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[Kirche von Unten]

Hans Wilhelm Jürgens

Die Geschichte eines vergessenen Oberlandeskirchenrates

Eine Erzählung


von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf hier)




Die Erzählung


Das Jahr 1933
Das Jahr 1933 vermittelte eine Art kirchliche Aufbruchsstimmung. Hitler hatte in seiner ersten Grundsatzrede am 1. Februar 1933 im Radío die Vision eines nationalsozialistisch-christlichen Deutschland verkündet. Die Wolfenbüttler Zeitung brachte am 2. Februar auf S. 1 die Rede Hitlers „An das deutsche Volk“, in der er eine Zusammenarbeit mit den Kirchen beim Aufbau eines christlich-nationalsozialistischen Deutschland proklamierte.
Johannes Besser, Pfarrer an der Wolfenbüttler Trinitatisgemeinde, schrieb unter dem Jahr 1933 in die dortige Kirchenchronik: „Das kirchliche Leben steht naturnotwendig unter der Wirkung des politischen Geschehens. Nach langen, schweren Kämpfen, nach Opfern und Leiden aller Art ist der Führer der deutschen Erneuerungsbewegung – Adolf Hitler – zum Reichskanzler ernannt worden. Die ev. Kirche begrüßt dieses aufrichtigen Herzens und denkt mit Beschämung daran zurück, wie internationaler Marxismus ungestört die Gottlosigkeit predigen durfte, zur Gotteslästerung aufrufen und erziehen durfte.“ (Kirchenchronik St. Trinitatis S. 118)

Die Rede Hitlers am 1. Februar ließ gerade in Kirchenkreisen aufmerken, und Breust beschloss, Mitglied in der NSDAP zu werden. Das wirkte auch auf weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Landeskirchenamt beispielhaft, so das Dr. Breust später behauptete, dass die gesamte Mitarbeiterschaft der Kirchenbehörde Mitglied der NSDAP geworden seien. Anders Dr. Jürgens. Er trat nicht in die Partei ein, er gehörte formal auch nicht zum festen Mitarbeiterstamm des Landeskirchenamtes.
Bereits zum 1. Januar 1933 hatte Wilhelm Timmermann seine Tätigkeit im Landeskirchenamt beendet, er wurde Bürgermeister der mecklenburgischen Kleinstadt Dömitz. Das bedeutete für Jürgens eine Veränderung in seiner Arbeit, zumal kein Ersatz vorgesehen war.

Im Jahr 1933 änderte sich die öffentliche Atmosphäre in Deutschland, auch in der Kleinstadt Wolfenbüttel. Schon Anfang Februar, wenige Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler überredete Hitler den Reichspräsidenten, die für alle Fälle bereit liegende Verordnung „Zum Schutz des Deutschen Volkes“ zu unterzeichnen. Der Reichstagsbrand Ende Februar 1933 wurde von der Koalitionsregierung Hitler/Hugenberg zum Anlass genommen, den Reichspräsidenten zu veranlassen, „die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung zu unterzeichnen. Sie war dem Sinne nach eine Notverordnung, zum Schutz der Weimarer Verfassung erlassen und nicht zu deren Beseitigung. Hitler dagegen missbrauchte diese beiden Verordnungen, um seine bei den Wahlreisen unermüdlich verkündigte Abschaffung der Demokratie umzusetzen. Die große Gefahr eines Sturzes der Regierung bestand im Februar 1933 nicht, sie wurde vom Landtagspräsidenten Hermann Göring propagandistisch herbeigeredet und verbreitet.
Durch den Missbrauch der Verordnungen verloren die Bürger große Teile ihrer bürgerlichen Rechte. Die Durchführung wurde der im Handumdrehen gegründeten Hilfspolizei anvertraut, die im ganzen Reich ohne richterliche Anordnungen Verhaftungen durchführte, wilde unkontrollierte Gefängnisse einrichtete, in denen die Verhafteten schwer gefoltert wurden, ohne einen Schutz in Anspruch nehmen zu können.
Die Auswirkungen waren im Deutschen Reich dramatisch spürbar und wurden von der Auslandspresse, die an jedem größeren Bahnhof zu kaufen war, aufgespießt und verbreitet. Als Erzfeinde des neuen Staates wurden Kommunisten, Sozialdemokraten, Demokraten denunziert. Eine schauerliche, angsteinflößende Terrorwelle ging durch das Deutsche Reich.
Sie wirkte sich auch in Wolfenbüttel aus. Eines Tages erschien im Haus von Jürgens ein Trupp von SA-Männern unter dem Kommando des SA-Führers Wilhelm Hannibal. Sie betraten ungebeten die Wohnung, gingen durch die Räume, und Hannibal beanstandete das Fehlen von Hitlerbildern an dem Wänden. Wenn er das nächste Mal käme, hätten welche zu hängen. Sie fleezten sich auf den Möbeln, verlangten Bier, erhielten es und verließen dann wieder die Wohnung. Auf Verdacht war keiner mehr in seinen eigenen vier Wänden sicher. Ein anderes Mal sei ein SA-Trupp in sein Anwaltsbüro gekommen und habe mit gezogener Pistole eine Geldspende und die Herausgabe der Kasse erzwungen. Als er einen Bekannten auf der Straße wie üblich mit Familiennamen begrüßte, wurde er von ihm angebrüllt, er habe ihn mit seinem neuen Titel „Obersturmbannführer“ zu grüßen.
Jürgens notierte mit Entsetzen den Einbruch dieser Entrechtung bei den juristischen Kollegen. Er war Augenzeuge, wie ein Wolfenbüttler Freund, der Amtsgerichtsrat Hans von Nordheim, im seinem Gerichtssaal von einigen SA-Männern festgenommen, vom Richterstuhl gezerrt und mit Gejohle die Lange Herzogstraße entlang bis zum Ziegenmarkt gezerrt und im Gefängnis abgeliefert wurde. (Brief vom 16.7.82)
Im Laufe der Monate wuchsen Bedenken gegen den Nationalsozialismus auch in konservativen Kreisen, zu denen sich Jürgens rechnete. Ministerpräsident Dietrich Klagges machte scharf Front gegen den Stahlhelm, eine im Braunschweigischen weit verbreitete vormilitärische, republikfeindliche Organisation. Der Stahlhelm hatte am 27. März zahlreiche Mitglieder des republikanischen Reichsbanners Schwarz-rot-gold im Braunschweiger AOK Gebäude zu deren Schutz in seine Reihen aufgenommen. Klagges witterte eine Gegenrevolution und ließ zahlreiche Stahlhelmführer im ganzen Land Braunschweig verhaften und einige in die Folterzentrale, die sich die SA in Gebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse Braunschweig eingerichtet hatte, verschleppen. Der Stahlhelm hatte in Wolfenbüttel eine große Anhängerschaft. Der Wolfenbütteler Lehrer und Kantor Werner Schrader war sein Landesführer. Bei einer Aktion wurde in Wolfenbüttel der angesehene Fabrikbesitzer Hans Barnewitz, der am Ende des Neuen Weges eine Konservenfabrik besaß, für einige Zeit verhaftet. Außerdem Ewald Lochte, der Wolfenbüttler Ortsgruppenführer des Stahlhelm, W.Wagner, H. Denius, sowie der Schriftleiter der Stahlhelmzeitung.
Jürgens war entsetzt und meldete sich aus Solidarität beim Stahlhelm als Mitglied an. Die Organisation Stahlhelm wurde Monate später zwar rehabilitiert, aber bald darauf in die SA überführt. Das Ansehen von Jürgens war in Nazikreisen beschädigt.
Am Ende des Jahres 1933 wurde Jürgens geraten, für einige Zeit aus Wolfenbüttel zu verschwinden. Der Kreisleiter der NSDAP hatte, so schilderte es Jürgens im hohen Alter, ohne Angabe von Gründen einen Schutzhaftbefehl gegen Jürgens ausgestellt, der von der Kreisdirektion gegengezeichnet werden musste. Der Kreisdirektor weigerte sich und gab Jürgens einen Wink. Jürgens ging für einige Zeit nach Hamburg. (Brief vom 16.7.82)



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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Juergens/, Stand: März 2022, dk