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[Kirche von Unten]

Zum Hitlerbild in der Deutschen Evangelischen Kirche

und

Ein Beitrag zur Kirchlichen Mitte

von Dietrich Kuessner

(Download des Buches einschließlich Anmerkungen als pdf hier)




Der Fehlstart von Treysa
Was in den Kirchengemeinden hinsichtlich einer Weiterführung der Arbeit  unter gewiss eingeschränkten Bedingungen möglich war, erschien an der Kirchenspitze schwierig. In Berlin war es seit dem deutsch-christlichen Überfall im Sommer 1933 auf die entscheidende Institution des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, den Kirchenausschuss, nicht mehr zu einer dauerhaften Gesamtvertretung der evangelischen Landeskirchen gekommen. Die Kirchenkanzlei, das einzige funktionierende Organ des Verfassungswerkes von 1933, war vor dem Bombenkrieg aus Berlin in den Harz ausquartiert worden und arbeitete unter Oberkonsistorialrat Heinz Brunotte eingeschränkt weiter. Die Ministerien in Berlin hatten sich aufgelöst und ihre Arbeit, soweit sie kirchliche Aufgaben und Funktionen hatten, beendet. Im Innenministerium hatte Staatssekretär Stahn noch kirchliche Aufgaben erledigt. Er war zur Wehrmacht eingezogen worden und im Mai 1945 in Polen umgekommen. Staatssekretär Hermann Muhs, der amtierende Leiter des Kirchenministeriums und  Nachfolger des 1941 verstorbenen Kirchenministers Hans Kerrl, war noch zur Wehrmacht eingezogen worden und nicht mehr ins Ministerium zurückgekehrt. Dr. Georg Cölle, seit 1944 Leiter der Finanzabteilung der Deutschen Ev. Kirche, war im April 1945 von Oberkonsistorialrat Brunotte „abgesetzt“ und von den Alliierten interniert worden. Der Geistliche Vertrauensrat unter der Leitung von Landesbischof Marahrens war nicht mehr zusammengetreten. Sein Mitglied, der mecklenburgische deutsch-christliche Landesbischof Schultz, hatte im Juni seine kirchlichen Ämter niedergelegt und war von der britischen Regierung in  das Gefangenenlager Gadeland abgeführt worden.  

Im Frühsommer 1945 hatte daher der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, 77 jährig, seit 1929 im Bischofsamt, die Initiative in die Hand genommen und einige Kirchenleitungen zu einer Konferenz  in das geräumige Gelände der Heil- und Pflege- Anstalten Hephata in Treysa bei Kassel am 27.-30. August 1945 eingeladen, um Fragen einer künftigen Gestaltung einer evangelischen Kirche zu besprechen.

Beim ersten Wiedersehen der überlebenden Kirchenmänner auf verantwortlichen Posten in Treysa war eine Gelegenheit zu einem gemeinsamen Gedenken und bußfertigen Besinnen über die Gründe des Massensterbens auf deutschem Boden. Dass sie mitten in der Zusammenbruchgesellschaft des Sommers 1945 zu allererst gemeinsam auf die Knie  fallen und ihrem Schöpfer und Erhalter danken, dass sie noch am Leben sind, die Naziherrschaft ein Ende hat und beschämt der Tatsache gedenken, dass es fremde Truppen waren, die unter sehr großen persönlichen Opfern noch in den letzten Monaten diese Situation herbeigeführt hatten. Es waren auch amerikanische und englische Christen mit in Treysa, da lag ein gemeinsamer ökumenischer Gottesdienst in der Luft. Es geschah nichts dergleichen: kein Dank, keine Buße, die Tagesordnung sah sowas nicht vor.

Bischof Wurm hatte eine vorläufige Tagesordnung mit acht Tagesordnungspunkten mitgeschickt und einige Referenten zu Vorträgen eingeladen. Die Einladung  machte nicht den Eindruck, dass ein Kirchenneubau von den Gemeinden her erfolgen sollte, wie es den Synodalen der Berliner Bekennenden Kirche im Monat zuvor in Berlin Spandau auf der Bekenntnissynode vorgeschwebt hatte. In einem Wort an die Berliner Pfarrer und Gemeinden hatten sie u.a. erklärt, die amtliche Kirche habe sich gegenüber dem Angriff des totalen Staates und seiner Weltanschauung  weithin als blind und taub erwiesen. Ihre Haltung sei zum Verrat an der Kirche geworden. Die Bruderräte der BK sollten die Kirchenleitung übernehmen, und das „tote Kirchensteuerwesen“, so die Spandauer Synodalen, überwunden werden. Der Ruf von Barmen von der Alleinherrschaft Christi werde erneuert. Die Spandauer Synode war der Versuch, von den Ergebnissen des Kirchenkampfes in der ApU  eine neue brüderliche Kirche zu gestalten. Aber Mitglieder der Bekennenden Kirche standen nicht auf der Einladungsliste. Nach Treysa waren jedoch  die Mitglieder der ehemaligen „Kirchenführerkonferenz,“  eben jene Vertreter einer „amtlichen Kirche“, eingeladen, insgesamt ca. 40-50 Mitglieder und Gäste.

Die Tagung stand von Anfang an unter einem sehr ungünstigen Stern, denn der bayrische Bischof  Meiser hatte die nach seiner Meinung betont lutherischen Landeskirchen, die früher in einem Lutherrat zusammengeschlossen waren, zu einem Treffen am Wochenende unmittelbar zuvor vom 24.-26. August ebenfalls nach Treysa eingeladen. Dort sollte eine lutherische Gesamtkirche für ganz Deutschland aus der Taufe gehoben werden. Bischof  Meiser hatte diese Idee bereits 1936 durchsetzen wollen, war damit jedoch gescheitert. Die Gelegenheit schien im Sommer 1945 günstiger, denn die unierten Kirchen der altpreußischen Union, einige in der Sowjetzone gelegen, erschienen ihm wenig handlungsfähig. Im Eilverfahren berieten die lutherischen Vertreter einen vorgelegten Verfassungsentwurf, dessen Beratung allerdings gar nicht auf der Tagungsordnung stand und dessen Text sie vorher nicht durcharbeiten konnten. Sie stimmten trotzdem zu. Bischof Wurm hingegen lehnte die Vorlage und damit das Unternehmen ab, sodass die für den 25. August vorgesehene Ausrufung einer lutherischen Gesamtkirche ausfiel. Die Versammlung verabschiedete aber eine Erklärung, wonach diese lutherischen Kirchen „in dem vergangenen Jahrzehnt im Gehorsam gegen das Bekenntnis der lutherischen Reformation den Irrlehren der Zeit, besonders der Deutschen Christen widerstanden haben“. Meiser stützte sich auf ein versteinertes Bekenntnisverständnis, das die dogmengeschichtliche Entwicklung seit der Reformation übersah. Smith von Osten bemerkt sehr zurückhaltend, hier werde eine Sicht der Vergangenheit deutlich, die von einer gewissen Selbstgerechtigkeit geprägt sei, und eine inhaltliche Erneuerung in der eigenen Kirche sowie ein Zusammengehen mit den andern reformatorischen Kirchen in Deutschland auch nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes nicht zwingend mache.

Bischof Meiser übersah vor allem, dass sich in der Gottesdienstgemeinde längt eine Bekenntnisverständnis liturgisch eingebürgert hatte. Die Väter der Liberalismus hatten im 19. Jahrhundert das apostolische Glaubensbekenntnis aus der Liturgie der sonntäglichen Gottesdienstordnung verbannt. Die Aussagen über die Jungfrauengeburt, Himmel- und Höllenfahrt Jesu, über die Auferstehung („wieder auferstanden“) erschienen unverständlich und nicht zeitgemäß. Es gab darüber um 1900 einen  bezeichnenden Apostolikumsstreit. Das Apostolikum war ursprünglich Bestandteil des Taufgottesdienstes. Es gehört zu den saftigen Früchten des Kirchenkampfes, dass sich die Gottesdienstgemeinde das apostolische Glaubensbekenntnis in den sonntäglichen Gemeindegottesdienst eroberte,  es gemeinsam laut sprach und dazu aufstand. Das verstand sie als Standortbestimmung eines evangelischen Christen im nationalsozialistischen Staat. Rudolf Alexander Schröder dichtete dazu 1937 ein Glaubenslied, und Lahusen schrieb 1945 eine Melodie, die sich rasch einbürgerte. Das war ein treffender Hinweis, dass das Bekenntnis vor allem ein Loblied ist. Jeder Choral hatte danach einen Bekenntnischarakter.  Meiser hingegen wollte den Wortlaut des Bekenntnisses aus der Reformationszeit, z.B. die Confessio Augustana Invariata, aus der Tiefe der Dogmengeschichte wieder hervorholen und der Gemeinde bewusst machen.

Das war  ein Vorhaben für Berufsliturgiker, aber für die lobende und bekennende Gemeinde bedeutungslos.

Es bestanden zwischen dem Bekenntnisverständnis der kirchlichen Mitte und dem lutherischen Block fundamentale Unterschiede. Die Meisersche Tagung war gegenüber dem folgenden Treffen eine dreiste Provokation und der Zeitpunkt ausgesprochen taktlos, weil Meiser die Beratungen und Beschlüsse der von Wurm einberufenen Tagung nicht abgewartet hatte.

Die folgende Tagung von Montag, den 27. bis Freitag  den 31. August, an der auch die Mitglieder der lutherischen Kirchen teilnahmen, war daher von Anfang an belastet. Obwohl  ungefähr 40-50 Teilnehmer eingeladen waren, waren aber ca. 120 Personen gekommen. Man wollte sich nach langer Zeit bei dieser Gelegenheit wieder sehen, aussprechen, austauschen. Ob sie sich an den eingeladenen Teilnehmern einfach  transportmäßig angehängt hatten, ob sie von den Bischöfen als nichtoffizielle Begleiter und Teilnehmer mitgenommen wurden und an der Tagung zeitweise oder bis zum Abschluss teilgenommen haben, ist noch nicht erforscht.  Es gab keine offizielle Anwesenheitsliste, daher ist nicht bekannt, wieviel „Fußvolk“ sich in Treysa zusätzlich eingefunden hatte. Es wurde kein Versammlungsleiter gewählt, keiner stellte die Frage nach einem Protokollführer, wer war abstimmungsberechtigt? Alle oder nur die Eingeladenen oder jeder, der zufällig im Saal war? Wurde eine endgültige Tagesordnung beschlossen? Der für zwei Referate vorgesehene Prof. Helmut Thielecke hatte verkehrsbedingt Treysa nicht erreicht.

In der 1976 veröffentlichten Arbeit von Klaus Jürgensen „Die Stunde der Kirche“ über die ersten Jahre in der Landeskirche Schleswig-Holsteins nach dem 2. Weltkrieg findet sich versteckt ein Report  des Colonel R.L.Sedgwick, der interessant über seine Teilnahme an dem Treffen in Treysa berichtet. Sedgwick war Controller General of Religious Affairs, hatte als Beobachter an der Katholischen Bischofskonferenz in Fulda teilgenommen  und war danach unerwartet in Treysa aufgetaucht. Sein Bericht enthält auch eine Teilnehmerliste von 86 Personen aus fast allen Landeskirchen.. Danach waren in Treysa unter anderen ungefähr 15 Bischöfe, 13 Oberkirchenräte, 9 Professoren, 8 Superintendenten, 7 Pfarrer; auch zwei Fahrer sind aufgezählt. Damit waren die Interessen und die Perspektive einer „Kirche von oben“ gesichert.  Die Sedgwickliste warf  noch andere Fragen auf,  z.B. Wer war der auf dieser Liste erwähnte Oberkirchenrat Kleindienst „(Lodz, z.Zt Ansbach)“?  Die Ortsangabe wirkt unklar. Ist mit Lodz die unter den Nazis umbenannte Stadt Lietzmannstadt gemeint, oder der um Lodz liegende größere Landschafsbereich im Warthegau, der vom Reichsstatthalter Greiser verwaltet wurde? Der genannte Titel Oberkirchenrat lässt einen größeren Aufgabenbereich vermuten. Kleinschmidt wohnte mit seiner Familie in Ansbach, wurde jedoch am 3.September 1945 von den Amerikaner verhaftet, für ein Jahr ins Internierungslager Dachau verbracht und im November 1946 an den polnischen Staat ausgeliefert. In einem Verfahren vor einem polnischen Gericht wurde er von der Anklage von Kriegsverbrechen am 16. November 1948 freigesprochen und auf Fürsprache von Bischof Wurm und einem englischen Bischof  die Ausreise in die Westzone zu seiner Familie gestattet. Das bayrische Pfarrerverzeichnis führt ihn seit 1950 als Pfarrer in Augsburg.  Vorher war er von 1939-1945 Oberkonsistorialrat in Lodz.

Unter der erheblich größeren Versammlung befand sich eine vierzehnköpfige Gruppe, die sich zuvor  in Frankfurt erneut als Reichsbruderrat konstituiert hatte. Sie wurde von Martin Niemöller angeführt und hatte als Gast Prof. Karl Barth mitgebracht, den Schöpfer der bei den Lutheranern ungeliebten Barmer Erklärung vom Mai 1934.

Die vorher nicht eingeplante Anwesenheit so vieler führender BK-Mitglieder machte den Graben zwischen den Lutheranern und der BK enorm sichtbar und hörbar. Die kirchenpolitische  Entwicklung  beider Gruppen war zu unterschiedlich, z.B. hinsichtlich der Stellung einer Synode in jener Zeit. Während in den lutherischen Landeskirchen von Bayern und Hannover die Landessynoden aufgelöst worden waren, die ihre Funktionen auf den Landesbischof übertragen hatten, blieben in den Kirchen der ApU die Synoden auf regionaler und überregionaler Ebene erhalten. Nach der letzten, vierten Bekenntnissynode im Februar 1936 tagte die Bekenntnissynode der ApU seit Dezember 1936  insgesamt 11 mal in Breslau, Halle, Lippstadt, Berlin, Leipzig, Hamburg und fasste auch für die Gesamtkirche wichtige Beschlüsse, so z.B. den Vorschlag eines gemeinsamen Abendmahles mit Lutheranern und Unierten. Nun war die von den Betonlutheranern totempfundene  Bekennende Kirche in Treysa nicht nur präsent, sondern mit Niemöller und Karl Barth eine mächtige Konkurrenz zu den Lutheranern unter Bischof  Meiser. Wer würde der Versammlung das Gepräge geben?

Auf der vorläufigen Tagesordnung stand ein Bericht über die Lage der evangelischen Kirche, den der Vorsitzende der Konferenz, Bischof Wurm, erstattete. Wurm ging von seinem 1943 gestarteten Versuch der Bildung einer Gesamtkirchenleitung aus, der aber an den alten konfessionellen Gegensätzen gescheitert war. Wurm schilderte den „Kirchenkampf“ zwischen den DC und der BK sowie die vielen verschiedenen, unfruchtbaren Versuche der Bildung einer Gesamtkirchenleitung. Der erste  Teil des Berichtes war vor allem von der Angst bestimmt, dass die BK und die Lutheraner die Bildung einer künftigen gemeinsamen Kirchenleitung blockieren würden wie schon 1936. Daher die wiederholt beschwörenden Töne zur einheitlichen Kirchenleitung. In einem letzten Teil beschäftigte sich Wurm  mit der Westgrenze Polens, wie sie im  Potsdamer Abkommen festgelegt worden war. Er fragte: „Ist es wirklich als vollzogene Tatsache zu betrachten, dass im Zeichen der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und des dauerhaften Völkerfriedens alles seit Jahrhunderten von Deutschen besiedeltes und kulturell entwickeltes Land dem Slawentum ausgeliefert und damit zugleich dem Protestantismus entzogen wird?“ Die Wortwahl Wurms (Auslieferung an das Slaventum) ließ das Eingeständnis vermissen, dass der Überfall auf den  polnischen Staat 1939 von jenem protestantischen Kulturland ausgegangen, die evangelische Kirche Gott mit einem abgöttischen Dank überschüttet und die deutsche Bevölkerung mit stundenlangem Glockengeläut zu Siegesgebeten aufgerufen worden war. Ein Wort der Empathie für die Hunderte polnische Priester, die in Konzentrationslager verschleppt worden waren, und ein kritisches Wort  zu einer staatsterroristisch durchgezogenen Vernichtung sowie Auslöschung des polnischen Staates hätten den vorgetragenen historisch nicht unberechtigten Einwand gegen die Abmachung des Potsdamer Abkommens auch für die englischen und amerikanischen Gästen annehmbarer gemacht. Das Potsdamer Abkommen sprach davon, dass die deutsche Bevölkerung nun die Folgen des von ihr angezettelten Krieges zu tragen habe. Von dieser Bereitschaft war in den Worten Wurms wenig zu spüren.

Nach Wurm sprach Martin Niemöller, der zur Lage der Kirche nur wenig sagen konnte, weil er von 1938 an bis zum Frühjahr 1945 im Konzentrationslager verhaftet gewesen und von der „Lage“ abgeschnitten war. Seine Ansprache war ein Appell für die nächste Zeit, aber keine Analyse der letzten Jahre. Niemöller wiederholte inhaltlich die Vorschläge der Spandauer Bekenntnissynode vom Juli 1945. Er führte die Not der Zeit auf die mangelnde Bußfertigkeit der Kirche angesichts ihrer übergroßen Schuld während der nationalsozialistischen Zeit zurück.“ Niemöller schlussfolgerte: „Wir sind eine Behördenkirche  gewesen, und dieser Umstand hat es uns erleichtert, nur das traditionell Übliche zu tun  und nicht weiter zu fragen, was denn eigentlich unsere Verantwortung war.“ „Die  Kirche der Zukunft wird nie wieder Behördenkirche sein dürfen. Wir haben als Landeskirche in erster Linie unser Augenmerk darauf gerichtet, den Bestand zu wahren und darüber haben wir den Blick für notwendige Entwicklungen und für die drängenden Aufgaben des Augenblicks verloren. Meine Brüder, wo steht denn geschrieben, dass die Landeskirchen bestehen bleiben müssen mit ihren zum Teil unmöglichen Grenzen?“ Niemöller schwebte  eine bruderrätliche Gestaltung der Kirche von den Kirchengemeinden ausgehend bis zur „Kirchenspitze“ vor. Die Landeskirchen würden  angesichts der Erschütterungen des Vaterlandes untergehen und zerbrechen müssen.

Für solche grundlegenden Überlegungen aber war es zu spät. Die Lage in den Kirchenleitungen hatte sich zwischen April und August 1945 folgendermaßen verändert. Die erste Sorge war die Beseitigung von nationalsozialistischen Einflüssen in den Landeskirchenämtern. Nazianhänger räumten angesichts der Besatzungsmächte von selbst die Posten und Unverbesserliche wurden entlassen, andere mussten überredet werden, umgehend in Pension zu gehen. Als nazistisch verseucht  galten die ab 1935 vom Staat eingerichteten Finanzabteilungen in vielen Landeskirchenämtern und Konsistorien, die im Laufe der Jahre von zuverlässigen Parteigenossen besetzt worden waren. Die Vorsitzenden der Finanzabteilungen in den Landeskirchenämtern verschwanden, als die Finanzabteilungen im Laufe des Jahres 1945 aufgelöst wurden. Diese Entwicklung war noch nicht in allen Landeskirchen abgeschlossen, was aber zwingend notwendig war, weil die Finanzabteilungen über die Kirchenkassen verfügten, die umgehend in den Besitz der neuen  Kirchenleitung gelangen mussten, um z. B. Pfarrergehälter im Herbst auszahlen zu können.

Der Lagebericht von  Niemöller war illusionär und der von Wurm auf den Kirchenkampf zwischen DC und BK beschränkt. Die Normallage in den Kirchengemeinden, also die Kirchliche Mitte, blieb unberücksichtigt.

Die Angst Wurms vor einem Auseinanderbrechen der Zusammenkunft in Treysa war nicht unberechtigt, denn die angespannte, vergiftete Atmosphäre drohte die Versammlung zu sprengen. Prof. Wolf-Dieter Hauschild schilderte vor der Festversammlung im Juni 1985 in Treysa wiederholt in  seinem Festvortrag die Atmosphäre in der Kirchenversammlung 1945. Symptomatisch für die eigenartige Bewusstseinslage sei es gewesen, das die meisten Teilnehmer mit großen Hoffnungen nach Treysa kamen und viele enttäuscht von dannen fuhren.  Im Folgenden nannte Hauschild dafür verschiedene Gründe. Die Teilnehmer  seien sich wie „streitende Parteien“ begegnet, die sich nur „zähneknirschend“ zu gemeinsamem Handeln gezwungen hätten.  Ohne die vermittelnden Aktivitäten von Wurm und Bodelschwingh  „wären die feindlichen Parteien auseinandergegangen.“  „Auf der einen Seite beschwor man ehrlichen Herzens die in der Zeit der Unterdrückung  gewachsene Gemeinschaft, auf der anderen Seite misstraute  jeder jedem und suchte für sich  einen Platzvorteil bei dem alles entscheidenden Start.“ Dabei seien  Ehrgeiz und Profilierungssucht, Machtstreben und Feindschaft der handelnden Personen in Treysa erschreckend zu Tage getreten. Wesentliche Fragen über die künftige Gestalt einer evangelischen Kirche seien ausgeklammert worden „in der Hoffnung, sie durch eine Verbesserung der persönlichen  Atmosphäre.. irgendwann lösen zu können.“  Das „irgendwann“ setzte Hauschild  auf die nächsten zehn Jahre fest, denn die Konzeptions-  und Charakterunterschiede von „so gegensätzlichen Ratsmitgliedern wie Dibelius und Niesel, Meiser und Heinemann, Lilje  und  Asmussen signalisierten einen permanenten Streit bis 1955/56.  Daher sei „die mühsam zstande gebrachte Entscheidung  „nach hartem Ringen in einer „unerfreulichen Atmosphäre“ erfolgt.

Am Donnerstag, dem 30. August, wurde den ganzen Tag in immer neuen Sitzungen um die personelle  Besetzung des neuen vorläufigen Rates der EKiD gerungen. Niemöller sträubte sich, neben Meiser in einem Leitungsgremium der neu geschaffenen Kirchenleitung zu sitzen, die nicht bruderrätlich von den Gemeinden her aufgebaut war. Aber er gab schließlich nach. Es wurde nach stundenlangem Personalgerangel ein vorläufiger Rat von zwölf Personen gebildet, dessen Spitze aus Bischof Wurm, Pfarrer Niemöller und Bischof Dibelius bestand. Dies bedeutete einen Kompromiss.

Aber die Atmosphäre blieb vergiftet. Niemöller beschrieb sie in einem Brief folgendermaßen: „Sie hätten diese selbstzufriedene Kirche in Treysa mal sehen sollen: Wir haben das Volk richtig geführt, die Kirche hat nicht versagt, wir haben die reine Lehre gepredigt und sind nicht die deutsch-christlichen Irrwege gegangen. Da reden die Leute von Hilfsaktionen und beruhigen sich, wenn sie wieder mal einen Tropfen auf den heißen Stein geträufelt haben, da reden sie von der einzig reinen Lehre des Luthertums und von der Notwendigkeit, dass man sich von den Calvinisten scheide und ähnliche Gotteslästerungen.“  

Es hätte nahe gelegen, die Anregung Martin Niemöllers aus seiner Eröffnungsansprache zu einem gemeinsamen Bußwort aufzunehmen und gegenüber den Kirchengemeinden und der deutschen Öffentlichkeit zu bekennen: „Wir haben uns geirrt, dass wir Jahre lang Hitler und seine Regierung als von Gott gesetzte Obrigkeit verstanden haben und ihr gefolgt  sind. Wir haben uns geirrt, dass wir seine auf Krieg ausgerichtete Politik unterstützt haben. Es war falsch von uns, dass wir geschwiegen haben, als Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden und Oppositionelle schon seit 1933 und dann immer wieder  in Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden. Es reut uns unsere Schuld. Wir bitten die Kirchengemeinden, die deutsche Öffentlichkeit und Gott um Entschuldigung. Wir hoffen auf einen gemeinsamen Anfang, der zu Frieden und Versöhnung führt.“ Die Versammlung in Treysa machte keinen Versuch zur Formulierung eines Bußwortes. Die Lebenswege der tonangebenden Teilnehmer bis nach Treysa und  ihre häusliche Situation waren offenbar zu unterschiedlich, um sich zu einem gemeinsamen Bußwort zu verständigen. Es wäre das Naheliegendste gewesen, ein solches Bußwort durch einen gemeinsam Buß- und Abendmahlsgottesdienst zu bekräftigen. Aber das trauten sich die Anwesenden  nicht zu. Keiner ergriff die Initiative. Das antiquierte, betonierte Bekenntnisverständnis der Lutheraner blockierte eine fällige, selbstverständliche, geistliche Begegnung.

Geradezu erwartet wurde ein deutendes Wort zu der politischen Lage, zur  Lage des zertrümmerten, besiegten, geteilten, „führerlosen“, geschändeten Deutschlands „über alles“? War die  Zertrümmerung des Deutschen Reiches nun „ein Gericht Gottes“? Wenn ja, über wen? Über die Nazis? Etwa über alle Deutschen? Und wofür? Für das zum Himmel schreiende Unrecht, z.B. bei der Pogromnacht im November 1938? Für den von den Deutschen begonnenen Krieg und seine Folgen? Dafür, dass die meisten Deutschen und die die übergroße Mehrheit der evangelischen Kirche aller Schattierungen Hitler hinterhergelaufen waren? Wofür? Die Wortführer der Versammlung in Treysa hatten offenbar ganz andere Gedanken, sie wollten „nach vorne“ blicken. Sie wollten bei der Gestaltung einer Nachkriegskirche vorne mit dabei sein, und dazu zunächst die in ihrer eigenen Landeskirche inzwischen errungene Position gegenseitig bestätigen und festigen gegenüber den Ansprüchen Anderer.

Es gab für die Kirchenführer immer noch ein Deutschland
Die Zusammenkunft in Treysa beschloss, den Namen „Deutsche Evangelische Kirche“ (DEK) in „Evangelische Kirche in Deutschland“ (EKiD) zu ändern. Es sollte das Ende einer nazistisch belasteten deutschen evangelischen Kirche bedeuten und den Anfang einer neuen, unbelasteten Kirche in  Deutschland. Aber ein „Deutschland“ gab es nicht mehr. Trotzig hatte Bischof Wurm im Eingangsreferat behauptet: „Wenn wir auch amerikanisch besetzt sind, so sind wir doch immer noch in Deutschland“  Seit der Öffnung der Konzentrationslager durch die alliierten Truppen jedoch war der Blick frei für ein geschändetes deutsches Reich. Es gab  zwar noch eine deutsche Sprache und eine deutsche Geschichte.  Aber kein „Deutschland“,  weder als tagespolitischen noch als geografischen Begriff. Das war ein Selbstbetrug der Kirchenführer. Anfang August 1945 hatten die englische, amerikanische und sowjetische Führung in Berlin-Potsdam beschlossen, das Territorium des besiegten Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen aufzuteilen, dauerhaft zu besetzen und die Regierung selber zu übernehmen. Deutschland war von der Landkarte verschwunden, nicht aber im Bewusstsein der Teilnehmer von Treysa, wie es der neue Name der evangelischen Kirche signalisierte. Auch Hauschíld fragte bei seinem Festvortrag nach der Berechtigung einer gesamtkirchlichen Lösung „wo es ein Deutschland doch  gar nicht mehr gab.“   Es hätte nahegelegen, den Gedanken einer Gesamtvertretung erst einmal zurückzustellen und angesichts der Zersplitterung in vier Besatzungszonen das Augenmerk ganz auf die Interessenvertretung innerhalb der jeweiligen Zonen  gegenüber der betreffenden Macht zu konzentrieren, zumal die  alten Spannungen, die 1936  zur Spaltung der BK und 1943 zum Scheitern des Einigungswerkes von Bischof Wurm  geführt hatten, fortbestanden.

Als Dibelius 1947 gefragt wurde, wie er sich den Neuanfang vorstelle, antwortete er: „Was heißt Neuanfang? Wir haben 1945 da angefangen, wo wir 1933  aufhören mussten“. Eben  diese Rückbesinnung wurde in Treysa noch heftig bestritten, aber 1933  gab es für Dibelius noch „Deutschland“.

Zum 75. Jahrestag  des Treffens in Treysa gab der Münchner Kirchenhistoriker Prof. Harry Oelke dem epd ein Interview und resumierte u.a.  „Es war der Versuch, den Reset-Knopf zu drücken. Gleichwohl ist dieser Neuanfang bestimmt von Belastungen aus der NS-Zeit. Die Anhaftungen an der Vergangenheit waren noch stark.“ Leider benennt er nicht die „Anhaftungen“. Die unreflektierte Weiterverwendung des Wortes „Deutschland“ an zentraler Stelle  gehört dazu.

Kein Blick für den geistlichen Reichtum aus der nationalsozialistischen Zeit
Weil die Atmosphäre in Treysa vom unfruchtbaren Gegensatz Lutheraner und Bekennende Kirche bestimmt war, blieben zahlreiche segensreiche Einrichtungen und Ereignisse in der NS-Zeit ungenannt und unbedankt. Ich nenne nur einige Beispiele:  Von der Arbeit des Berliner Burckhardthauses, besonders zur Zeit seines Leiters Otto Riethmüller, gingen in die Kirchengemeinden heftige musikalische Impulse aus. Die Liederbücher „Ein neues Lied“ und „Der helle Ton“ waren, begonnen 1932 und weit über 1945 hinaus, ständige Begleiter einer lebendigen Jugendarbeit. Otto Riethmüller bearbeitete alte Hymnen und textete auch neue Lieder. Sieben von ihnen stehen im heutigen Evangelischen Gesangbuch (( EG 69/ 108/ 223/ 243/ 263/ 485/ 602)). Einige Lieder aus dem 1938 erschienenen Gedichtband „Kyrie“ von Jochen Klepper bürgerten sich rasch in der Gemeinde ein, („Er weckt mich alle Morgen“, „Die Nacht ist vorgedrungen“, „Ja ich will euch tragen“).Andere Lieder entstanden später. Das EG enthält insgesamt 12 Liedtexte von ihm. Das Lied von Rudolph Alexander Schröder „Es mag sein, dass alles fällt“, das die Trümmerlandschaft vorwegnimmt und an den vorübergehenden Sieg der Lüge in der Goebbelswelt erinnert, ist 1939  gedichtet, auch sein von Lahusen vertontes Glaubensbekenntnis („Wir glauben Gott im höchsten Thron“), 1937 gedichtet, gehört zu den Liedschätzen aus der Nazizeit. Die Kirchenmusik erlebte eine Hinwendung zum reformatorischen Choral und die Barockmusik eine musikalische Renaissance,  die schon vor 1933 begonnen hatte und in der ns. Zeit fortgeführt wurde. Wer wollte, konnte über Jahre hinweg jeden Sonntag Morgen eine Bachkantate im Reichssender Hamburg hören, die von den Leipziger Thomanern aufgeführt wurde. Noch heute ist im Internet eine Aufführung des Bachschen Magnificat aus dem Jahre 1944 zu hören. Karl Straube und ab 1939 Günter Ramin boten wie auch der Dresdner Kreuzchor unter Rudolf Mauersberger musikalisch wie pädagogisch ein scharfes Kontrastprogramm zu den donnernden Marschrhythmen und den schmalzigen Heimatklängen der Nazis („Heimat, deine S-terne“). Ein literarisches Gegengewicht boten die Veröffentlichungen von Reinhold Schneider („Las  Casas vor  Karl V.“),  Werner Bergengruen („Der Großtyrann und das Gericht“ (1935), „Am Himmel wie auf Erden“ (1940), Gertrud von Le Fort, Hermann Hesse, Ernst Wiechert („Das einfache Leben“) und anderen. Die Nazizeit kannte noch andere Töne als nur Propagandageräusch und Marschmusik. Erst das Nebeneinander von Marsch  und Magnificat, von Riethmüller und Streicher, von Segen und Fluch wirft die Fragen auf, die zu Beginn dieser Arbeit genannt wurden: das Nebeneinander von Christentum und Nationalsozialismus.

Keine  Gespräche mit den Teilnehmern der Kirchlichen Mitte
Da die Versammlung in Treysa von dem unfruchtbaren Gegensatz der Teilnehmer der Bekennenden Kirche und des Luthertums bestimmt war, blieb wenig Zeit zum gegenseitigen Informieren und brüderlichem Austausch. Auch eine Aussprache mit den Anwesenden der kirchlichen Mitte wurde ängstlich vermieden.. Es hätte nahe gelegen, den anwesenden Bischof der Hannoverschen Landeskirche, August Marahrens, zu Worte kommen zu lassen. Er war u.a. von einigen Bischöfen 1939  gebeten worden, den Vorsitz in einem Geistlichen Vertrauensrat zu übernehmen, einem Viermännerkollegium als vorübergehende Zentralstelle gegenüber dem Staat. Es wurde ihm zum stummen Vorwurf gemacht, er sei gegenüber dem NS-Staat viel zu nachgiebig gewesen. Marahrens hätte seine Position der Mitte der Versammlung erklären und verteidigen können. Aber er war in die Schusslinie der Besatzungsmächte und der Ökumene geraten. Er sollte gar nicht reden, sondern zurücktreten. Er trat aber nicht zurück, sondern blieb bis zur ersten Hannoverschen Landesynode 1947 Bischof, zumal sich die Hannoversche Pfarrerschaft wie eine feurige Mauer um ihren Bischof scharte. In Treysa war er dagegen zum Schaden der Breite der Aussprache völlig kalt gestellt.

Einen anderen wichtigen Mann der kirchlichen Mitte hatte Bischof Wurm als Gast mitgebracht: August Hinderer, den Verantwortlichen für die bis 1945 herausgegebene Zeitung Evangelisches Deutschland. Hinderer sollte nicht zu dem Kreis derer gehören, der über den weiteren Weg der neuen Evangelischen Kirche in Deutschland beraten sollte. Hinderers Kurs der kirchlichen Mitte, über den die kirchengeschichtliche Forschung nun seit vielen Jahrzehnten schweigt und zu zahlreichen einseitigen und schiefen Ansichten und Eindrücken kommt, wurde mit Nichtachtung gestraft. In einem Brief bald nach der Tagung in Treysa an Otto Michaelis vom 25.10.1945 nannte Hinderer die Tagung einen „Tag der Machtergreifung in Treysa“. Hinderer fällte ein vernichtendes Urteil über den Umgangston und die Absichten der dortigen „Kirchenführer“: „auch die liebe Kirche... liegt seit dem „Tag der Machtergreifung“ in Treysa – die Parallele drängt sich dem nüchternen Beobachter geradezu zwingend auf – in Gründungsphantasien und –fiebern aller Art und möchte am liebsten alles selbst machen“.  Einen ganz speziellen und peinlichen Vergleich benutzte Hinderer für die Situation des Evangelischen Pressedienstes (epd) in Berlin, wo er ja eigentlich trotz Ausbombardierung seit Jahrzehnten zu Hause und für die Kirche höchst  produktiv war: „In Berlin ist die Lage, was den EPD betrifft, offenbar am kürzesten mit dem Stichwort „Jäger redivivus“ bezeichnet, nur dass es diesmal die kirchlichen „Oberen“ sind, von denen der Stoß ausgeht und damit Abwechslung sei, die von der BK!“ Jäger war jener berüchtigte Staatssekretär, der 1934 die Landeskirchen brutal dem Reichsbischof Müller unterordnen wollte und damit in Württemberg und Bayern gescheitert war. Hinderer spürte bei den Tagungsteilnehmern in Treysa, dass seine Arbeit im EPD für das Evangelium und für die evangelische Kirche nicht verstanden, geschweige denn gewürdigt wurde. Die Versuchung, eine eigene Öffentlichkeitsarbeit in der eigenen Regie der Kirchenleitungen zu installieren, war für die dortigen „Kirchenführer“ zu verlockend. Sie ließen Hinderer links liegen und sorgten damit, dass von ihm historisch keine nennenswerte Notiz genommen wurde. Wenn überhaupt, dann so, wie der Tagungsteilnehmer Bischof Otto Dibelius im Rückblick formulierte: „Als die Nazis kamen und es mit der Freiheit vorbei war, war es auch mit der evangelischen Pressearbeit vorbei. Hinderer versuchte zu lavieren, zu überwintern. Darüber wurden die Blätter immer farbloser, immer langweiliger. Schließlich machte Josef Goebbels allem ein Ende.“ Dibelius bezeugt, wie er einen Aufbau des epd nach 1945 in Berlin durch Desinteresse und völlig verdrehte Optik des epd zur Zeit des Nationalsozialismus in beschämender Weise verhindert hat. Dass Goebbels der Pressearbeit ein Ende bereitet hat, traf für das „Evangelische Deutschland“ gerade nicht zu. Das von Otto Dibelius verbreitete Urteil ist gänzlich falsch, um nicht zu sagen gehässig. Aber es bestimmte die Nachkriegszeit für Jahrzehnte. Wenige Monate nach der Kirchenkonferenz in Treysa erlitt Hinderer bei einem Essen einen Gehirnschlag, starb am nächsten Tag und wurde am 30. Oktober 1945 begraben.

Bezeichnend für  die kirchengeschichtliche Forschung der Nachkriegszeit war es, dass der Nachfolger Hinderers in der Leitung des epd, Focko Lüpsen, behauptete, es habe seit 1937 keinen epd mehr gegeben. Er sei von den Nazis verboten worden. Dieser klassische Fall der Verdrängung bis hin zur Tatsachenfälschung, wurde von Volker Lilienthal aufgedeckt.  Er erklärt u.a., warum bis heute  die kirchliche Mitte kein Gegenstand der kirchengeschichtlichen Forschung ist.

Kein Blick für die Kirchengemeinden
Die „Kirchenführer“ in der Kirchenversammlung brachten es nicht fertig, ein von ihnen formuliertes, schlichtes Wort an ihre Kirchengemeinden zu verabschieden. Fällig wäre ein Dank an die Pfarrfrauen gewesen, deren Männer eingezogen waren, sowie an die vielen nichtordinierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die während des Krieges sich in den Gemeinden engagiert hatten. Es gab in den  meisten Kirchengemeinden drei aktuelle Probleme: den Umgang mit den Nazis, die Flüchtlinge und die  infolge der Wohnraumbewirtschaftung überfüllten Pfarrhäuser.

Wie sollte man den schwer nazi-infizierten Gemeindemitgliedern begegnen? Bischof Dibelius hatte geraten, kein Scherbengericht anzurichten, sondern sie allmählich im die Gemeindearbeit zu integrieren und eine innere  neue Einstellung zu Staat und Kirche vorauszusetzen. Das förderte die sich verbreiternde Ansicht: „Schwamm drüber“, „wir sollten nach vorne sehen“. Das beengte Miteinander mit den Flüchtlingen schuf viele Probleme. Wann würden sie endlich wieder gehen? fragten die Einheimischen. „Wie eng müssen wir in den Pfarrhäusern zusammenrücken?“ Gibt es irgendwo noch eine Ecke, wo der Pfarrer ungestört seine Predigt vorbereiten kann? Aus welchem Gesangbuch sollte man am Sonntag im Gottesdienst singen? Die Flüchtlinge hatten ihre aus der Heimat mitgebracht. Der Alltag in den Kirchengemeinden kam in Treysa nicht vor.

Die Mitglieder der Bekennenden Kirche hatten einen Entwurf für ein Wort an die Gemeinden mitgebracht. Es stammte von der Berliner BK, das die Spandauer Synode im Juli beschlossen hatte. Bei der Tagung  des Reichsbruderrates in Frankfurt Anfang August hatte man dieses Wort überarbeitet und die Optik der Bekennenden Kirche abgeschliffen. Aber was für Berlin wichtig war, passte nicht zu den Kirchengemeinden in Oberbayern und der Lüneburger Heide. Mit wenigen Änderungen übernahm die Versammlung in Treysa zwar den Text als ihr Wort an die Gemeinden. Sein Wortlaut erreichte aber nicht alle Kirchengemeinden in den  Besatzungszonen. In den Württemberger Gemeinden wurde das Wort im Gottesdienst verlesen, in den Gemeinden Bayerns nicht.

Wie wenig basisnah die Kirchenversammlung in Treysa war, verdeutlicht folgende kleine Begebenheit. Auf dem Gelände der Hephata-Anstalt befand sich auch ein als Lazarett eingerichtetes Gebäude, in dem deutsche verwundete Soldaten behandelt wurden. Lediglich Frau Niemöller kam auf die Idee, diesen Patienten einen Besuch abzustatten und sich ihre Klagen über die miese Behandlung durch die dortigen Schwestern anzuhören. Die gehfähigen Patienten hatten an den Gottesdiensten der Versammlung in der Anstaltskapelle teilgenommen. Wie weit die Predigten auch auf  ihre bedrückende Lage eingingen, ist den von Söhlmann überlieferten Predigten nicht zu entnehmen.

Wenig basisnah waren auch die in Treysa gehaltenen Vorträge. Zwei von ihnen beschäftigten sich mit der Schulsituation. Allerdings waren die Schulen geschlossen und viele Lehrer noch nicht zu Hause oder mit Ausnahmen noch sehr stark von den zurückliegenden zwölf Jahren infiziert. Die Vorträge beschäftigten sich mit einer  künftigen Schulform, ob evangelische Schule oder christliche Schule oder weltliche Schule. Das waren Themen aus der Weimarer Zeit. Nach einer Aussprache kam man überein, dass für den Unterricht die Einstellung der Lehrerschaft entscheidend sei. In einem Beschluss heißt es allerdings als erstes: „Für die Neuordnung des Schulwesens fordern wir die christliche Schule.“ Das ging an der Schulsituation im Sommer 1945 völlig vorbei.

Die Abwesenheit irgendeiner theologischen Überlegung und fälliger Kehrtwendung
Auffällig ist bei der Kirchenversammlung von Treysa die Abwesenheit irgendeiner theologischen Überlegung zur Lage, etwa über das grausame Missverständnis von Röm. 13, mit dem die Bischöfe ihre Pfarrerschaft und Gemeinden in die  nazistische Gefolgschaft geführt hatten. So eine Besinnung hätte nahe gelegen, zumal im Freiburger Kreis, einem Treffen nazikritischer Professoren und Theologen, zu dem auch der Tagungsteilnehmer Otto Dibelius gehört hatte, schon weit vor 1945 monatelang über das Gehorsamsgebot gegenüber der Obrigkeit diskutiert worden war. Aktuell lag die Frage nahe, ob die „Besatzer im Westen und Osten“ nun unter Röm. 13 fielen. Ein Referat über das Verständnis von Röm. 13 hätte der Aussprache gut getan und aus der engen Klammer BK gegen Luthertum herausgeführt. Es hätte vielleicht auch zu einer Spur von Selbstkritik geführt, was der Glaubwürdigkeit der Aussprache gut getan hätte.

Eine weitere offene Wunde war die unausgesprochene Unterwerfung des Taufsakramentes unter den indiskutablen Rassebegriff des Nationalsozialismus. Die Kirche folgte den Nürnberger „Gesetzen“ und tolerierte die groteske Einteilung in Voll,- Halb- und Vierteljude. Sie stellte den Sippenämtern der Nazis

zur Feststellung jener unhaltbaren Kategorisierung die Benutzung der Kirchenbücher zur Verfügung. Durch die Taufe war jedoch jeder Getaufte nicht mehr „Fremdling“, sondern „Gottes Hausgenosse“, so Paulus im Epheserbrief.

Dagegen wurde eine höchst problematische theologiegeschichtliche Herkunftsspur für die Entstehung des Nationalsozialismus weitergereicht.. Nationalsozialismus galt als „Abfall von Gott“, als ein Höhepunkt kirchenfeindlicher Säkularisation. Wurm referierte ihn in seinem  Einleitungsreferat: „Wir müssen unserm Volk sagen: Seit anderthalb Jahrhunderten schon schämt man sich in Deutschland des Evangeliums, hat der Abfall von Christentum immer weiter um sich gegriffen. Von den napoleonischen Kriegen an  bis zum ersten Weltkrieg war uns ein ganzes Jahrhundert stetigen Fortschritts und Aufstiegs geschenkt. Aber gerade in dieser Zeit wurde der Glaube an den Menschen und seine Größe verherrlicht.“. Dieser Abfall, der im Nationalsozialismus einen Höhepunkt erreicht habe, habe bereits in der Aufklärung begonnen. Wurm übersah, dass die Aufklärung auch die berechtigte Abwehr einer versteinerten, unzeitgemäßen Orthodoxie gewesen war. Den Nationalsozialismus als Abfall von Gott auf die Aufklärung zurückzuführen bedeutete eine interessante, zugleich verräterische Parallele zum Kampf der Nazis gegen Liberalismus und Demokratie.

Das Ergebnis der Zusammenkunft
Die Teilnehmer  von Treysa verabschiedeten eine „Vorläufige Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland.“ Die EKD sei „in Abwehr der Irrlehren der Zeit und im Kampf gegen eine staatskirchlichen Zentralismus zu einer kirchliche gegründeten inneren Einheit geführt worden“, heißt es in der Einleitung. Die Notwendigkeit eines einheitlichen Bildes der evangelischen Kirche 1945 hatten die ausländischen Gäste in ihren Grußworten ziemlich dringend angemahnt. Tatsächlich war während der Tagung von einer inneren Einheit nichts zu spüren, stattdessen von einer drastischen Unversöhnlichkeit im Plenum und hinter verschlossenen Türen bis hin zur Abreise einiger eingeladenen Teilnehmer. Diese Zerrissenheit wurde nach Abschluss der Tagung keineswegs übertüncht, sondern in privaten Aufzeichnungen unverhohlen weiter gegeben. Die während der Versammlung geschlossenen Entschlüsse wurden nun keineswegs „einheitlich“ vertreten, sondern teilweise uminterpretiert oder gar nicht umgesetzt.

Die Behauptung einer „inneren Einheit“ war vielleicht ein verbales Eingeständnis gegenüber den Gästen aus der Schweiz und den USA, aber es entsprach in keiner Weise der Atmosphäre und dem Gehalt der Tagung in Treysa. Es war die blanke Unwahrheit.

Im 2. Teil der Vorläufigen Ordnung wurde die Frage der juristischen Anknüpfung einer solchen neuen Kirchenordnung behandelt, und es wurden drei Möglichkeiten verworfen: als erste selbstverständlich eine Anknüpfung an die Verfassung von 1933. Die Ämter dieser Verfassung seien „unheilbar diskreditiert“.

Keiner verlor ein Wort darüber, dass die herausragenden Teilnehmer von Treysa, Bischof Wurm und Bischof Meiser diese Verfassung von 1933 mit unterzeichnet hatten. Auch eine Anknüpfung an die 1934 in Dahlem beschlossene „Notordnung“ der BK 1934 sei nicht möglich, nicht weil sich die Beschlüsse von Dahlem auf landeskirchlicher Ebene als nicht umsetzbar erwiesen hatten, sondern weil  die Mitglieder der BK „mit den im Amt befindlichen Kirchenleitungen“ bereits 1945 eine „wachsende Gemeinschaft“ gebildet hatten, nämlich in der rheinischen und westfälischen Kirchenleitung. Interessant ist, dass auch eine Anknüpfung an die Kirchenverfassung von 1922 in Wittenberg ausgeschlossen wurde. Die Kirchenverfassung von 1922 beruhte auf  einem fein austarierten Verhältnis von zentraler und föderaler Struktur der Kirche, die natürlich nicht zu imitieren war. Aber eine Würdigung und eine sichtliche Annäherung zu ihren Prinzipien des Gleichgewichts von zentraler und föderaler Struktur hätten der neuen Ordnung der EKD ein demokratisches Gesicht verliehen.

Im 3. Teil wurden die 12 Namen des vorläufigen neu gebildeten Rates der EKD genannt, wiederum begründet durch eine „wachsende Gemeinsamkeit“, die auf dem Papier stand. Für die Kirchengemeinden hatte diese Konstruktion kaum spürbare Bedeutung. Sie hatte auch keine Abstützung durch eine von den Kirchengemeinden zu wählende Synode. Sie wurden auch nicht informiert. Die Kirchenführer hatten in alter konsistorialer Manier eine neue Kirchenspitze unter sich geregelt.

Neben dieser Bildung des Rates der EKD bestand das gefühlte Ergebnis der Zusammenkunft in Treysa vorrangig in der gegenseitigen Bestätigung und in dem „weiter so“ der bisherigen Kirchenleitungen in Württemberg, Bayern und Hannover sowie der Anerkennung  der neu installierten Kirchenleitungen in Berlin, im Rheinland und Westfalen.

Es wurde außerdem ein Evangelisches Hilfswerk gegründet und  Eugen Gerstenmeier zu dessen Leitung  gewählt.

Die Bekennende Kirche setzte ihre geplante kirchenleitende Funktion nicht durch. Die „Sachzwänge“ der traditionellen Kirchenverwaltung gewannen die Oberhand.

Die großen Arbeitsbereiche der Kirchlichen Mitte wurden in Treysa missachtet. Dafür erlebte sie einen stillen Triumph. Nach der Rückkehr der Kirchenführer in ihre Landeskirchenämter ließen sie alle schönen Visionen von einem bruderrätlichen Aufbau ihrer Landeskirche fallen und bedienten sich der in der Verwaltung verbliebenen Büromitglieder der kirchlichen Mitte, um überhaupt den organisatorischen Ablauf der Behörde zu sichern und die Gehälter ihrer Pfarrer zu sichern.



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