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[Kirche von Unten]

Zum Hitlerbild in der Deutschen Evangelischen Kirche

und

Ein Beitrag zur Kirchlichen Mitte

von Dietrich Kuessner

(Download des Buches einschließlich Anmerkungen als pdf hier)




Die 2. Ratssitzung Oktober 1945 in Stuttgart
Das Hitlerreich  und seine deutsche Bevölkerung waren, wie oben wiederholt gezeigt, das Gespött der politischen Karikatur der Nachbarländer. Das Gespött schlug nach der totalen Niederlage und nach dem Bekanntwerden der KZ-Gräuel in Verachtung  um. Die Ächtung der deutschen Bevölkerung war in den europäischen Nachbarländern tief gehend und weit verbreitet: Deutschland hatte den Krieg begonnen und am Ende ein Leichenfeld hinterlassen. Die allgemeine Ächtung nahm zu, je mehr ausländische KZ-Insassen in ihre Heimatländer zurückkehrten und die europäische Presse schauderhafte Bilder von den geöffneten Konzentrationslagern veröffentlichte. Aber der deutschen Bevölkerung war die Ächtung nicht sehr bewusst. Da war es ein beachtlicher Versuch zur Normalisierung, dass sich der provisorische Rat der  Evangelischen Kirche mit Vertretern des Auslands, der Schweiz, Frankreichs und Englands, als Delegierten des Ökumenischen Rates in Stuttgart traf. Von diesen wurde ein Wort  der Neupositionierung der evangelischen Kirche erwartet, damit die vorgesehene Wirtschaftshilfe nicht etwa an die schuldverstrickte Mitläuferkirche aus der Nazizeit gelange. Sie erwartete eine Art Schulderklärung über die weit verbreitete und unbestreitbare Verstrickung der evangelischen Kirche mit dem Naziregime von Anfang an. Karl Barth, der in Treysa mit dabei war und die Gemütslage unter den Ratsmitgliedern kannte, hatte dazu Martin Niemöller einen Vorschlag zur Eröffnung des Gespräches geschickt. Er lautete: „Die vorl. Leitung der ev. Kirche in Deutschland erkennt und erklärt, dass das deutsche Volk sich auf einem Irrweg befand, als es sich 1933 politisch in die Hände von Adolf Hitler begab. Sie erkennt und erklärt, dass die Not, die seither über Europa und über Deutschland selber gekommen ist, eine Folge dieses Irrtums war. Sie erkennt und erklärt, dass sich die ev. Kirche in Deutschland durch falsches Reden und durch falsches Schweigen an diesem Irrtum mitverantwortlich gemacht hat.“ In diesem Vorschlag war nicht von einer Schuld der Kirche, sondern zurückhaltend von ihrer Mitverantwortung für die Hitlerherrschaft die Rede.

Aber schon bei den Begrüßungsreden der ökumenischen Delegation am 18. Oktober stießen gegensätzliche Auffassungen im Rat der EKiD aufeinander. Bischof Wurms Begrüßungsrede tendierte sehr stark auf eine Änderung der als unerträglich empfundenen Besatzungspolitik. Mit der Niederlage musste man sich abfinden, nicht aber mit einer dauerhaften Besetzung. Man dürfe nicht „in einen Kreislauf der Vergeltung“ hineinkommen“, man erzähle sich, die Voraussagen der Goebbelspropaganda würden Wirklichkeit. So werde die Bereitschaft, wirklich Buße zu tun und Schuld anzuerkennen, zunichte gemacht. Einleitend hatte Wurm wenig glaubwürdig versichert, es habe „eine innere Umbesinnung weithin in der Bevölkerung stattgefunden.“ In dieser Begrüßungsrede war von Schuld der Kirche, von einer möglichen Sühne, von einer Jahre lang irrenden Kirche nicht die Rede. Glücklicherweise kannten die Alliierten nicht jene aufpeitschende Rede Wurms vom Februar des Jahres, mit mörderischen Mitteln gegen die feindlichen Soldaten vorzugehen. Bischof Wurm bat die ausländischen Gäste, auf die Sieger und Besatzer einzuwirken, schonend und nicht vergeltend im besiegten deutschen Reich aufzutreten. Das war als erstes Wort des Vorsitzenden des neuen, provisorischen Rates der EKiD reichlich deplatziert. Der Generalsekretär Visser`t Hooft mahnte in seiner Antwort: „Wir brauchen einen wirklich neuen geistlichen Wiederaufbau des deutschen Volkes. Für uns alle in Europa ist dies eine conditio sine qua non.“  Hans Asmussen sprach dagegen eine Art Sündenbekenntnis, das jedoch bei genauem Hinsehen kein Bekenntnis zum Irrweg der Kirche, sondern zur Schuld des Volkes war. „Liebe Brüder, ich habe an Euch gesündigt als Glied meines Volkes, weil ich nicht besser geglaubt habe, weil ich nicht reiner gebetet habe, weil ich mich nicht heiliger Gott hingegeben habe. Ob ich damit hätte verhindern können, was geschehen ist, weiß ich nicht .Gerade weil ich mein Volk lieb habe, kann ich nicht sagen: Alles, was sich mein Volk zu Schulden kommen ließ, das geht mich nichts an! Nein, das tat mein Fleisch und Blut. Da gebietet mir die Liebe zu sagen, was ich gesagt habe: Ich stehe zu dem, was mein Volk tat. Verzeiht mir.“ Asmussen jonglierte mit einer seltsamen Unterscheidung zwischen Kirche und  Volk. Die Schuld liege beim Volk und die Kirche stehe diesem schuldbeladenen Volk nun bei, als ob die Kirche nicht Sonntag um Sonntag für Hitler und seine verbrecherischen Mitarbeiter um Weisheit und Kraft gebetet hätte, als ob sie nicht den Krieg begrüßt und den Sieg über Frankreich mit einem christlichen Choral gefeiert hätte. Kein Wort von einer Schuld der Kirche, diesen furchtbaren Irrweg, auf den die „Kirchenführer“ ihre Kirchengemeinden geführt hatten, betreten zu haben. Martin Niemöller wurde deutlicher und klarer, als er nach Asmussen sagte: „Liebe Brüder von der Ökumene, wir wissen, dass wir mit unserem  Volke einen verkehrten Weg gegangen sind, der uns als Kirche mitschuldig gemacht hat an dem Schicksal der ganzen Welt (...) Wir werden die Schuld  auf lange Sicht hin tragen. Wir wollen sie auch nicht verkleinern, aber helft uns, dass der Segen (der Vergebung Gottes D.K.) nicht verloren werde, weil vielleicht die Christenheit in aller Welt glauben möchte, euer Schuldbekenntnis ist nicht so ganz ernst zu nehmen.“ In einem Gottesdienst in Stuttgart am Vorabend der Sitzung hatte Niemöller noch drastischer gepredigt: „Die deutsche Kirche soll Buße tun und nicht weiter trotteln. Sie soll bekennen und mit ihr das deutsche Volk, dass es gesündigt hat vor Gott und in einem gottlosen Wesen befangen war. Nicht nur Deutschland leidet unter seiner eigenen Sünde, auch Holland, Frankreich, Finnland, Polen müssen Deutschlands wegen leiden.“ Anders als Asmussen stellte Niemöller die Notwendigkeit der Buße der Kirche voran, und dann mit ihr auch die Notwendigkeit einer Buße des deutschen Volkes. Der Schweizer Präsident Alphons Koechlin flocht in seine Zustimmung zu den Äußerungen von Asmussen und Niemöller die Warnung: „Die  Predigt, „Jetzt gilt es zu vergeben“, trägt stark die Gefahr in sich, dass dann alles beim Alten bleibt.“

Bischof Otto Dibelius verfasste eine Erklärung, die sich inhaltlich an eine Erklärung von Asmussen anlehnte. „Wir sind für diesen Besuch umso dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld (...)Wir klagen uns an, nicht mutiger bekannt, nicht besser gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt zu haben.“  Das war kein Schuldbekenntnis sondern eine Selbstbezichtigung, deren Gewicht Dibelius jedoch dadurch abschwächte, dass er folgenden Halbsatz voranstellte „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat, aber wir klagen uns an (,,) Davon hatte man von Bischof Meiser öffentlich nichts, aber auch gar nichts  in den Jahren 1933 und folgenden zu hören bekommen. Nicht einmal die Bekennende Kirche nahm für sich in Anspruch, einen Kampf  gegen den Nationalsozialismus geführt zu haben. Dibelius formulierte ebenfalls abschwächend: „gegen den Geist des Nationalsozialismus“, nicht: „gegen den Staat des Nationalsozialismus“. Diesem Staat hatte auch Dibelius nicht nur am Tag von Potsdam sondern auch später mit der falschen Interpretation von Römerbrief Kapitel 13 ein festes biblisches Fundament gegeben. Auch die Behauptung „Nun ist in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht worden“ wurde  durch ein „soll“, in eine künftige Aufgabe umgewandelt. „Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.“, hieß es im endgültigen Text. War ein solcher Anfang nicht bei der Versammlung in Treysa gemacht worden? mochte Dibelius einwenden. Der Textvorschlag von Dibelius zielte auf eine Gemeinsamkeit in der Ökumene, die er forsch in Anspruch nahm: „Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Rache und der Gewalt in aller Welt gesteuert werde“. Von „Rache“ konnte von Seiten der Besiegten nicht die Rede sein, Dibelius konnte nur die Haltung der Sieger meinen, gegen die er den Dienst der ausländischen Kirchen erhoffte. Daher wurde im endgültigen Text das Wort „Rache“ durch „Vergeltung“ ersetzt. Dibelius nahm auch den Gedanken von Asmussen auf, wonach Kirche und Volk zwei unterschiedliche Größen seien,  wobei die Schuld nicht auf  der Kirche, wohl aber auf dem Volk liege. Die offenbar unschuldige Kirche nehme sich aber der Schuld des Volkes solidarisch an. Man wisse sich mit dem Volk nicht nur in einer Gemeinschaft der Leiden, „sondern auch in einer Solidarität der Schuld“. Diese merkwürdige Wortbildung vermeidet also eine Mitverantwortung der Kirche, wie sie Niemöller in seinem Grußwort benannt hatte, sondern beugt sich „priesterlich“, „solidarisch“ zum schuldig gewordenen Volk. Der Vorschlag konnte so nicht bleiben, er wurde vielmehr geradezu auf den Kopf gestellt, als Niemöller vorschlug, in die Fassung von Dibelius den Satz einzufügen: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Das war der Satz, der inhaltlich von den ökumenischen Gästen erwartet worden war und der im Text von Dibelius fehlte. Er wurde an den Anfang des Textes eingeschoben und sofort anschließend durch die Behauptung, die Kirche habe lange Jahre gegen den Geist des Nationalsozialismus gekämpft, verwässert. Greschat stellt zutreffend fest: „In den Gesamtzusammenhang der Erklärung fügt sich diese Aussage allerdings kaum ein.“ „Es ist alles in allem ein zwiespältiger Eindruck, den die Stuttgarter Schulderklärung hinterlässt.“ Die ökumenischen Gäste in Stuttgart hingegen nahmen die Erklärung dankbar zur Kenntnis.

Wie  kam es überhaupt zu dieser Titulierung „Schuldbekenntnis“? Die Erklärung war nicht für die  Kirchengemeinden gedacht, schon gar nicht  für die Öffentlichkeit, ihr Wortlaut wurde nur zögerlich von den Landeskirchen der Pfarrerschaft zugänglich gemacht. Die unzutreffende Bezeichnung „Stuttgarter Schuldbekenntnis, die sich bald bis heute eingebürgert hat, stammte vom Kieler Kurier, der schon am 27.Oktober 1945 meldete: „Schuld für endloses Leiden. Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld“. Diese Überschrift war ein grobes, womöglich gezieltes Missverständnis des Textes, sie war auch nicht aus dem Einschub von Niemöller abzuleiten, der im Zusammenhang mit dem „unendlichen Leiden“ nicht die Schuldfrage behauptete, um nicht an die elende Kriegsschulddebatte nach 1919 zu  erinnern. Aber der Kieler Kurier griff aus der Erklärung des Rates die Feststellung der Verbrechen („unendliches Leid“) auf, die „durch uns“, also auch von den Verfassern der Erklärung, mitverantwortet war und berührte damit den wunden Punkt der Erklärung.

Diese Pressemeldung verursachte eine jahrelange öffentliche Empörung.

Es war den Ratsmitgliedern auf den beiden Ratssitzungen nicht möglich gewesen, den Kirchengemeinden einen Vorschlag für ein Wort der Notwendigkeit des Umdenkens und der Buße zu formulieren, obwohl der nahe Bußtag ein solches Wort nahelegte.

Die Ablehnung der Stuttgarter Ratserklärung war an den Universitäten besonders heftig. An der Universität Tübingen referierte Anfang November 1945 Karl Barth über „Ein Wort an die Deutschen.

Barth wiederholte einen Vortrag, den er wenige Tage vorher am 2. November 1945 vor einer ganz anderen  Zuhörerschaft im Staatstheater Stuttgart auf Einladung der württembergischen Regierung gehalten hatte. Barth lobte die Stuttgarter Erklärung des EKiD Rates vom Oktober und wünschte: „Möchte es doch auch noch von anderen  Seiten ausgesprochen werden! Die ganze Welt draußen würde aufatmen, weil es dann endlich wieder in wache, aufrichtige deutsche Augen blicken  dürfte.“ Barth hatte die Stuttgarter Erklärung offenbar als „Schulderklärung“ missverstanden, und er warnte davor, bei einem Neuanfang wieder an das Jahr 1933 anzuknüpfen, weil die Wurzeln des Nationalsozialismus historisch bis weit in die Kaiserzeit zurückreichten. Es gelte, diese schon damals entstandenen Wurzeln des Nationalismus zu beseitigen. Also keine Wiederherstellung alter Verhältnisse, denn Restauration bedeute „die Wiederherstellung der alten Gefahrenquelle“, bedeute das Sichfallenlassen in „verbrauchte Verhältnisse, verbrauchte Gedankengänge, verbrauchte Gewohnheiten, verbrauchte Menschen in Deutschland“ Angesichts einer länger dauernden sowjetischen Besatzungszeit müsse man auch aufgeschlossen gegenüber dem „russischen Kommunismus sein, der im künftigen Deutschland auf  alle Fälle eine politische, eine wirtschaftliche, eine geistiger Macht sein werde.“

Was auf eine aufgeschlossene, weiter denkende Zuhörerschaft im Stuttgarter Staatstheater einleuchtend wirken mochte, kam bei den Tübinger Studenten, die teilweise noch in ihren abgeschabten Militärmänteln zur Vorlesung gekommen waren, wie eine krasse Zumutung.an. Der junge, redegewandte und als brilliant angesehene Professor Helmut Thielicke wurde von den Studenten um eine Antwort auf Barth in seiner Vorlesungsreihe mit  dem weitschweifenden Titel „die geistige und religiöse Krise des Abendlandes“ gebeten. Der junge Professor lobte artig einleitend die Person Barths, um sich dann ausgiebig mit der Gegenthese zu befassen: Er könne kein Schuldbekenntnis aussprechen, bevor nicht „die Andern“, also die Besatzungsmächte, mit einem Schuldbekenntnis vorangingen, denn diese hätten das „Versailler Diktat“ verursacht, das stimmungsmäßig das Aufkommen des Nationalsozialismus begünstigt hätte und ihre Regierungen hätten die Hitlerregierung diplomatisch anerkannt und mehr als Höflichkeitsdemonstrationen vollzogen. Schuld sei niemals einseitig, sondern beruhe auf einem Miteinander. Ein Schuldbekenntnis könnte von den Feindmächten aus politischem Interesse missbraucht werden. „Ein Tropfen  Schuldbekenntnis von der anderen Seite ist uns lieber als ein Ozean von Sympathie“. Thielicke behandelte dann die Frage einer Kollektivschuld (von der Barth überhaupt nicht gesprochen hatte), wobei „schließlich der Soldat und Offizier, der für sein Vaterland gekämpft habe, auf eine Linie gestellt werde mit den Kriegsverbrechern erster  Ordnung.  Dieser Wahnwitz „entspreche nicht der Würde unserer gefallenen Kameraden.“ Da begann nun die akademische Vorlesung zu einer kitschigen Weißwäsche der in die Verbrechen der Hitlerarmee verstrickten Armeeangehörigen zu münden, was Thielicke auch in den  folgenden Jahren fortsetzte  und in einer Karfreitagspredigt 1947 kulminierte, die Thielicke unter dem Titel „Die Schuld der Andern“ zusammen mit Pfarrer Helmut Diem veröffentlichte. Die in der Situation von 1944/45 wohl verständliche Ausrede „Wir haben das Vaterland verteidigt“ wurde bei dieser seinerzeit jungen Generation im zunehmenden Alter zur schäbigen, abstoßenden Lebenslüge, denn es war das von Hitler regierte, von Naziverbrechen bis zur Unkenntlichkeit verunstaltete „Vaterland“. In seinen Lebenserinnerungen, die Thielicke als 75 Jähriger niederschrieb, liest man vergeblich einen Satz der Selbstkritik über die verheerenden Folgen jener Auslassungen, die ein Verständnis der Stuttgarter Erklärung nicht nur erschwerte, sondern auf Jahre hinaus verhinderte.

Das Lebensmelodie der westdeutschen Bevölkerung lautete daher: „Ohne Umkehr und Buße weiter so wie bisher“. In den Landeskirchen herrsche überall eine kaum noch zu verbergende Politik der Restauration und Reaktion, klagte Mitte 1946 Niemöller in einem Schreiben an den Leiter der Kirchenkanzlei Asmussen, nicht das Wort Gottes und seine kräftige  Hervorhebung in der Verkündigung und in der Ordnung der Kirche stehen im eigentlichen Mittelpunkt, sondern Bestrebungen, die „Heimatkirche“, die rechtlich verfasste Kirche von vorgestern, die konfessionalistische  Eigenbrödelei und hierarchisch-liturgische Romantik zu entscheidenden Gesichtspunkten  zu machen.“

„Weiter so“, wenn auch ohne Hitler, so doch in seinem Schatten, war auch das Motto der kirchlichen Mitte, deren Stützen auch in den westdeutschen Kirchen der EKD unverändert geblieben waren: die Mitgliederstärke der westdeutschen Landeskirchen, die Kasualien und die Kirchensteuer.

Das  war die Melodie des „Trottelns“, vor der Niemöller in Stuttgart gewarnt hatte: „Die deutsche Kirche soll Buße tun und nicht weiter trotteln.“

Gegen diese Melodie des Trottelns in der Kirchlichen Mitte gab es in den nächsten Jahrzehnten einige Gegenbewegungen: die Aktion Sühnezeichen, die, im Jahre 1958 gegründet, von Jahr zu Jahr wuchs und bis heute besteht. Sie sagt schon durch ihren Namen, dass sie einen anderen Weg ging als die Kirchenoberen in Treysa und Stuttgart, wo von Schuld, und nun gar von Sühne überhaupt keine Rede war. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und ihren Folgen war das Motiv für ihre Arbeit. Gegen eine „trottelnde“ Kirche entstand seit 1949 die wachsende Kirchentagsbewegung, die 1979 und 1981 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand und außerhalb der organisierten Kirchenstruktur eine unabhängige Stellung mit zugespitzten Zeitansagen entwickelte. Schließlich entstand in einigen Landeskirchen der DDR ein neues Kirchenmodell, das die traditionellen Stützen der „trottenden“ Kirche der Mitte  entbehren musste: die staatlich eingezogene Kirchensteuer und die  behäbige, aber füllige Kirchenmitgliedschaft. Sie berief sich auf die bruderrätliche Tradition der Bekennenden Kirche  und bezeichnete sich als Kirche in evangelischer Freiheit im Sozialismus. Eine entsprechende Diskussion in den Kirchen der BRD über eine evangelische Freiheit im Kapitalismus wurde nicht geführt. Nach der Osterweiterung der BRD in das Gebiet der  DDR in den Jahren 1989/90, fälschlicherweise als „Wiedervereinigung“ bezeichnet, versäumten es die Westkirchen der BRD, die Impulse aus den Kirchen der DDR für eine erneuerte evangelische Kirche aufzunehmen.

Seit ca. 30  Jahren bröckeln die Stützen der Kirchlichen Mitte. Die Kirchenmitgliedschaft nimmt sichtlich ab, ebenso die Tauf- und Trauziffern, Bestattungen werden zunehmend anonym und von säkularen Bestattern angeboten und angenommen. Auf die Höhe der Kirchensteuer wirkte sich die abnehmende Kirchenmitgliederzahl zunächst kaum aus, aber das scheint sich in jüngster Zeit zu ändern. Die evangelische Kirche geht auf das Ende der zählebigen Epoche der Kirchlichen Mitte zu.



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