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[Kirche von Unten]

Hans Wilhelm Jürgens

Die Geschichte eines vergessenen Oberlandeskirchenrates

Eine Erzählung


von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf hier)




Der Quellenteil

Jürgens Brief vom August 1982

Hamburg, im August 1982

Dr. Jur. Hans-Wilhelm Jürgens
2 Hamburg 55 Blankenese
Babendiekstr. 2
Fernsprecher 86 28 92

Herrn Pastor Dietrich Kuessner
Kirchstr. 3
3333 Büddenstedt

Sehr geehrter Herr Pastor!
Sie stellen mir mit Ihrem Schreiben vom 29.7.82 viele Fragen und meinen, es wäre hilfreich, wenn Sie auch meine persönlichen und beruflichen Daten haben könnten.
Obwohl ich mein persönliches Dasein als sehr unwichtig ansehe, will ich damit beginnen, weil ich vor wenigen Monaten einen ähnlichen Wunsch meiner Studentenverbindung Zaringia in Freiburg/Breisgau erfüllte. Ich sollte als noch schreibfähiger AH der alten Generation zum 100. Geburtstag der Verbindung einen Artikel schreiben und ich schrieb (abgedruckt in den ASZ-Mitteilungen vom Mai 1982):

Hundert Jahre Zaringia
ein fragwürdiger Beitrag von Eurem Jürgens


Liebe Bundesbrüder!

Erwartet nicht von mir, daß ich Euch die hundertjährige Geschichte der Zaringia erzähle, denn ich bin kein Historiker und "Geschichte" ist heute nicht mehr „in“.
lm übrigen sind die Geschichten der Verbindungen alle gleich, ich meine, alle gleich langweilig - vom Standpunkt der heutigen Jugend aus gesehen.
Schließlich könnten die ganz Wißbegierigen meine nicht gehaltene, bierernste und immer noch aktuelle Rede zum 90. Geburtstag der Zaringia nachlesen, abgedruckt im ASZ-Mitteilungsblatt vom Nov. 72.
Viel mehr Interesse erweckt heute die Frage:
Warum bin ich eigentlich Zähringer geworden? denn die Beantwortung dieser Frage wird manche Aufschlüsse über uns geben!
Meine persönliche Antwort sollt Ihr in einer Kurzbiographie hier erfahren:
In Hamburg geboren, in Hamburg zur Schule gegangen, in Hamburg Abitur gemacht, Sohn und auch Enkel eines Hamburger Kaufmannes und Fabrikanten, glaubte ich, ein generationsgefestigter echter Hamburger zu sein, mußte aber erfahren, daß dem nicht so war. Ein Hoher Senat eröffnete mir nämlich, daß ich in Hamburg keine Staatsprüfung ablegen könnte und daher nicht auf den Gedanken verfallen dürfte, in Hamburg meine Zulassung zum Referendar- und Assessor-Examen zu beantragen, denn ich besäße nicht die Staatsangehörigkeit der Freien und Hansestadt und konnte sie zum Zweck der Examenszulassung angesichts der Flut von Bewerbern auch nicht erhalten. - Meine Vorfahren hatten an dieses Papier nie gedacht. Das war mein Schicksal!
„Will man mich aus meiner Vaterstadt vertreiben?" fragte ich. „Keineswegs vertreiben aber dahin weisen, wo Sie hingehören, also ins Land Ihrer Ahnen, ins Land der Welfen" war die Antwort. Da saß ich zwischen zwei Stühlen, denn im Land der Welfen sah es düster aus: In Hannover hatten sich seit 1866 die Preußen breitgemacht und der Herzogsthron von Braunschweig war verwaist. (Erst Ernst August er-angelte sich 1913 die Krone - für 5 Jahre.)
Was sollte ich nun in dem verwaisten Land?
Da lächelte vom fernen Dresden der König Friedrich August freundlich über die sächsische Grenze und hieß mich in seinem Land willkommen, zunächst -denn es war Krieg- als kgl. sächs. Fahnenjunker im Feldartillerieregiment 78. Als solcher rückte ich 1918 ins Feld, aber nur für kurze Zeit, denn der Krieg neigte sich dem Ende zu und damit auch meine militärische Laufbahn. Der König sagte: Macht Euren Dreck alleene, verlieh mir zum Abschied noch schnell eine kleine Medaille und verschwand. Ich stand wieder vor der Tür! Was tun?
Noch im Waffenrock kam ich nach Freiburg und fand hier wackere Männer, die mir die Hand reichten und sagten: „Aus Hamburg vertrieben, in Braunschweig verwaist, in Sachsen verabschiedet, findest Du bei uns endlich Deine wahre Heimat!"
Und wer seid Ihr, fragte ich.
„Nun“, erwiderte man mir, „wir existieren im Großherzogtum Baden als Freiburger Verbindung bereits seit 36 Jahren und gehen nun in die neue Zeit. Einst antwortete unser Präside dem Großherzog bei einem Festkommers auf die Frage nach dem Namen unserer Verbindung:
Unsere Verbindung trägt den Namen
Euer kgl. Hoheit erleuchten Hauses!
Das erleuchte Haus ist nun erloschen, derweil der Zähringername unserer Verbindung die Zeiten überdauern wird!“
So erfuhr ich Näheres: Bei ihrer Gründung 1882 konnte die Zaringia nur in kleinen Kreis wirken, denn es gab damals alles in allem nur 600 Studenten in Freiburg. Aber von diesen scharten sich besonders Tüchtige unter das Banner der Zaringia. Dementsprechend entwickelte sich auch eine Altherrenschaft von besonderem Rang. Die Leistungen dieser Männer zu würdigen, mag von berufener Seite erfolgen.
Ich will hier nur einige freundliche Gesten erwähnen, die mir im Gedächtnis geblieben sind: Da ließ z.B. unser AH Hildebrandt zum Stiftungsfest und zu anderen Gelegenheiten seine Pralinenpackungen eigener Fertigung aus seinem Berliner Werk anrollen, de bescherte uns Lindemann Porzellanschalen, goldbelegt mit eingebranntem Zähringer-Wappen in leuchtenden Verbindungsfarben aus seiner Porzellanfabrik Fürstenberg-Weser, da überraschte uns AH Blumenstock aus Shanghai mit einer großen Kapitelspende zum Bau einer Skihütte mit den Hinweis, daß er als Leibarzt eines Mandarine des Glück gehabt hatte, seinen „Patienten" bei bester Gesundheit zu erhalten. In China kassierte der Arzt kräftig für die Gesunderhaltung des Patienten und ging leer aus, wenn dieser erkrankte. -
Wir hatten guten Grund, auf des Wohl des Mandarin zu trinken!
Daneben fehlte es nicht an geistigen Anregungen aller Art, vor allem auf philosophischem Gebiet. Walter Hueck gab seine Philosophie des Sowohl-als-auch heraus und später seine „Polarität der Wahrheit“ und ein Dutzend weiterer Werke, Otto Mock seine Nordische und tropische Welt und den weißen Kobold, H. H. Liebau seinen Ikarusflug und unser eindrucksvolles Nachkriegsjahr 1919/20 wurde in dem 1000-Seiten-Roman „Ein Dilettant des Lebens" monumental gestaltet.
Ja, das waren noch Zeiten!
In einer Epoche, in der Spenglers Untergang des Abendlandes die Gemüter bewegte, in einer Zeit voller Sorgen, Bedrückung und sogar des Hungers schufen wir uns ein eigenes Orplid. So scheint es mir wenigstens -leicht verklärt- nach mehr als 60 Jahren!
Jedenfalls fühlte ich mich im Kreise der Zähringer trotz der Härte der Zeit glücklich.
Das erklärt zur Genüge, warum ich der Zaringia beitrat und ihr über ein langes Leben bis zum heutigen Tage treue Gefolgschaft leistete.
Die Gegenwart stellt uns vor neue Fragen und vor neue Aufgaben, deren Lösung der Jugend obliegt. Wir Alten dürfen uns derweil dem Vergangenen Zuwenden, indem wir mit Marcel Proust bekennen:
Allein im Erinnern
gewinnt das Leben
seinen Sinn und seine Rechtfertigung!
Damit haben Sie eine Kurzbiographie von mir. Natürlich können Sie damit nichts anfangen. Deshalb gebe ich Ihnen einige weitere Daten:
Wie Sie aus obigem Artikel sehen, stammen meine Ahnen aus dem Lande der Welfen und zwar aus dem Raume zwischen Braunschweig und Hildesheim. Hier saßen meine Vorfahren seit Urzeiten auf ihren Höfen.
Erst vor knapp 200 Jahren wanderten meine direkten Vorfahren in die Stadt Braunschweig, Hier war mein Großvater Jürgens ein Bankherr. Er hatte 3 Söhne: Der Älteste wurde Jurist, Justizrat, Notar und unter Herzog Ernst August auch Anwalt der Krone. Er war langjähriger Präsident der Anwaltskammer, der Notarkammer und des Ehrengerichts. Der 2. Sohn war mein Vater, der dritte ein tüchtiger Unternehmer. Alle 3 Söhne hatten das Martino-Katharineum in Braunschweig besucht. Nach der Schule ging mein Vater 1888 nach Hamburg, heiratete die Tochter eines vielseitigen Wirtschaftsführers und übernahm eines seiner Industrieunternehmungen. Mein Vater war nie ein richtiger Unternehmer, vielmehr ein stets besonnener, ruhiger Verwalter des ihm anvertrauten Kapitals. Er bekam Ehrenämter - nicht wegen seine unternehmerischen Tüchtigkeit, sondern wegen seiner weitsichtigen Planung. In den Krisenjahren 1931/1932 - als die Konkurse sich häuften, - steuerte er sein Werk ungefährdet durch das Wirtschaftschaos. Sein Schwiegervater -also mein Großvater mütterlicherseits- war ein ganz außergewöhnlicher Mann. Mit 17 Jahren verließ er sein wohlgeordnetes Elternhaus. Sorgt Euch nicht um mich, schrieb er auf einem Zettel, ich halte den Schulzwang nicht aus und habe auf einen Segler angeheuert. Ihr werdet von mir hören, wenn ich irgendwo Fuß gefasst habe. Nach vielen Monaten kam endlich eine Nachricht aus Haifa. Eine britische Firma schrieb den Eltern, der Junge wäre dort eingestellt und bewährte sich großartig. In wenigen Jahren wuchs er zum wichtigsten Mitarbeiter dieser Handelsfirma auf, lernte alle Sprachen des Mittelmeerraumes, vor allem arabisch und verstand es, den Araberhandel auszubauen. Er legte arabische Tracht an, hockte in Beduinenzelten und entfaltete einen ungeahnten Warenaustausch.
Die englische Firma bezahlte ihn hoch. Trotzdem erklärte er, der Mittelmeer-Raum wäre ihm zu eng, Er zog weiter nach Buchara, Kokand, Taschkent und Samarkand. Überall knüpfte er Handelsbeziehungen an. In Indien ruhte er sich in Darjeeling aus, um gleichzeitig mit den dort residierenden Engländern große Geschäfte zu machen. Er kehrte nach Hamburg zurück, gründete eine Metallhandelsfirma, ein Metallwalzwerk, eine Reederei. Er gründete eine Handelsniederlassung in Timbuktu, richtete einen Schiffsverkehr auf dem Viktoriasee ein, beschäftige sich mit Bergbau in Südamerika und in Claustal-Zellerfeld. Zur Geburt meines Bruders 1899 und zu meiner Geburt 1900 legte er uns ein Aktienkapital von je 100.000,- RM in die Wiege. Gold-und Kupferminenwerte. Er sagte, nicht Jeder hat das Glück, sieben Sprachen zu beherrschen und die Völker unserer Erde zu verstehen. „Ich will meinen Enkel den Lebensweg erleichtern.“ Dieser gute Vorsatz schlug fehl. Die Kapitalien wurden 1914 beschlagnahmt und durch den Versailler Vertrag von 1919 enteignet. Wir hatten unsere Rechte im Clearingverfahren anzumelden und unsere Entschädigung vom Deutschen Reich zu beanspruchen. Als wir die Entschädigung 1923 endlich ausgezahlt erhielten, konnten wir uns dafür keine Briefmarke mehr kaufen! Mein Großvater scheiterte schließlich bei der Bekämpfung der bösen Geister in China. Er wollte wohlschmeckende Früchte plantagenweise anbauen und in die Welt exportieren. Doch die Chinesen sagten, die Fruchte seien todbringend. Er aß davon nach sorgfältiger Prüfung auf etwaige Giftstoffe. Er erkrankte und mußte mit den schnellsten Schiffen nach Europa zurückgeschafft werden. Als er in Genua ankam, war er bereits nicht mehr transportfähig. Er mußte an Bord bleiben, bis das Schiff den Hamburger Hafen anlief. Hier wurde er todkrank ins Tropenkrankenhaus gebracht. Er starb 2 Tage nach der Einlieferung an Blutzersetzung.
So aufregend und außergewöhnlich das Leben meines Großvaters war, so außergewöhnlich war auch das Leben des jüngeren Bruder meines Vaters. Dieser nutzte die weltweiten Beziehungen meines Großvaters mütterlicherseits und ließ in Zentralasien, Kokand, Taschkent und Samarkand nieder. Seine Beziehungen zu Afghanistan führten zu seiner Nobilitierung durch Aman Ullah. Er hatte einen Sohn, meinen Vetter Curd, der Filmschauspieler wurde und durch den Film "des Teufels General“ bekannt wurde. Curd starb am 18.6.82. Nun kennen Sie meine familiären Zusammenhänge.
Zum Schluß noch meine Daten:
Geboren 7.7.1900 in Hamburg.
Abitur Febr. 1918 in Hamburg.
Fahnenjunker März bis Dez. 1918.
Jurastudent in Freiburg, München, Hamburg und Kiel 1919-1922.
Dr. jur. Promotion 1922 in Kiel bei Prof. Kleinfeller über "Gesetze zum Schutz der Republik" Notwehrhilfe im öffentl. Interesse. Anlaß war der Kappputsch.
Referendar 1922 in Braunschweig, da Hamburg meine Zulassung ablehnte!
Assessor März 1926 in Braunschweig, bis Mai 1926 in Paris Privatstudien.
Ab Mai 1926 Syndikus des LKA und Rechtsanwalt in Wolfenbüttel und Braunschweig.
Dez. 1935 Berufung ins Beamtenverhältnis der Landeskirche.
Sept. 1938 Einberufung zur Wehrmacht während der Sudetenkrise.
Nov. 1938 meine Amtsenthebung durch Hoffmeister.
Aug. 1939 erneute Einberufung zur Wehrmacht. Bereitstellung in Kreuzburg.
1.9.39 Einmarsch in Polen, Polenfeldzug.
Winter 1939/40 am Westwall, Mai 1940 Frankreichfeldzug. Persönlicher Einsatz als Dolmetscher.
Nov. 1940 u. k. -stellung durch Kriegsmarine für väterlichen Betrieb wegen Ubootbaulieferungen.
März 1945 Totalvernichtung des väterliche Eisen-u. Stahlwerkes durch Bomben.
1945 - 1958 Wiederaufbau des Werkes, nach dem Tod des Vaters (1948) als Firmenchef.
1958 - 1968 Verschmelzung meiner Firma mit Konkurrenzwerk, Abgabe der Firmenführung an Hüttenfachmann, Verkauf meines Werkes und Übernahme der Leitung eines Holzbearbeitungswerkes.
1968 Verkauf meines letzteren Werkes und Eintritt in den Ruhestand.
Familienstand: Seit Febr. 1929 verheiratet mit Ilse Roloff-Alvesse. Zwei Kinder:
Sohn, geb. 1932, Tochter geb. 1936,
4 Enkelkinder im Alter von 24, 2o, 2o u. 13.
Diese Angaben zu meiner Person werden Ihnen wohl genügen. Zu erwähnen bleibt noch, daß der Name Jürgens in Niedersachsen weit verbreitet ist. Viele davon mögen entfernte Blutsverwandte von mir sein, denn ich habe allein 170 bäuerliche Familienmitglieder aus vergangenen Jahrhunderten ermittelt, die sicherlich viele Nachkommen haben werden. In Braunschweig lebt nur noch eine nahe Blutverwandte von mir, eine Tochter des Justizrates Jürgens, Anne Marie Jürgens, 85 Jahre alt, vor der Hitlerzeit als Dichterin vorgetreten, seit 1933 Verstummt wegen des Terrors der Goebbelschen Reichskulturkammer.
Nun zu Ihren weiteren Fragen: zunächst Dr. W. Timmermann:
Das LKA suchte durch Inserat 1927 einen Mitarbeiter für die Grundstücksabteilung. Unter den vielen Bewerbern schien Timmermann der Geeignetste zu sein. Breust schlug ihn vor, Lambrecht stimmte zu, ich sollte kritisch Stellung nehmen und schloß mich dem Vorschlag an. Gewiss verstand es Timmermann, seinen Weg zum Nationalsozialismus damit zu begründen, daß er die Armut im eigenen Elternhaus kennengelernt hätte, sein Vater -Laternenarbeiter und 3. Sohn eines Kleinbauern aus Rissen.- hatte als einfacher Arbeiter praktisch außerhalb der Volksgemeinschaft gestanden. Sein Ziel sei es gewesen, eine wahre Volksgemeinschaft durch die Nazis mit herbeizuführen. Timmermann hatte es in seiner Jugend nicht leicht gehabt: Abendabitur, Studiumfinanzierung durch Büroarbeit bei einem Anwalt, andererseits aber aufopfernder Einsatz seiner Lebensgefährtin, die ihren letzten Groschen für ihn hingab. Er heiratete sie aus Dankbarkeit, nicht aus Liebe. Sie aber opferte sich wie Elise Lensing für Fr. Hebbel! Als aber die Ehe kinderlos blieb, ließ Timiermann sich scheiden und heiratete zum 2. Mal. In 2. Ehe bekam Ti. M. W. 2 Kinder. Ich weiß weder, ob Ti. und seine Familie noch lebt, und wo sie sich aufhalten könnten. Seine letzte Nachricht datiert vom 13.Nov.46.
Die Stellung Timmermanns im LKA war -soweit ich erinnere- die eines Hilfsreferenten für Hamer. lm wesentlichen hatte er aber mich zu entlasten, Ich war zwar nur Syndikus und kein Kirchenbeamter, trotzdem hatte ich im LKA Anordnungen zu treffen wie ein leitender Beamte. Wie weit Ti. mich zu vertreten und zu entlasten hatte, ergibt sich aus anliegendem Schreiben vom 19. Juli 1929.
Er vertrat mich im Anwaltsbüro und auf Kreiskirchentagssitzungen, auch bei Sitzungen des LKA. Ich weiß, daß er mir zahlreiche Berichte gab, für alle Vertretungshandlungen bei meiner Ortsabwesenheit. Es handelte sich ja nicht nur um Urlaubstage, sondern um seine Aushilfe, wenn ich für die Kirche vor außerbraunschweigischen Gerichten, vor allen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig und vor dem OLG Naumburg/Saale tätig werden mußte. Auch die Sache der Kirche Calvörde gegen Vibrans Erben hat er z. T. für mich mit bearbeitet. Vibrans, der größte landwirtschaftliche u. industrielle Betrieb im Raume Calvörde/Vorsfelde brach 1929/30 zusammen. Die Kirche erlitt dadurch schwere Ausfälle. Bei genauer Sachprüfung stellte ich fest, daß der Berliner Rechtsanwalt Dr. Schwede die verfügbare Masse an sich gerissen hatte -es handelte sich um einen Betrag von über 100.000.- RM- und dadurch erst die Katastrophe herbeigeführt hatte. Ich verlangte von Schwede die Herausgabe des zu Unrecht kassierten Geldes. Schwede lehnte ab, mit der Bemerkung, er hätte nur seine eigenen Anwaltskosten gedeckt, eine Rechenschaft hierüber sei er mir nicht schuldig. Ich drohte mit Strafanzeige wegen Veruntreuung, Betrug, Unterschlagung usw. Er erwiderte meine Drohung mit Privatklage wegen Verleumdung. Aus allem wurde ein Skandal von nicht geringem Ausmaß. Bernewitz sah, wie wir uns immer heftiger in die Haare kriegten. Er wollte auch nicht, daß ich mich in der Hitze des Kampfes zu Unbedachtsamkeiten hinreissen ließe. Ich schlug auf Bitten von Bernewitz mildere Töne an und Schwede gab daraufhin nach. Er legte ordnungsgemäß Rechenschaft über das Geld ab. Auch bei diesem Konflikt vertrat mich Timmermann in kluger Weise. Timmermann war überhaupt ein vernünftiger, sachlich arbeitender Mensch. Er wollte keinem Lebewesen Schaden zufügen, er wollte auch seine glühende Begeisterung für Hitler nicht in Frage stellen. Nach 1945 erhoffte er von mir einen Persilschein. Ich konnte ihm bescheinigen, daß er ein -leider verblendeter- Idealist gewesen sei, der sich aber zu keiner Untat hätte verleiten lassen.
Sympathisch an Ti. war seine Heimatliebe und sein Interesse an der Familienforschung. Die beigefügte Schrift „Die Familie Timmermann" beweist dies.
Nun zu ORR Greiffenhagen. Während meiner Referendarzeit in Brauschweig freundete ich mich mit Gr. an. Er war Jahrgang 1895, als Sohn eines Lehrers in Bevern bei Holzminden geboren. 1914 trat er als Kriegsfreiwilliger ins Heer ein, war ein tüchtiger Frontsoldat, ein Auge wurde ihr rausgeschossen, schied 1918 als Oberleutnant d. Res. aus dem Kriegsdienst und begann sein Jurastudium. Als guter Freund war er mein Trauzeuge bei meiner Eheschließung. Als der Posten des Direktors des Zuchthauses Wolfenbüttel frei wurde, war Gr. der beste Mann für diesen Posten: vorbildlich korrekt gegenüber allen, militärisch geschult, geschickt in der Führung des Personals. 1935 trat Gr. der NSDAP bei ohne sich irgendwie mit dieser Bewegung befreunden zu können. Als Behördenchef und inzwischen ernannter ORR glaubte er nicht ausweichen zu können, Er verlobte sich mit Lotte Floerke aus Witten und bekam einen Sohn Horst. Auch meine Frau wurde eine Freundin von Frau Greiffenhagen und Sohn Horst wurde ein Spielgefährte meines Sohnes, wir waren in jenen Jahren unzertrennlich. Im Hitlerkrieg war er natürlich wieder als Offizier tätig. Er war im Westen und mit Rommel in Afrika. Als Oberstleutnant und Regimentskommandeur schied er 1945 aus dem Wehrdienst. Inzwischen war er in das Strafvollzugsamt in Hamburg versetzt worden. Ich bzw. meine Mutter beschaffte ihm eine Wohnung, sodaß er mit seiner Familie wieder vereint sein konnte. Als inzwischen zum Regierungsdirektor beförderter Beamter mußte er entnazifiziert werden. Ich setzte mich stark für ihn ein. Trotzdem zog sich das Verfahren hin. Um die Zeit zu überbrücken, gab ich ihm einen Vertreterposten in meinem Hamburger Werk. Diese Tätigkeit lag ihm aber nicht. Er fühlte sich aus der Bahn geworfen. Als er endlich seinen Dienst im Vollzugsamt wieder aufnehmen konnte, war er mit sich und der Welt zerfallen. Wenn wir uns sahen, war er herzlich wie eh und jeh, aber seine Frau rückte von uns ab. Sie haderte mit dem Schicksal, daß so gut durch die chaotische Zeit gekommen sei, während sie so stark ins Hintertreffen geraten seien. Sie mochte Hamburg überhaupt nicht, weil sie in Wolfenbüttel eine der ersten Damen der Stadt spielen konnte, in Hamburg aber eine Fremde und Unbekannte sei. So löste sich unsere alte Freundschaft auf. Dazu kam, daß Gr. in seinen letzten Lebensjahren kränkelte und schließlich hoffnungslos erkrankte. 1970 starb er. Seine Frau zog nach Süddeutschland, Sohn Horst lernte Bankfach und studierte Jura. Er entwickelte sich zu einem klugen, prächtigen Burschen, Verheiratete sich mit Heide Waldt, einer Bekannten meiner Tochter. Aber auch diese Verbindung hat sich von selbst aufgelöst. Horst nahm eine Juristenstelle in der Nato oder einer europäischen Gemeinschaft an. Ob er jetzt in Brüssel, Straßburg, Luxemburg oder in Deutschland lebt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß meine Tochter ihn einmal auf einem Empfang in New York, Rom, London oder Paris zufällig getroffen hat. Die Freude des unverhofften Wiedersehens war groß.
Die Handschrift von Hans Gr. können Sie aus anliegender Karte sehen, geschrieben am 14.4.1957.
Zur Person des Amtsgerichtsrates und späteren Landgerichtspräsidenten Hans von Nordheim kann ich nur sagen, daß viele ihn wegen angeblicher Unnahbarkeit ablehnten. Ganz ohne Grund, denn v. N. war liebenswürdig, freundlich, aufgeschlossen und sozial eingestellt. Er hatte eine sehr aufrechte Haltung, sprach im Dienst zuweilen etwas geziert und benutzte bei der Lektüre eines Schriftstückes ein Monokel - nicht etwa, um den Offizier zu markieren, sondern weil er tatsächlich einäugig kurzsichtig war. Aber dieses harmlose Monokel hat ihm manche Gegnerschaft eingetragen. Er paßte eigentlich zum Offizierberuf, als Richter war er im Grunde fehl am Platz, denn er dachte praktisch und nicht immer juristisch.
Er legte Wert auf die Sauberkeit seines Stammbaumes. Seine Ahnen waren alle von Adel, seine Frau und ihr Stamm desgleichen und so erwartete er auch von seinen beiden Söhnen, daß sie dieser Familientradition folgten. Als ich ihn kurz vor seinem Tode Jan. 1970 in der Hahnheide besuchte, sprachen wir über die Hitler-Epoche, die er herunterspielte, obwohl er schwer gelitten hatte. Er wurde oft von der Gestapo vernommen, war glücklich, als er 1939 wieder Offizier sein konnte, erlebte aber, daß man ihn als Reaktionär aus der Wehrnacht entließ. Mit Müh und Not kam er über die Runden. Er hat nie mit einer Stauffenberggruppe zusammengearbeitet. Aber die Generäle in seiner Familie waren verdächtig und das färbte auf ihn ab. Nach dem Kriege wurde die erlittene Schmach dadurch wieder gut gemacht, daß man ihm das große Bundesverdienstkreuz verlieh.
Man warf v. N. auch vor, er sei rückschrittlich, da er für die Beibehaltung der Todesstrafe einträte. V. N. sagte dazu, ein schneller Tod erscheine ihm humaner als ein langsames Verenden in der Zelle. Ich habe v. N. stets verteidigt, wenn man ihm seine "leutselige Attitüde“ vorwarf oder seinen "gravitätischen Gang". Alles dummes Zeug, sagte ich, ich kenne ihn und mag ihn.
Sie fragen nach Justizobersekretär Dr. Bruncke. Sie können ihn aus dem Bilde sehen, das beim Abschied von Bernewitz aufgenommen wurde. Ich habe die Namen aller Teilnehmer der Gruppenaufnahme angegeben. Sie können euch an allen Akten, die Bruncke bearbeitet hat, die Ölspuren sehen! Denn Br. pflegte sein dünnes Haar und wohl auch sein Gesicht reichlich zu fetten und dabei konnte er auch seine Ölspur in den Akten nicht vermeiden. Ich habe Breust nicht verstanden, warum er so viel von Br. hielt. Er war nur ein emsiger Schreiber, aber auch nicht mehr. Übrigens erkrankte Bruncke -möglicherweise schon vor 1936- und starb nach qualvollem Krankenlager. Die näheren Daten sind mir entfallen.
Im Gegensatz zu Bruncke ist Hamer ein aufrechter Mann gewesen. Mir gegenüber war H. stets sehr korrekt, fleißig und sachlich. Ich habe manche Besichtigung von Ländereien mit ihm mitgemacht, viel von ihm über Bodenqualität, Düngung, Erosion, Kiesgewinnung, Vermessung usw. gelernt. Über die NSDAP hat H. mit mir nie gesprochen. Er wußte wohl, daß ich ein unerbittlicher Gegner war. Wenn aber alle Nazis so ruhig und vernünftig gewesen wären, wie H., hätte man auch zur NSDAP eine freundlichere Stellung eingenommen. Ob die Bodenschätzungen und Bewertungen von H. immer richtig waren, kann ich nicht beurteilen. Ich habe aber nie gehört, daß seine Gutachten anfechtbar gewesen seien. Die weittragendste Schätzung machte Hamer für die Kirche Beienrode. Dort sollte 1928 der Exerzierplatz angelegt werden. Die Kirche mußte dafür viel Land preisgeben. Hamer bewertete das gesamte Land mit rd. 237.000,00 RM, eine für 1928 gewaltige Summe. Die Stadt Braunschweig wurde zur Zahlung dieser 237.000,00 RM verurteilt. Es war mein erster großer Sieg als junger Anwalt. - - Warum Breust sich so sehr gegen H. stellte, ist mir ganz unklar. Breust witterte Hinterhältigkeit und andere Charaktermängel bei H. Ich glaube, diese Mängel bestanden nur -völlig unbegründet- in der Breustschen Phantasie.
Albert Ackenhausen, Eigentümer der Löwen-Drogerie in Wolfenbüttel, ist ein Stahlhelmkamerad von mir, ein grundanständiger Mann und Patriot. Zum Erntedanktag setzte er 2 Flaggen rechts und links vom Eingang seines Geschäftshauses. Ackenhausen richtete sich genau nach dem Hitlerbefehl vom 12.3.1933, der lautete:
Bis zur endgültigen Regelung der Reichsfarben sind die schwarzweißrote Flagge und die Hakenkreuzflagge gemeinsam zu setzen.
Obersturnführer Günther hingegen war anderer Meinung. Er verbrannte die schwarzweißrote Flagge, da "für unser heutiges Reich nur die Hakenkreuzflagge ausschlaggebend sei!“ Günther polterte, es sei von Ackenhausen eine Unverfrorenheit, Anmaßung, Unverschämtheit und im Übrigen hätte er, Günther, nicht gesehen, daß in der Zeit, wo Rotmord herrschte, Ackenhausen die schwarzweißrote Fahne gehisst hätte. Der Fall Ackenhausen zeigte nur die Geisteshaltung der Braunhemden.
Über den Prozeß Hannibal habe ich zufällig noch einen Zeitungsausschnitt, den ich anliegend beifüge.
Die Folterung und Ermordung der drei Wolfenbüttler Fischer, Perkampus und Müller am 6./7.7.1933 hat damals große Unruhe in Wolfenbüttel ausgelöst. Aus anliegendem Brief des Baumeisters Paul Franke vom 4.7.47 können Sie alles Nähere ersehen. Dem Baumeister Franke habe ich 1947 auf seinen Wunsch einen Persilschein zu seiner Entnazifizierung ausgestellt. Der Gedenkstein für die Ermordeten, der am 7.7.1947 auf dem Wolfenbüttler Friedhof aufgestellt sein soll, müßte ja noch vorhanden sein. Franke und seine Frau sind inzwischen verstorben.
Der Selbstmord von Alpers ist mir von verschiedenen Seiten damals mitgeteilt worden. Er soll sich gegen Kriegsende erschossen haben. Eine andere Version habe ich nie gehört. Ich glaube, es war auch Timmermann, der Alpers Selbstmord bestätigt hat. Dokumente darüber fehlen mir leider.
Bei den Selbstmord des Domänenpächters, handelt es sich um einen Vorfall im Ministerium. Ich besprach eine kirchliche Frage mit Alpers in seinem Arbeitszimmer als ein Domänenpächter -dessen Name ich nicht erfahren habe- anrief und in ein sehr erregtes Gesprächs mit Alpers geriet. Die Telefonstimme war so laut, daß ich sie deutlich hören konnte. Der Mann sagte, wenn Sie, Herr Minister, darauf bestehen, bleibt mir nur der Selbstmord. Alpers erwiderte, „das halte ich für die beste Lösung", Alpers schrie noch ein paar erregte Worte hinterher, dem Sinne nach „ich hoffe auf baldigen Vollzug“. Alpers war so aus der Fassung geraten, daß wir unsere Besprechung beendeten. Ob der Selbstmord vollzogen wurde, weiß ich nicht.
Mit Strothmann bin ich oft zusammengetroffen. Er war Gehilfe von Johnsen, führte auch Protokoll bei Kirchenregierungssitzungen, begleitete Johnsen auf Dienstfahrten usw. Auf anliegendem Photo sehen Sie Strothmann mit Johnsen und mir in Sondershausen.
Beim Verfahren gegen Lachnund im April 1934 war ich meiner Erinnerung nach nicht zugegen. Ich war damals aber bei so vielen Verfahren engagiert, daß ich kaum noch durchfinden kann. Z. B. habe ich Leistikow bei seinem Gestapo-Verfahren beraten, besonders betroffen war ich von dem seelischen Zusammenbruch von P. Kiel und dem seelischen Zustand vor P. Querfurth in Walkenried. Es war zu viel, was diese treuen Menschen verkraften mußten.
Ich fand noch anliegende Karte von Minna Schindler, weiß aber nicht mehr, welche Rolle diese Dame spielte. Vielleicht stand sie in Verbindung mit der Dettmerschen Pfarrtöchter-Stiftung? Jedenfalls trauerte auch Frau Schindler der guten alten Zeit nach.
In meinem Keller fand ich noch anliegenden Briefwechsel mit Hans Ostmann. Ich glaube Hans Ostmann ist im kirchlichen Dienst gelandet, vielleicht in LKA oder der hannoverschen Landeskirche? Wissen Sie etwas von ihm ?
Für die geschenkweise Überlassung des “Überblicks“ danke ich Ihren vielmals.
Alle Ihnen übersandten Aktenstücke können Sie gern in Ihr Archiv legen. Ich brauche die Unterlagen nicht mehr und in meinem Keller verkommen sie nur, Also, was sich zum Aufheben lohnt, behalten sie bitte dort.
Die anliegenden Gruppenbilder sind bei der Sommerveranstaltung des LKA in Lichtenberg 1935 aufgenommen.
Soweit ich Ihre Fragen nicht beantwortet habe, geschah die Unterlassung in Ermangelung von Unterlagen und Versagen meines Gedächtnisses.
Zu einen Bernewitz-Beitrag fühle ich mich überfordert. Ich kann zwar noch etwas plaudern, aber keinen würdigen Beitrag mehr liefern, und bei Bernewitz muß es schon etwas Würdiges sein!
Über einen Besuch bei mir in Blankenese wurde ich mich sehr freuen. Damit wir uns nicht verfehlen, erscheint eine rechtzeitige Mitteilung nötig. Damit sie nicht durch mein Photo von 1930 irregeleitet werden füge ich ein Photo von mir aus letzter Zeit bei. So vermeidet man falsche Vorstellungen.

Mit freundlichem Gruß

Ihr
     

PS.
Zu meiner Kurzbiographie sei noch vermerkt, daß ein Hoher Senat der Hansestadt Hamburg mir 1925 mitteilte, er hätte seinen Beschluß, mich nicht zu den Staatsprüfungen zuzulassen auf Grund meines Einspruchs überprüft und wegen der besonderen Sachlage aufgehoben. Ich könnte also jederzeit die Prüfungen ablegen. Ich dankte für das Wohlwollen und schrieb, es käme aber 1 1/2 Jahre zu spät, ich hätte die Hälfte meiner Referendarzeit bereits im Lande Braunschweig verbracht und müßte jetzt auch das Assessorexemen in Braunschweig ablegen.


Der Brief stammt vermutlich vom Anfang des Monats. Jürgens sieht sich in seiner studentischen Umgebung und schreibt als „Alter Herr“ der Zaringia, einer Freiburger studentischen Verbindung ohne schlagende und farbentragende Allüren, aber mit konservativen Werten. Es ist der Brief mit den meisten persönlichen Angaben. Er eignet sich als Einstieg zum Kennenlernen der Person Hans Wilhelm Jürgens. Am Ende gibt Jürgens auf Anfrage Auskunft über die Mitarbeiter im Landeskirchenamt Bruncke und Hamer, wobei sein Urteil über Hamer vollständig dem von Breust gezeichneten Bild widerspricht.



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