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[Kirche von Unten]

Hans Wilhelm Jürgens

Die Geschichte eines vergessenen Oberlandeskirchenrates

Eine Erzählung


von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf hier)




Die Erzählung


Herkunft und Ausbildung von Hans Wilhelm Jürgens
Hans Wilhelm Jürgens hatte weitreichende Beziehungen zur Braunschweiger Region. Seine Vorfahren besaßen zwischen Hildesheim und Braunschweig Bauernhöfe. Sein Großvater väterlicherseits zog in die Stadt Braunschweig und wurde dort Bankherr. Dessen drei Söhne besuchten das Gymnasium Martinokatharineum. Der Älteste wurde Jurist, Justizrat und langjähriger Präsident der Braunschweiger Anwaltskammer, der jüngste Sohn wurde Fernhändler und Industrieller im Nahen Osten und in Zentralasien, in Afghanistan in den Adelsstand erhoben und dessen Sohn Curd Jürgens ein in Westdeutschland beliebter Filmschauspieler. Der zweite Sohn war der Vater von Hans Wilhelm Jürgens. Er ging Ende des 19. Jahrhunderts nach Hamburg, heiratete dort die Tochter eines Industrieunternehmers und verwaltete eines seiner Industriewerke. (Brief August 1982)
Hans Wilhelm Jürgens war also Hamburger und fühlte sich wohl auch so: „in Hamburg geboren, in Hamburg zur Schule gegangen, in Hamburg Abitur gemacht,“ schreibt er. Nach dem Abitur im Februar 1918 zog er als königlich-sächsischer Fahnenjunker im Feldartillerieregiment 78 mit 17 Jahren in den Krieg, der für ihn im selben Jahr wieder zu Ende war. Er studierte in Freiburg, München, Hamburg und Kiel Jura. In Freiburg trat er in die nicht schlagende und nicht Farben tragender Studentenverbindung Zaringia ein, der er bis ins hohe Alter als „Alter Herr“ angehörte und zum 100jährigen Jubiläum seine Erinnerungen aufschrieb. (Brief August 1982) Hans Wilhelm Jürgens wurde nach dem Studium in Hamburg zum Assessorexamen aus Zuständigkeitsgründen nicht zugelassen. Er wohnte in Blankenese, und dieser Ortsteil gehörte damals noch nicht zum Hamburger Staatsgebiet. Zuständig für einen Blankeneser seien die Länder seiner Vorfahren, welche es unterlassen hatten, die Hamburger Staatsangehörigkeit zu erwerben. Zuständig sei also das Land der Welfen, Hannover oder Braunschweig, wurde ihm bedeutet. Jürgens entschied sich für das Land Braunschweig, absolvierte seine Referendarzeit 1922 in Braunschweig, seine Assessorenzeit u.a. in Blankenburg und ging für Privatstudien einige Monat nach Paris, wo er seine Französischkenntnisse erweitern konnte.


Dienstantritt im Landeskirchenamt in Wolfenbüttel
Als bekannt wurde, dass Jürgens neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt eine Stelle als Syndikus im Landeskirchenamt antreten würde, rieten ihm seine Bekannten im Juristenkreise ab. „Mit dem Torquemada kann man doch nicht zusammenarbeiten“, meinten sie. Torquemada, der Name des spanischen Großinquisitors, war bei ihnen der Spitzname für Dr. Reinhold Breust (Jahrgang 1893) wegen seines mürrischen, finsteren, unfreundlichen Gesichtsausdruckes, den er bis ins Pensionsalter beibehalten sollte. Breust war 1923 im Alter von 32 Jahren im Landeskirchenamt im Rang eines Oberkirchenrates als erster Jurist eingestellt worden. Breust war kein unbeschriebenes Blatt. Er agitierte landauf landab gegen pazifistische Strömungen. Er machte auf seine Gesprächspartner nicht den Eindruck einer einladenden, dialogbereiten, den Kompromiss suchenden Kirche, sondern suchte im Konfliktfall mit einer aufbrausenden, aggressiven Rhetorik sein Gegenüber zu überwältigen.
Jürgens entschied sich mit 26 Jahren trotzdem neben einer Anwaltspraxis in Wolfenbüttel und später auch in Braunschweig zugleich für den Posten im Landeskirchenamt. „Ich lernte nun Breust kennen und schätzen. Seine hohe Intelligenz war leider beengt durch einen gewissen Starrsinn. Er sah Feinde, die keine waren, er fürchtete Gefahren, die überspitzt waren, er neigte zu Extremen, kurz: er war ein Sonderling.“ (Brief 16.7.82)
So begann also Hans Wilhelm Jürgens am 1. Mai 1926 seine Tätigkeit im Landeskirchenamt, das damals am Schlossplatz Nr. 1 und 2 lag. Dort arbeiteten außer dem Landesbischof Alexander Bernewitz als hauptamtlicher theologischer Oberkirchenrat und Stellvertreter des Landesbischofs Pfarrer Georg Meyer (Jahrgang 1867). Oberkirchenrat im Nebenamt war August Heydenreich. Heydenreich blieb Gemeindepfarrer in Bündheim. Er war so alt wie OKR Meyer. Außerdem arbeitete im Landeskirchenamt am Schlossplatz neben Breust auch Friedrich Lambrecht (Jahrgang 1898), der für das Haushaltswesen zuständig wurde. Die drei Juristen waren zwischen 26 und 33 Jahren alt, also eine junge Mitarbeiterschaft.
Im Rückblick betont Jürgens das kommunikative Arbeitsklima in der Behörde. „Wir verstanden uns alle gut: der thronende Bernewitz, der kluge und liebenswürdige OKR Meyer, der vielleicht nur von den theolog. Kandidaten etwas gefürchtet wurde, der treue Lambrecht und der Sonderling Breust. Wir waren ein buntes Gemisch mit vielen Gegensätzlichkeiten. Aber gerade daran fand ich Gefallen.“ (Brief vom 16.07.1982)


Der erfolgreiche Syndikus und Rechtsanwalt in Wolfenbüttel
Ein Neuling aus Hamburg in der Kleinstadt bedeutete auch einen Konkurrenten, der womöglich den bisherigen Anwälten fette Aufträge wegschnappte, zumal der junge Konkurrent als Syndikus im Landeskirchenamt eine aussichtsreiche Startmöglichkeit hatte.

Er wohnte als Junggeselle im Neuen Weg 17 zusammen mit vier anderen Mietsparteien. Seine vermögenden Eltern kauften ihm ein Auto, mit dem er Dienstreisen in die von juristischen Auseinandersetzungen betroffenen Kirchengemeinden machte.
Jürgens hatte sich bald eingearbeitet. Zwei Jahre später wurde er förmlich Stellvertreter der juristischen Mitglieder des Landeskirchenamtes „im Bedarfsfall und während der Urlaubs“.

Vorwiegend bearbeitete Jürgens die juristischen Streitigkeiten über die Rechte der Landeskirche an den sog. „Opfereien“, die vor 1918 zu den Schulen gehörten. Ein Dorflehrer war zugleich „Opfermann“, d.h. Küster und Organist. Dafür bekam er ein kleines Entgelt. Diese Zeit einer jahrhundertealten Einheit von Schule und Kirche war 1918 beendet, und die damalige rechts-sozialistische und bürgerlich-liberaldemokratische Koalitionsregierung einigte sich mit dem Landeskonsistorium im Dezember 1919 auf eine totale, strikte Trennung. Die Weimarer Reichsverfassung vom August 1919 hatte jedoch der Kirche einen finanziellen Anteil an dem Opfereivermögen zugesprochen. Der junge Jurist im Landeskirchenamt Dr. Breust zweifelte daher die Rechtsgültigkeit des Trennungsvertrages von Dezember 1919 an und forderte von der Landesregierung Entschädigungen. Er vermutete einen Gewinn von 80% des Opfereivermögens. Die Braunschweigische Regierung jedoch verweigerte eine weitere Zahlung und forderte von jeder Kirchengemeinde jeweils ein Gerichtsurteil ein. Das veranlasste das Landeskirchenamt zu sehr vielen Prozessen, die die beiden Juristen Dr. Breust und Dr. Lambrecht im Landeskirchenamt zeitlich weit überforderte. Zu ihrer Mithilfe war Dr. Jürgens als Syndikus eingestellt worden.
Jürgens reizte die Mischung von kirchengeschichtlichem und juristischem Stoff und verarbeitete die für ihn neue Materie in einer Arbeit von 30 Seiten unter dem Titel „Die rechtlichen Beziehungen zwischen den Landgemeindeschulen und Opfereien im Lande Braunschweig - Eine rechtshistorische Untersuchung“. Jürgens entwickelte sich zum Spezialisten auf dieser Rechtsgebiet, dessen Rat noch 1951 von Breust gesucht wurde.

Jürgens vertrat die Landeskirche als Syndikus bei Streitigkeiten mit der Regierung wegen fälliger Zahlungen für Mitarbeiter am Braunschweiger Dom und in strittigen Grundstücksangelegenheiten. So hatte die Kirchengemeinde Bienrode eine große Fläche zu verkaufen, welche die Stadt Braunschweig als Exerzierplatz benötigte und vom zuständigen Mitarbeiter im Landeskirchenamt, Rentmeister Karl Hamer (geb.1883) auf 237.000 RM geschätzt worden war. Die Stadt wollte diese hohe Summe nicht bezahlen und wurde daraufhin 1928 verklagt. Das Gericht verurteilte die Stadt zur Zahlung der vollen Summe. „Es war mein erster großer Sieg als junger Anwalt“, erinnert sich Jürgens noch im hohen Alter (August 1982).
Jürgens lobt Hamer im Rückblick als „sehr korrekt, fleißig, und sachlich." „Ich habe manche Besichtigung von Ländereien mit ihm mitgemacht, viel von ihm über Bodenqualität, Düngung, Erosion, Kiesgewinnung, Vermessung usw gelernt. Über die NSDAP hat H. mit mir nie gesprochen, Wenn alle Nazis so ruhig und vernünftig gewesen wären wie Hamer, hätte man auch zur NSDAP eine freundlichere Stellung eingenommen. Ob die Bodenschätzungen und Bewertungen von H. immer richtig waren, kann ich nicht beurteilen. Ich hatte aber nie gehört, daß seine Gutachten anfechtbar gewesen seien.“ (Brief August 1982) Diese Personenbeschreibung unterscheidet sich krass von der von OLKR Dr. Breust nach 1945, der Hamer zum Hauptschuldigen von kirchlichen Grundstücksverkäufen abstempelte. Hamer konnte sich nicht mehr wehren, er verstarb 1948.

Zur Unterstützung von Jürgens wurde 1927 als weiterer Mitarbeiter im Landeskirchenamt Dr. rer. pol. Wilhelm Timmermann eiugestellt, den Dr. Breust vorgeschlagen hatte. Timmermann, Jahrgang 1902, stammte nach eigenen Familienforschungen aus dem bäuerlichen Umfeld der Stadt Hamburg. Sein Vater war der 3. Sohn eines Kleinbauern in Rissen, der in die Stadt gezogen war und in Hamburger Laternenbetrieben arbeitete. Sein Sohn Wilhelm absolvierte ein Abendabitur und finanzierte durch Nebenerwerb mühsam selbst sein Studium an den Universitäten in Berlin und Hamburg.. Im Januar 1926 promovierte er über das Thema „Die Blankeneser Schifffahrt und ihr Niedergang“. Timmermann arbeitete in verschiedenen Anwaltsbüros und bewarb sich Anfang 1927 um eine Stelle im Kommunalbereich. Da wurde Dr. Breust auf ihn aufmerksam. Timmermann, 25 jährig, wurde idealistischer Anhänger der Nazipartei und erhoffte sich vom Nationalsozialismus eine Aufhebung der sozialen Klassengegensätze. Es war die Zeit, in der auch Bischof Bernewitz in den Amtskonferenzen für eine Öffnung der Pfarrerschaft zum Nationalsozialismus warb. Timmermann wurde der offizielle Vertreter von Jürgens. „Er vertrat mich im Anwaltsbüro und auf Kreiskirchentagssitzungen, auch bei Sitzungen des LKA. Ich weiß, daß er mir zahlreiche Berichte gab für alle Vertretungshandlungen bei meiner Ortsabwesenheit. Es handelte sich ja nicht nur um Urlaubstage, sondern um seine Aushilfe, wenn ich für die Kirche vor außerbraunschweigischen Gerichten tätig werden mußte.“ (Brief August 1982).

Für Jürgens Aufgaben waren weite Strecken zurückzulegen und es war ein Glücksfall für die Landeskirche, dass sich der junge Jurist mit einem eigenen Auto durch die Landeskirche bewegen konnte.
Hans Wilhelm Jürgens erkundete auf seinen Fahrten zu den Kirchengemeinden die Dorflandschaft, so auch Alvesse. Tonangebend war im Dorf Alvesse das am Dorfrand gelegene Rittergut Brendecke, das damals 158 ha bewirtschaftete. Mit 56 Hektar besaß der Landwirt Roloff unter den anderen Landwirten des Dorfes den zweitgrößten Hof, der mitten im Dorf gegenüber der Kirche liegt. Hans Wilhelm Jürgens lernte Roloffs Tochter Ilse kennen. Sie heirateten im Februar 1929. Die Trauung fand standesgemäß im Braunschweiger Dom statt Die Trauung hielt der in der Gemeinde beliebte und inzwischen betagte frühere Pfarrer von Alvesse, Gustav Kalberlah.
Auch führten seine Besuche in den Kirchengemeinden zu guten Bekanntschaften mit einigen Ortspfarrern, an die er sich im hohen Alter noch erinnerte. So die Pfarrer Wilhelm Kiel, Blankenburg, später Braunlage und Albert Querfurth, Walkenried.



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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Juergens/, Stand: März 2022, dk