manche Fäden. Stange war unter den Jungen und Neuen der führende theologische Kopf in der Stadtpfarrerschaft und hatte Katharinen zielstrebig zu einem kirchlichen Zentrum ausgebaut, bereits 1949 ein Gemeinde- und Pfarrhaushaus an der Fallersleberstraße errichtet, 1953 war die geräumige Katharinenkirche bereits wieder eingeweiht worden, er sorgte für gelungene Kirchenmusik, insbesondere seit der Einstellung des Kirchenmusiker Karsten Uwe Groß 1956. Stange war als Flüchtlingspfarrer von Pommern weit weg von den Grabenkämpfen zwischen Sozialdemokraten und evangelischer Kirche, wie sie in den 20er Jahren in Braunschweig gang und gäbe waren, die Bennemann jedoch hautnah miterlebt und sein Kirchenbild geprägt hatte. Bennemann lernte in Gestalt von Stange die Kirche von einer einladenden, geistvollen, toleranten, der Moderne zugewandten Seite her kennen. "Das Verhältnis Otto Bennemanns zur evangelischen Kirche hatte sich in der Mitte der 50er Jahre deutlich normalisiert", stellte der Biograf Grabenhorst fest.
Der Kirche wurde der Raum einer Traditionsinsel zugestanden, wie er sich bis heute im Stadtbild darstellt und von Richard Moderhak in der Stadtgeschichte 1980 auch dokumentiert ist. Stange trat 1965 die Nachfolge von Jürgens im Amt des Propstes an.

Moderne und Wirtschaftswunder und die unterschiedliche Antwort der Kirche
Die Innenstadt Braunschweigs war aber keineswegs nur eine Trümmerfläche wie die Gegend der Neustadt um Petri, Andreas und Katharinenkirche. Jener Teil, in dem schon Ende des 19. Jahrhunderts das mittelalterliche Braunschweig abgerissen und große steinerne Warenhäuser aufgebaut worden waren und daher der Feuersbrunst in der Neustadt eher widerstehen konnten, war weit weniger betroffen und dort florierte bald wieder das Geschäftsleben, keineswegs in flachen, erdenebenen Behelfsbauten, sondern in hergerichteten mehrstöckigen Warenhäusern. Karstadt, Flebbe, Cloppenburg, C & A .Hermann Vick waren begehrte Einkaufszentren, Möbel Boehme, Möbel Sander, Reinicke und Richau, Photo Porst, Neckermann prägten das Stadtbild, in der Schlosspassage wurden Fernsehneuheiten vorgestellt von Grundig, Graetz, Mende, Philipps, Siemens, Blaupunkt, Schaub. Loewe und Sabe. "Eben bestellt- schon empfangsbereit" - lautete die Werbung. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders. Mehr als 14 Kinos boten Abwechslung nach einer arbeitsreichen oft 50 - 70 Stunden Woche.

Neben diesem florierenden Leben lebten Tausende von Braunschweigerin noch in einigen hohen Luftschutzbunkern und in 26 Lagern, die ursprünglich für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter gedacht waren, ausländische Familien, die sog. displaced persons, waren in vier Kasernen untergebracht.
Es fehlte nach wie vor Wohnungen. Die Wohnungssituation hatte sich durch die Flüchtlinge aus der Ostzone verschärft, denn Braunschweig war durch die Zonengrenze zur Grenzstadt geworden.
Anfang der 50er Jahre fehlten in der Stadt 32.000 Wohnungen, Ende 1960 immer noch 13.465 Wohnungen, mehr als in jeder anderen niedersächsischen Stadt.

Die Kirche hatte großen Anteil am Wirtschaftswunder. Die tatsächlichen Landeskirchensteuern stiegen 1951 von 3,6 Millionen DM auf 6,1 Millionen DM 1955, also um das Doppelte in vier Jahren, und die Einnahmen des landeskirchlichen Haushaltes stiegen von 3,9 Millionen 1950 auf 11,8 Millionen 1959, also um das Dreifache in den 50ern. 20% der Steuereinnahmen gingen jeweils an den Haushalt des Stadtkirchenverbandes.
Das Stadtkirchenbauamt war für die Moderne aufgeschlossen. So war die im Januar 1959 eingeweihte Martin Chemnitz Kirche in der Linderbergsiedlung ein mit farbigen Fensteröffnungen und einem oberen Lichtband versehener Betonbau, der den neuen Baumaterialien huldigte. In den 60er folgten weitere Betonbauten, wenn auch etwas leichter und luftiger und in der Verwendung von Materialien vielseitiger.
Aber auch bei den wiederaufgebauten Innenstadtkirchen sollte nicht alles restauriert werden. Das Stadtkirchebauamt verzichtete auf die Wiederherstellung der umstrittenen Schablonenmalerei des Hofmalers Quensen und setzte damit jenen puristischen Stil fort, mit dem die Restauratoren beim Umbau des Domes zum Staatsdom begonnen hatten.

Trotz der Teilhabe an dem Wohlstand begegnete die Kirche der Moderne mit größter Skepsis. Diese erhielt den Vorwurf des amerikanischen Materialismus, der in Westdeutschland Einzug gehalten habe. Also wieder die Form eines der Kirche eher fremden oder gar feindlichen Säkularismus, der folgendermaßen beschrieben wurde:
Der Mensch in der Bundesrepublik sei, so hieß es in einem Grundsatzartikel in SONNTAG aufs Ganze gesehen "von einem naiven praktischen Materialismus geprägt und habe lediglich innerweltliche und materielle Ziele, von der erworbenen Waschmaschine bis hin zum zu erwerbenden Fernsehgerät. Das habe die Auflösung der Familie, öffentliche Demoralisierung und die Sexualisierung zur Folge. Die Christen hätten die vornehme Aufgabe, dem modernen Menschen klar zu machen, "dass wahres Menschsein nur von der Ewigkeit gelebt werden könne.
Diese Aufgabe wurde von der sog.. "Volksmission" aufgegriffen. Die erhoffter Re-Christianisierung war nach 1945 ausgeblieben, nun sollte mit volksmissionarischen Anstrengungen nachgeholfen werden. Dazu war in der Inneren Mission in der Peter Joseph Krahestraße das Pfarramt für Volksmission eingerichtet worden, das zunächst vom 36jährigen Pfarrer Hans Hermann Ulrich und nach dessen Weggang nach Stuttgart von Pfarrer Dr. Fritz Wyrwa geleitet wurde. Zusammen mit der Braunschweiger Studentengemeinde zog Pfarrer Ulrich durch die Kleinstädte, und sie veranstalteten jeweils eine Woche lang in einer Gemeinde Abendvorträge und den Tag über Hausbesuche.
In der Stadt Braunschweig kooperierte die landeskirchliche Volksmission mit der Landeskirchlichen Gemeinschaft und den Freikirchen und organisierten z.B. eine sog. Zeltmission, d.h. sie bauten im Sommer 1956 auf dem Platz vor der Schlossruine ein riesiges Zelt auf und hielten dort Vorträge über Lebensfragen, die Abend für Abend von 500 - 600 Menschen besucht wurden. Zwei Jahre später wurde im August 1958 ein solches Riesenzelt auf dem Leonhardtplatz errichtet. Die Veranstaltung erlebte einen solchen Zuspruch, dass die Missionsarbeit in der Lindenbergsiedlung am Platz vor der geplanten Martin Chemnitzkirche fortgesetzt wurde. Dieser volksmissionarische Versuch einer Belebung der Kirche wurde besonders vom Petripfarrer Robert Theilemann unterstützt, der in der landeskirchlichen Gemeinschaft eine natürlichen Verbündeten erblickte.
Pfarrer Robert Theilemann hatte die Bibelschule in Crischona absolviert und war ab 1936 Prediger der Landeskirchlichen Gemeinschaft, aus der auch seine Mutter stammte, bevor er als Nachfolger des liberalen Walter Freise 1951 als Pfarrer von Petri eingesetzt wurde. Er pflegte im Jakobigemeindesaal eine eigene Petrigemeinschaft, parallele Gottesdienste also meistens zur selben Zeit in benachbarten Räumen. Die rührige Gemeindearbeit stand unter dem Motto eines damals bekannten Buchtitels "Und die Bibel hat doch recht".

Die beste Art der Werbung für die Kirche stellte ihre soziale - diakonische Arbeit dar. Als Grenzstadt war der Braunschweiger Bahnhof ständig überlaufen. Nach Helmstedt war Braunschweig der erste Zielort von Flüchtlingen, Heimkehrern, Wohnungs- und Arbeitssuchenden. Bald nach Kriegsende war dort die sog. Bahnhofsmission entstanden, die mit "Mission" im engeren Sinn nichts zu tun hatte, sondern erste praktische Hilfe und Anlaufstation für die Ankommenden bedeutete und viel in Anspruch genommen wurde.
Sehr viel sichtbarer war eine andere Arbeit. Die Spitzen der Kirchentürme waren allesamt herabgestürzt, aber die weißen Spitzen der Tracht der Diakonissen, die in allen Innenstadtgemeinden ihren Dienst taten, leuchteten schon von weit auf der Straße und waren eine sichtbare Ansprechstation in Sachen Kirche und Gemeinde. Im Pfarrarchiv Petri ist ein "Verzeichnis der durchgeführtren Pflege- und Krankenbesuche mit Statistik über die medizinischen Leistungen und Namen der Patienten" erhalten: Mai 1953: bei 36 Personen 71 Einspritzungen, 149 Krankenbesuche, 18 Verbände, 98 sonstige Besuche ; Juni 1954: bei 20 Personen 116 Einspritzungen, 214 Krankenbesuche, 90 sonstige Besuche, Einreibungen und Einläufe. März 1956 bei 30 Personen 143 Spritzen, 115 Krankenbesuche, 98 sonstige Besuche. Das Verzeichnis reicht bis 1963. Um diese Arbeit aufrechterhalten zu können, liefen Helferinnen monatlich die allmählich wieder hergerichteten Straßen und Wohnhäuser auf und ab und sammelten Geld von 50 Pf bis 3 DM. Auch diese Sammellisten sind erhalten, im Juni 1955 waren es 15 Frauen, und jeden Monat wurde für sie eine oft zweiseitige Personenliste erstellt, die sich für eine regelmäßige Spende gemeldet hatte.
Im Stillen lief zu jener Zeit eine andere, zeittypische Hilfe. Die Propstei Braunschweig war die Partnerpropstei für die Stadt Blankenburg in der damals noch so genannten sowjetisch besetzten Ostzone. Monat für Monat liefen dort etwa für einen Mittagstisch für alte Menschen im Gemeindehaus in der Lühnergasse, auch für Einzelpersonen 7 kg Proviantpakete mit Schmalz, Palmin, Speck, Trockenmilch, Haferflocken, Kaffee u.a. Die dankbaren Reaktionen sind eine beachtliche Quelle der stadtkirchlichen Zeitgeschichte.

Drei Lichtblicke
Ich beende die Sicht auf die Geschichte der Braunschweiger Stadtkirchen mit drei Lichtblicken:
Als eine Quelle reformerischer Arbeit erwies sich die höchst lebendige Studentengemeinde unter Pfarrer Helmut Wielgoß, wo geistliche Arbeit mit Diskussionen über Themen der zeitgenössischen, modernen Welt verbunden wurde. Sie hatte eine Ausstrahlung weit über den engen Gemeindebereich hinaus. 1956 wurde dort das Gemeindehaus und Pfarrhaus für die Studentengemeinde errichtet. Aus der Studentengemeinde der 50er Jahre gingen leitende Persönlichkeiten hervor, unter ihnen der spätere leitende Baurat Renner und der Physikprofessor Klaus Müller. Daraus entstand der sog. Braunschweiger Kreis, eine Gruppe von Eltern, die neue Formen der Gemeinde und des Konfirmandenunterrichtes erprobten und realisierten.

Als weiteren Lichtblick nenne ich eine Reihe von Großereignissen, wie die Einweihung des Predigerseminars im Gebäudekomplex des zerstörten Brüdernklosters; im Juni 1952 mit Blick auf die Trümmerflächen

die mehrtätige Tagung der Generalsynode der Vereinigten Ev. Luth. Kirche Anfang Oktober 1954, auf der die neue Gottesdienstordnung beschlossen wurde und dem Landesbischof Erdmann nach einer laudatio von Prof. Werner Elert im Dom der theologische Ehrendoktor verliehen wurde. Die Synodalen tagten im Plenarsaal des Rathauses, der leitende Bischof Meiser predigte im Dom, Lilje in der Wolfenbütteler Marienkirche, andere Bischöfe verteilten sich auf die Städte. Lilje referierte in der Werkkunstschule über "Kunst und Glaube", im Städtischen Museum wurde eine Ausstellung "Kunst in der Kirche" eröffnet.

die Unterzeichnung des Domvertrages am 20. Oktober 1954 in der Sakristei des Domes, in dem das Land Niedersachsen die Domgebäude der Landeskirche überließ, bei gleichzeitiger Zahlung erheblicher dauerhafter staatlicher Zuschüsse für das Dompfarramt und den Domorganisten. Es wirkt sonderbar, dass trotz des Domvertrages das Landeskirchenamt immer noch nicht ein festes Dompfarramt einrichtete. Als Domprediger galt Bischof Erdmann, aber es fehlte natürlich ein ausstrahlende Figur. Erst 1964 wurde als erster Dompfarrer Adolf Quast eingestellt. Vorher war der Dom sozusagen das Ausweichquartier für nicht vorhandene oder bombengeschädigte Kirchen gewesen wie vor allen St. Andreas.

der erste regionale Landeskirchentag auf dem Burgplatz am 22. September 1957 mit 8.000 Teilnehmern, da der gesamtdeutsche Kirchentag in Erfurt abgesagt worden war. Thema "Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott". Unter den Teilnehmern Ministerpräsident Hellwege, Bundesminister Lemmer, Oberbürgermeister Bennemann, v. Thadden-Trieglaff.

Am 14. September 1958 ein zweiter Landeskirchentag mit Hinrich Kopf, 250 Bläsern und 10.000 Teilnehmern. Thema: "Zur Freiheit berufen". Unter den Gästen Prof. Rendtorff, OKR Thieme, Pfarrer Wilken. Wie schon beim ersten Landeskirchentag Posaunenchöre auf allen Braunschweiger Plätzen.

Als letzten Lichtblick nenne ich die Kirchenmusik und dabei mit Abstand die kirchenmusikalische Wirksamkeit von Ellinor v.d. Heyde-Dohrn am Braunschweiger Dom. Seit 1945 dort schuf sie einen erstklassigen Domchor und führte mit ihm im Bachjahr 1950 sechs Bachkantaten und im Herbst die h-moll Messe auf, dies bereits ein Zeugnis von einer enormen Chordisziplin. Dieses Konzertangebot in einem Jahr hatte es bisher in der Braunschweiger Musikgeschichte nicht gegeben. 1951 führte sie erneut die h-moll Messe erneut auf, 1953 und 1956 folgte die Johannespassion, 1954 das Magnificat von Bach, 1959 die Matthäuspassion, die seit der Aufführung durch Staatschor und Staatsorchester 1950 nicht mehr aufgeführt worden war. Zahlreiche Aufführungen erlebte die Messe von Monteverdi. Von 1950 - 1959 ist die Aufführung von insgesamt 28 unterschiedlichen Bachkantaten bekannt, die in anderen Jahren erneut aufgeführt wurden. Neben der geistlichen Musik von Bach führte Ellinor v.d. Heyde-Dohrn zahlreiche moderne Kirchenmusik auf, darunter die Choralpassion von Hugo Distler im April 1949 und als deutsche Erstaufführung dessen "Deutsche Choralmesse". Chor- und Orgelwerke der großen Komponisten der 50er Jahre J.N. David, Ernst Pepping, Friedrich Micheelsen, Kurt Hessenberg, J. Driessler, auch Paul Hindemith und A. Honegger, heute eher unbekannte wie A. Wagner und E. Limmert wurden vorgestellt. Dazu gründete v. d. Heyde Dohrn schon 1950 die Reihe "Geistliche Musik der Gegenwart".
Aber es gab noch andere musikalische Stützpunkte. 1955 hatte sich eine Heinrich Schütz Kantorei unter dem Brüdernkantor Johannes Krüger gebildet, die zu Aufführungen in die Kirchengemeinden ging, so 1956 mit der Johannespassion in die Katharinenkirche, in die Lebenstedter Martin Lutherkirche und die Helmstedter Stephanikirche und 1959 mit dem Weihnachtsoratorium in demselben Kirchen mit den bekannten Solisten Lotte Wolf-Matthäus (Alt) und Hans Joachim Rotzsch (Tenor).
Für seine exzellente Bachinterpretation an der Orgel war der langjährige, blinde Pauliorganist Pleus-Volkmann bekannt.
Aber auch in allen anderen Stadtkirchen wurde gemeindegerechte Kirchenmusik mit eigenen Kräften durchgeführt.
Diese musikalischen Lichtblicke sollten in der Geschichte der Braunschweiger Stadtkirchen nicht verglimmen.

Ausblick
Wenn ich einen Ausblick versuche, merke ich, wie weit weg die 50er Jahre sind, weil inzwischen zu viel passiert ist. In den 60 und 70er Jahren sind einige weitere Kirchen gebaut worden, in Melverode, in der Weststadt, in Querum, in der Südstadt, zehn sog. übergemeindliche Pfarrämter sind geschaffen, für den Religionsunterricht an den Schulen, für die Krankenhausseelsorge, für die Telefonseelsorge. Alle Hauptkirchen haben eine zweiten Pfarrer, 1969 finden in zehn Gemeinden Veranstaltungen gemeinsam mit den katholischen Nachbargemeinden statt, in drei Gemeinden bestehen sogar feste Kreise mit katholischen Mitchristen, Evangelisationen, Evangelische Wochen und Bibelwochen laden die Braunschweiger ein.
Der Wohlstand muss gegen den Bolschewismus verteidigt werden. Braunschweig ist Grenzstadt und wird 1957 Garnisonstadt und bekommt 1959 als Garnisonpfarrer Friedrich Wilhelm Wandersleb.

Das Leben in den Kirchengemeinden ist so lebendig wie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hier pulsiert es, dort stagniert es, wie im normalen Rhythmus eines gesunden Organismus.
Für einige Zeit bilden sich Schwerpunkte in der Friedensarbeit, für Spiritualität, für Kirchenmusik, für soziale Dienste, aber sie verändern sich und wechseln ihren Ort wie an der Geschichte der Studentengemeinde anschaulich wird.

Und doch verliert die Propstei - wie die Landeskirche - fortlaufend Mitglieder. Der Riss, der sich mit Beginn der 50er Jahre angedeutet hatte, ist in den folgenden Jahrzehnten viel größer geworden.
In den Jahren 1969/70/71 stehen 664 Wiedereintritte 5.805 Austritten gegenüber.
Aber es wurden immer noch im selben Zeitraum 4.425 Kinder getauft.
Der Anteil derer, die der evangelischen Kirche nicht mehr angehören, beträgt heute, wie auch auf vielen Dörfern unter 50 %.
Die Anzahl von Taufen, Trauungen und Konfirmationen ist wesentlich zurückgegangen.
Daher ist jede zweite Pfarrstelle an den Hauptkirchen wieder beendet worden.

Es gibt nur wenige Innenstädte in Deutschland, die derart dicht mit großen Stadtkirchen bestückt ist, wie Braunschweig. Für den Gottesdienst der Brüdernkirche wird nur noch der Chorraum benötigt, für den Kirchenraum wird nach außergottesdienstlichen Möglichkeiten gesucht: Eine Bibliothek war eine umstrittene Möglichkeit, Ausstellungen finden heute statt.

Was als Bewahrung des Erbes der Väter verstanden wurde, erweist sich heute als ein problematisches Erbe im Hinblick auf die Gemeindebildung.
Wir sehen ein, dass für Gottesdienste die Kirchenräume zu groß, zu unpraktisch, im Winter zu teuer sind. Es bleibt die Frage: war der Wiederaufbau aller Stadtkirchen ohne ein Konzept der künftigen Gemeindegrenzen und einer Vorstellung der Aufgaben der verschiedenen Kirchengemeinden zukunftsweisend?

Die Stadt ist vielgestaltiger geworden. Nicht kirchlicher und nicht christlicher. Es gibt neben den sog. christlichen Werten andere säkulare Normen für die Gestaltung eines verantwortlichen Lebens, die die Kirche nicht nur zur Kenntnis, sondern ernst nehmen und mit ihr ins Gespräch kommen könnte.


Tabellenanhang




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/aktuell/vortrag/stadtkirchen.htm, Stand: Oktober 2009, dk