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[Kirche von Unten]

Hans Wilhelm Jürgens

Die Geschichte eines vergessenen Oberlandeskirchenrates

Eine Erzählung


von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf hier)




Die Erzählung


Der Prozess
Der Prozess begann am Sonnabend, dem 10. März 1934 vor der 2. Großen Strafkammer im Braunschweiger Landgerichtsgebäude. Der Vorsitzende, Landgerichtspräsident Friedrich Lachmund, war der Braunschweiger Öffentlichkeit bestens als Vorsitzender des Sondergerichts bekannt. Im Jahr 1933 gab es allein 104 Verfahren und 54 Prozesse gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, die gegen die Verordnung vom 28.2.33 verstoßen haben sollten, sowie gegen die sog. Heimtückeverordnung, also gegen Bürger, die sich öffentlich aufsässig gegen die neue nationalsozialistische Gesellschaftsordnung gezeigt hatten. Für Lachmund war das Sondergericht „ein Bollwerk für die nationalsozialistische Bewegung“, die in Form von Schnelljustiz vor allem abschreckend wirken sollte. Wie würde Lachmund in diesem prominenten Verfahren vorgehen?
Angeklagt war der 30-jährige Klempnergeselle Karl Kley, der gestanden hatte, mit dem Ortspfarrer eine Rechnung für Reparaturen am Pfarrhaus aufgestellt zu haben, die gar nicht ausgeführt worden waren. Ein offensichtlicher Betrugsfall. Schaden für die Kirchenkasse 83.-- Reichsmark. Eine Bagatelle? Sein Klempnermeister Tümmler war sauer auf den Ortspastor, weil dieser ihm die Ortskirchensteuer von 20.--RM nicht erlassen hatte, auch schon 1932 nicht. Ein Motiv? Da ein Geständnis von Kley vorlag, war dieser Fall für das Gericht juristisch einfach. Anders bei dem anderen Angeklagten. dem 30-jährigen früheren Dorfpastor und späteren Landesbischof Wilhelm Beye, der jede Beteiligung an dem Zustandekommen der Rechnung als Lüge vehement immer wieder abstritt und als glühender Nationalsozialist auf seine übermäßige Parteiarbeit verwies, die die Kirchengemeindearbeit weit in den Hintergrund gestellt hatte.
Der Vertreter der Anklage war Oberstaatsanwalt Paul Rasche. Rasche, Jahrgang 1891, war Braunschweiger, hatte das Wilhelmgymnasium besucht, in München, Berlin und Göttingen Jura studiert und in Celle 1913 ohne Erfolg das Assessorexamen versucht. In der vierjährigen Kriegszeit wurde er dreimal verwundet, zum Leutnant der Reserve befördert und hatte 1919 die Notprüfung in Braunschweig bestanden. Dann zog es ihn als „Zeitfreiwilligen“ in das Freikorps Maerker, und er machte 1922 mit „genügend“ das 2. Staatsexamen. Bei seiner Ernennung vom Amtsgerichtsrat zum Staatsanwalt erhielt er 1931 folgende Beurteilung: „Er ist von schneller Auffassung, schlagfertig auch gegenüber dem Verteidiger und redegewandt.“
Im März 1932 trat er in die NSDAP ein und wurde am 1. Juni 1933 zum Oberstaatsanwalt befördert und die rechte Hand von Justizminister Friedrich Alpers. Die Anklage gegen den ehemaligen, bekannten Landesbischof Beye im März 1934 bot ihm die Möglichkeit, sich über die Landesgrenzen hinweg als Saubermann innerhalb der eigenen Partei „gegen Korruption“ zu profilieren. Er hatte sich mit scharfen Verhören in die Ermittlungen gestürzt, und war dabei auf parteieigenen Widerstand gestoßen, der die Ermittlungen behindert hatte, was ihn ziemlich kränkte. Der Prozess im Landgerichtsgebäude wurde seine große Bühne.

Die Vertreter der Anklage und der Verteidigung hatten allein 15 Zeugen aufgeboten, die allesamt erschienen waren und der Verhandlung folgten: der Klempnermeister Tümmler und seine Ehefrau, die sich um die Finanzfragen m Betrieb kümmerte, und ihre Tochter Johanna, die mit dem Angeklagten Kley kurz vor der Verlobung stand, außerdem der Gemeindevorsteher Buschbohm, der auch Mitglied des Kirchenvorstandes war, der Rechnungsführer, der Kirchendiener, der die Kollekte zählte und zum Pastor brachte, der Vikar, der Beye dienstlich entlasten sollte, als dieser im Sommer 1933 bereits zum Oberkirchenrat gewählt worden und kaum in der Kirchengemeinde anwesend gewesen war. Außerdem der Landjägermeister, ein weiterer Klempnermeister, ein Arzt, zwei weitere Personen, schließlich der Regierungspräsident aus Hildesheim Dr. Muhs und Frau Beye, die Frau des Angeklagten. An diesen Sonnabend war die ganze Dorfprominenz des Dorfes Wenzen, ein Querschnitt der Dorfgesellschaft, im Großen Saal des Braunschweiger Landgerichtsgebäudes versammelt und kam auch zu Worte.


Der Verlauf der Verhandlung
Der Vorsitzende vernahm zunächst den Tischlergesellen Kleye, der einen ehrlichen, sprachlich unbeholfenen Eindruck machte. Der Vorsitzende kam ihm mit Formulierungshilfen weit entgegen. Sein Meister Tümler kümmerte sich nur um die handwerkliche Arbeit, die Finanzen erledigte seine Frau, die Kassenbücher führte die Tochter, die auch die beanstandete Rechnung aufgeschrieben hatte. Die fingierte Rechnung war von Kleye notiert. Aber es befanden sich in der Gesamtsumme auch kleinere Rechnungen für inzwischen aufgelaufene Arbeiten. Das Abbezahlen erfolgte in kleinen Summen durch Frau Pastor: mal 10 RM, mal 20 RM. Unklar war die Reparatur an der Pumpe. Der Geselle konnte sich nicht erinnern, „man arbeitet ja mal hier und mal da, und da kann ich nicht wissen, ob man vor längerer Zeit an der Pumpe etwas repariert hat“. Der hinzugezogene Sachverständige stellte eine Reparatur in Höhe von 90 Pfennigen fest. Der Oberstaatsanwalt bat den Vorsitzeden, den Angeklagten wegen eines Ofenrohres 1.70 lang zu befragen. Die Rechnung stammte vom September 1931 und betrug 12,23 RM und steckte mit anderen Arbeiten in einer Gesamtsumme von 103.-- RM. Pastor Beye zahlte erstmal 20.,-- RM, verbessert aber die Summe in 10.-- RM. Steckte der Angeklagte Beye in Geldnöten, fragte Rasche. Der Vorsitzende bat ihn, sich auf Fragen zu beschränken. Die Vernehmung war nach 40 Minuten beendet.
Nun bat der Vorsitzende den Angeklagten Wilhelm Beye vorzutreten. Der hatte seinen Sonntagsanzug angezogen und am Revers das Parteiabzeichen angeheftet. Jedermann sollte wissen, dass er auch als Angeklagter „voll und ganz“ hinter dem Führer stünde. Beye trat vor und sollte sich zur Frage der nach dem Gottesdienst eingenommenen Kirchenkollekten äußern, weil sich das am schnellsten erledigen ließe, vermerkte der Vorsitzende. Beye jedoch setzte im Bewusstsein bischöflicher Würde zu einer grundsätzlichen Rede an, die der Vorsitzende gleich zu Beginn unterbrach: „Darf ich Sie einmal unterbrechen. Ich sehe eben, dass Sie das Abzeichen tragen, das Hoheitsabzeichen. Das ist nicht erlaubt, wenn man als Angeklagter vor Gericht steht. Darf ich Sie bitten, es einzustecken!“ Das war mehr als eine Redeunterbrechung. Das war eine Demontage des nationalsozialistischen Bewusstseins des Bischofs, der gehorsam das Parteiabzeichen wegsteckte. Beye redete und redete und redete. „Ich habe niemals Beträge aus dem Armenbecken selbst herausgenommen, sondern damit war der Kirchendiener Hartwig beauftragt. Der brachte mir nach dem Gottesdienst die Beträge in die Pfarre und wir haben meist in meinem Arbeitszimmer an meinen Schreibtisch die Kollekten verrechnet. Er zählte sie mir auf den Tisch, und ich trug sie in mein Buch ein“. Es war nicht viel zu zählen. Es kam vor, dass gar nichts aufgekommen war, „andere Sonntage 5 Pfennig, 10 Pfennig, 20 Pfennig, einige Groschen“. An Feiertagen war es mehr, seit dem 5. Februar 1933 hatte Beye die Beträge nicht mehr verbucht, es war Reichstagswahl, Beye musste sich um die Aufstellung der Hilfspolizei im Dorf kümmern. Wenig später hatte sie der Kirchendiener gleich zum Kirchenkassenrechnungsführer Franke gebracht. Beye erwähnt „die Überbelastung, die von Jahr zu Jahr anschwoll, dass nun im vorigen Sommer die Glaubensbewegung Deutscher Christen mich rief, hier in vorderster Front, in vorderster Linie mitzukämpfen, und ich dann auf einmal, ohne recht meine eigenen Angelegenheiten in Wenzen, meine dienstlichen Angelegenheiten, zu dem üblichen Abschluss bringen zu können.“ Beye kam auf den Vikar Elster und die Kirchenbücher zu sprechen. Der Vorsitzende nahm den Themenwechsel auf, und faßte die Ausführungen Beyes kurz zusammen, die Amtsführung sei „eine ziemlich bummelige gewesen“. Hinter den Belegen für die Geburten und Todesfälle habe Beye „oft wochenlang hinterher laufen müssen, weil die Gemeindeglieder vielfach doch zu bummelig waren“, die gar nicht wussten, dass der Pfarrer die Belege zu den Eintragungen benötigte. Beye schwenkte über zum Thema Kollektengelder. Der Vorsitzende war einverstanden. Ihm gehe es um die verspätete Abgabe an den Kirchenkassenrechnungsführer und wo die Gelder inzwischen geblieben waren. „Das Geld hatte ich in einer Blechdose, die stand in meinem Schreibtisch. Da kam das Geld hinein.“ Der Vorsitzende wollte herauskriegen, ob Beye in diese Büchse auch für private Zwecke hineingegriffen habe, was Beye strikt verneinte, aber wenn der Postbote Geld für die Amtsblätter haben wollte, oder für andere dienstliche Zwecke, da wurde auf die Schreibtischbüchse zurückgegriffen. Der Alltag, wie er auch in manchen anderen Dorfgemeinden üblich war, wurde im Gerichtssaal anschaulich. Lachmund, der Vorsitzende, sympathisierte mit dem Kirchenkassenrechnungsführer, der über die verspäteten Abrechnungen stöhnt, und hielt Beye die Kirchenkassenordnung vor. Beye unterbrach dabei den Vorsitzenden: „Verzeihung, Herr Präsident, darf ich darauf hinweisen. Ich muss doch sagen, daß der kirchliche Usus, der mir doch einigermaßen bekannt ist“. Lachmund unterbrach ihn. „Ich muss sagen, dass mir der auch bekannt ist, denn mein Vater war auch Pastor und verschiedene Verwandte sind auch Pastoren“. So ging es im Großen Saal der Braunschweiger Landtages hin und her. Wer in der Schule seinen Kleist gelesen hat, wird an das Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ erinnert. Im Zuhörerraum ließ die Aufmerksamkeit nach. Lachmund unterbrach die Vernehmung. „Ich sehe eben, dass im Zuhörerraum gefrühstückt wird. Ich mache darauf aufmerksam, dass hier keine Stehbierhalle ist. Ich verbitte mir das.“ Pastor Otto Faust, strammer Deutscher Christ, der auch mal in Wenzen amtiert hatte, war aus seiner Gemeinde Geitelde in die Landeshauptstadt gekommen, um seinem bedrängten Bischof beizustehen. Als er sich am Nachmittag ungeniert während der Verhandlung laut mit seinem Nachbarn Pastor Teichmann unterhielt, komplimentierte ihn der Vorsitzende aus dem Gerichtssaal.
Nach fast vier Stunden unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung für ein einstündige Mittagspause und begann die Fortsetzung kurz vor zwei Uhr. Die Verhandlung am Vormittag hatte kein Geständnis des Angeklagten Beye zu Wege gebracht. Beye hatte sich zwar in Widersprüche verwickelt, Lachmund hatte seine Verteidigungsstrategie gerügt, aber Beye hatte nicht gestanden. Am Nachmittag sollten die Zeugen der Anklage Beye zu einem Geständnis zwingen und mehrfach war es auch fast so weit. Der Kriminalsekretär Sonnenberg berichtete vom schuldbewussten Eindruck Beyes nach einer Vernehmung durch Rasche. Die vorgebrachten Tatsachen seien zu erdrückend für den Angeklagten. Ein anderes Mal habe sich Beye nach der Vernehmung an den Oberstaatsanwalt gewandt und ihn gefragt, ob er ihm einen guten Rat geben könne. Rasche berichtete dem Gericht selber: Diese Frage stellte er augenscheinlich unter dem Eindruck „Es ist verloren“. Darauf habe er gesagt: „Herr Landesbischof, ich will mich in Ihre Beziehungen zwischen Ihnen und der Kirche nicht einmischen, aber wenn Sie als Mann den Mann fragen und wenn Sie Hitler und Ihr Vaterland wirklich so lieben, wie Sie es immer gesagt haben, dann handeln Sie nach dem, was Sie Deutschland angetan haben, so wie ein deutscher Mann in einer solchen Situation zu handeln pflegt.“ Auf deutsch: Beye solle sich erschießen. Auch der Ortspolizist, der bei der Vernehmung dabei war, berichtete, dass Beye einen bedrückten Eindruck gemacht habe und ganz dicht vor einem Geständnis gestanden habe.
Aber er gestand nicht.
Ein erstaunliches Gewicht erhielt die Anklage, als der Oberstaatsanwalt am Ende des Tages auf Antrag der Verteidigung, aber auch auf eigenen Wunsch in den Zeugenstand tritt. Dabei berichtete Rasche sehr ausführlich, wie seine Ermittlungen durch die Öffentlichkeit und die Deutschen Christen belästigt und gestört worden seien. Bei der Vernehmung im Pfarrhaus in Wenzen traten zum Beispiel ungebeten zwei Herren im Anzugzivil rauchend in das Zimmer und bedeuteten dem Oberstaatsanwalt: „So geht das hier nicht weiter“. Nach einem Redewechsel verließen diese wieder das Zimmer. Sie waren aus Gandersheim herangereist und der eine entpuppt sich als Mitglied der Kirchenregierung. Rasche wandte sich gegen die verbreitete Behauptung, er agiere unter dem Einfluss des Pfarrernotbundes und seine Ermittlungsmethoden seien einseitig und zu forsch. Der Angeklagte Beye erfuhr nebenbei, dass die Funktionäre der Berliner Kirchenkanzlei sich schroff für ein Verschwinden aus Wolfenbüttel ausgesprochen hatten. „Am besten, wir bringen ihn auf einer kleinen Stelle in der weiträumigen Kirchenkanzlei unter.“ Beye dämmerte, dass er von jener Reichskirchenleitung fallen gelassen worden ist, die ihn vor zwei Monaten im Braunschweiger Dom als Bischof inthronisiert hatten. In vertrautem Gespräch hätten die Anwesenden über die Predigt Beyes gelästert. Das sei ja furchtbar gewesen. Dieser Nachmittag belastete den Ex-Bischof schwer. Die Last wurde erdrückend, als die Verhandlung am Sonntag Vormittag nach der Gottesdienstzeit fortgesetzt wird. Die Glocken des in der unmittelbaren Nachbarschaft gelegenen Domes hattten ausgeläutet, als die Plädoyers der Anklage und der Verteidigung gehalten wurden. Zuerst trug der Oberstaatsanwalt Rasche fast zwei Stunden lang den Antrag der Staatsanwaltschaft vor. „Meine Herren Richter, über die Bedeutung dieses weit über die Grenzen Braunschweigs, ja leider über die Grenzen des Reiches hinaus interessierenden Prozesses brauche ich kein Wort zu verlieren.“
Ausführlich referierte der Oberstaatsanwalt die unordentliche Kirchenkollektenführung. Die Kassenbücher seien nicht ordnungsgemäß geführt, die Blechdose enthielt nur ein und zwei Pfennigstücke, der Angeklagte habe verklausuliert zugestanden, dass er Kollektengelder „in die Tasche“ gesteckt habe. Ja gewiss, der Angeklagte habe sich rastlos für die Bewegung eingesetzt, aber der Braunschweigische Ministerpräsident Klagges sei als Lehrer in Benneckenstein auch unermüdlich für einen sauberen nationalsozialistischen Staat tätig gewesen und habe seine Schulverwaltung in Ordnung gehalten. Das Vorgehen Beyes in Sachen Kollekte sei nach dem Strafgesetzbuch eine Unterschlagung. „Er hat fremde bewegliche Sachen, die ihm anvertraut waren und die er in seinen Besitz hatte, sich rechtswidrig zugeeignet.“ Obwohl die „denkbar größte Unordnung geherrscht habe“. schlug Rasche vor, die Anklage auf Unterschlagung fallen zu lassen, „weil die Schuld des Täters gering ist und die Folgen der Tat unbedeutend seien“. Das kam für die Zuhörer erfreulich überraschend, einer hatte in die Rede des Anklägers dazwischengerufen „Wahlkampf am 5. März“, um auf Beyes Einsatz im Wahlkampf hinzuweisen. Rasche erwiderte: „Um diese Zeit herrschte nach der Machtübernahme durch den Führer schon Ordnung und Ruhe“. Rasche befasste sich nun ausführlich mit dem eigentlichen Anklagepunkt, der gefälschten Rechnung und kam zu den Schluss: Der Angeklagte, der in hundert Versammlungen gegen Korruption gewettert habe, sei selber korrupt geworden, habe selber betrogen und den Groschen für die Armen nicht sorgfältig verwaltet. Der Oberstaatsanwalt beantragte für Beye 5 Monate Gefängnisstrafe, aber die bürgerlichen Ehrenrechte sollten ihm wegen seines Einsatzes für die “Bewegung“ beibehalten werden.
Nun kam die Verteidigung an die Reihe. Die stimmungsmäßige Ausgangslage war denkbar schlecht. Beye hatte eine schlechte Figur abgegeben, sich in Widersprüche verwickelt, die Zeugen waren größtenteils gegen ihn, er befand sich am Rande eines Geständnisses, war aber nicht tapfer genug, den Betrug zuzugeben. Da wirkte der Eingang der Verteidigungsrede von Jürgens wie ein krasser Kontrapunkt. „Trotz der immer wieder erfolgten Unschuldsbezeugungen des Angeklagten, früheren Landesbischofs Beye, hat man ihm zu seinem tiefen Schmerz nicht den Glauben an die Reinheit seiner Sache geschenkt. So muß sich der Angeklagte Beye heute vor Ihnen rechtfertigen Ich zweifle nicht daran, dass ihm diese Rechtfertigung voll und ganz gelingen wird“. Eben noch war von Korruption, Verlogenheit. Gefängnisstrafe die Rede, da wagte der Verteidiger das Wort von der „Reinheit“ der Sache des Angeklagten zu reden. Das erzeugte Aufmerksamkeit. Wie will er das bewerkstelligen? Jürgens reduzierte die Höhe der Kollektengelder auf 3-5 RM, und die fehlenden Eintragungen im ersten Quartal 1933 seien eine Folge des 30. Januar 1933 und der daraus resultierenden arbeitsmäßigen Überlastung. Beye habe dies erkannt und vereinbart, dass die Kollekten unmittelbar an den Kirchenkassenrechnungsführer abgeliefert werden. Durch die Verzögerung der Ablieferung habe die Kirchenkasse keinen Schaden erlitten, sondern umgekehrt der Pfarrer, der öfters privat, z.B. für Porto u.ä. Gelder ausgelegt habe, die die Höhe der Kollekte deutlich übersteige. Das war eine Art innerkirchlicher Verrechnungsvorgang. Da sei irgend ein Schatten einer rechtswidrigen Handlung nicht zu erkennen.
Dem Vorwurf, eine fingierte Rechnung auf die Kirchenkassen abgewälzt zu haben, begegnete Jürgens, indem er das Geständnis des mitangeklagten Kley gründlich auseinandernimmt, die Glaubwürdigkeit des Mitangeklagten schwer erschüttert, und schließlich als Motiv die finanzielle Verlegenheit und Verschuldung des Klempnermeisters und seines Gesellen herausfindet. Was Beye betrifft, komme es entscheidend auf seine Gesinnung an. Er könne sich keiner Schuld bewusst sein. Er lehnte alle gut gemeinten „goldenen Brücken“, sich zu einem Geständnis durchzuringen, wiederholt ab, eben weil er keine goldenen Brücken brauchte. Die Argumentation von Jürgens folgt dem Prinzip der im Nationalsozialismus gerne befolgten sog. „Gesinnungsjustiz.“ Er wandte dieses Prinzip jedoch nicht gegen einen Angeklagten an, sondern zur Verteidigung von Beye.
Ganz unpathetisch, fast mehr nebenbei bat er am Ende des fast zweistündigen Plädoyers, den Angeklagten freizusprechen.
Nach einer verhältnismäßig kurzen Beratung des Gerichts gab der Vorsitzende Lachmund folgendes Urteil bekannt: Der Angeklagte Beye wird freigesprochen und die Kosten seines Verfahrens dem Staat aufgebürdet. Der Beklagte Kley hat 50 RM und die Kosten zu tragen. Im Zuschauerraum brandete Beifall auf. In der folgenden Urteilsbegründung folgte das Gericht jedoch ganz überwiegend den Ausführungen des Oberstaatsanwaltes und betonte, dass der Freispruch nur mangels Beweises erfolge.
Lachmund ließ es nicht bei der Urteilsbegründung bewenden, sondern fügte eine unübliche, geradezu väterliche Ansprache an alle Beteiligten an. Er bat die beiden kirchenpolitischen Richtungen, das Urteil „nicht im Kampf der Meinungen auszuschlachten“. Das Verhalten der Gruppe um Pfarrer Grüner sei „geradezu ungeheuerlich“. „Wenn es etwa einigen Leuten einfallen sollte, auf Grund der Verhandlungen ihr Mütchen an einem der beteiligten Personen, insbesondere dem Angeklagten Kley, zu kühlen, der sei hiervor mit Nachdruck gewarnt.“ Es ist 20.00 Uhr. Der Sonntag Lätare neigte sich dem Ende zu. Wer hatte Anlass, sich zu freuen, wie der Name des Sonntags sagt?

OKR Dr. Breust ging nach dem Urteilsspruch spontan auf Jürgens zu und gratulierte ihm zum Ausgang. Das war nicht wenig, Denn Breust würde in Zukunft der starke Mann in der Behörde sein. Dass Beye zurückkomme, hielt er für ausgeschlossen. Beye selbst nicht. Er kehrte zurück in seine Bischofsvilla im der Adolf Hitlerstraße und blieb die nächsten Monate dort wohnen.
Auch Kleye hatte Grund zur Freude, und sein Verteidiger verzichtete auf weitere Rechtsmittel. Der Oberstaatsanwalt Rasche hingegen nicht. Er verwies auf den erheblichen Widerspruch zwischen der Begründung der Urteils und dem Urteil selbst, und ging tatsächlich in Revision.
Die Umstände des ganzen Verfahrens haben an Jürgens Nerven gezehrt. Er bat die Kirchenregierung, ihn von diesem Auftrag zu entbinden, zumal er eigentlich kein Strafverteidiger sei. Die wünschte jedoch, dass Jürgens die Verteidigung auch in der Revision übernimmt, aber Jürgens war unglücklich. Das spürten die Männer in der Kirchenregierung und entbanden ihn von dem Auftrag unter der Bedingung, davon in der Öffentlichkeit keinen Gebrauch zu machen. Jürgens ging erstmal in Urlaub.
Nicht so sein Nachbar Beye. Der feierte die Geburt seines Kindes und annoncierte in der Wolfenbüttler Zeitung. „Ein Hitlerjunge ist ange-kommen“. Er soll Wilhelm heißen. Unterzeichnet: „Landesbischof Beye.“

Aber Beye sollte nach der Ansicht des Reichsbischofs und seiner Berater aus der Braunschweiger Landeskirche verschwinden. Die Familie Beye zog im Herbst 1934 aus der Bischofsvilla aus. Nachdem Versuche, für Beye eine Arbeit in Berlin zu finden, gescheitert waren, nahm er schließlich ein Angebot des Kirchenvorstandes der Marienkirche in Landsberg a. d. Warthe an. Da aber Oberstaatsanwalt Rasche in Revision ging, konnte Beye sein Pfarramt erst ein Jahr später antreten, nachdem das Reichsgericht die Revision verworfen hatte.



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