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[Kirche von Unten]

Hans Wilhelm Jürgens

Die Geschichte eines vergessenen Oberlandeskirchenrates

Eine Erzählung


von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf hier)




Der Quellenteil

Jürgens Brief vom 10.08.1982

Hamburg, den 10.8.82

Dr. Jur. Hans-Wilhelm Jürgens
2 Hamburg 55 Blankenese
Babendiekstr. 2
Fernsprecher 86 28 92

Herrn Pastor Dietrich Kuessner
Kirchstr. 3
3333 Büddenstedt

Sehr geehrter Herr Pastor!
In Ihrem Schreiben vom 29.7.82 erwähnten Sie Ihren Vortrag von 1980 über “Kirche und Nationalsozialismus in Braunschweig“ nebst Beiwort Ihres Herrn Vaters. Ich möchte diese Schrift gerne kennenlernen und bitte Sie, mir zu sagen, wo ich sie käuflich erwerben kann.
Vielleicht kann ich Ihnen -ergänzend zu Ihrer Abhandlung- eine Rahmenhandlung geben, da ich ja die Ereignisse von 1933/34 in Braunschweig hautnah miterlebt habe.
Für mich war das Einschneidendeste nach der NS-Machtübernahme das Revirement in der Richterschaft. Daß man den OLG-präsidenten Levin verabschiedete, konnte ich noch begreifen, denn Levin war hier völlig fehl am Platze. Es war ein schwerer Fehlgriff von Jasper, diesen unbedeutenden Berliner Amtsrichter auf den höchsten Richterposten des Landes Braunschweig zu berufen. Die braunschweigische Justiz genoß ein hohes Ansehen in Deutschland und dieses Ansehn wurde durch Levin in Frage gestellt. Levin führte seine Gerichtsverhandlungen nicht in zurückhaltender Souveränität, sondern wie ein Trödler, der seine Waren verramschen will und den Preis zu drücken oder heraufzutreiben versucht. So hielt ich die Ablösung für geboten, wobei ich nur hoffte, daß es Levin gelang, sich noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Ganz anders lag der Fall bei den jüdischen Richtern Heymann und Morawitz. OLG-Rat Heymann war ein kultivierter, hochgebildeter kluger und sympathischer Mann. Ich nahm ihn mir zum Vorbild und wünschte mir dieses Format eines bedeutenden Juristen je erreichen zu können.
Heymann war auch Reserveoffizier, Frontkämpfer mit EK I. Klasse und als Soldat und Patriot ebenso hoch geschätzt wie als Richter. Der linke Arm wurde ihm abgeschossen. Das hinderte ihn aber nicht, seine Pflicht vorbildlich zu erfüllen. Er war mit einer Arierin verheiratet und hatte 2 Töchter, beide klug, ansprechend und bestens erzogen, die mit mir im Geta-Club tanzten. (Geta = Abkürzung für Gesellschaftstanz) Mein Freund Gerichtsassessor Friedr. Wilh. Holland verlobte sich mit der älteren Heymanntochter und wurde daraufhin von Alpers sofort aus dem Staatsdienst gejagt, konnte aber als Rechtsanwalt die Zeit überdauern, um dann 1945 als Präsident des Oberverwaltungsgerichtes wieder seinen Einzug in die Richterschaft zu halten.
LG-Direktor Morawitz war gleichfalls ein sympathischer kluger Mann. An Verstandesschärfe übertrumpfte er Heymann sogar. Deshalb wurde er zum Ausbilder der Referendare eingesetzt. Als Referendar hatte ich daher genügend Gelegenheit, Morawitz kennen und schätzen zu lernen. Er hatte nicht nur fundamentale Rechtskenntnisse, sondern auch ein verblüffendes Gedächtnis. Er wußte von jedem den Geburtstag, wenn er das Datum nur einmal zufällig erfahren hatte. Wir Referendare haben bei Morawitz viel gelernt. Sein Schicksal nach 1933 kenne ich nicht. Für mich blieb es unfasslich und erschütternd, daß man so bedeutende Persönlichkeiten wie Heymann und Morawitz auf die Straße setzte, während ein so schwachbegabter Mann wie Alpers das Sagen hatte.
Die Erschütterungen nahmen ihren Fortgang. Schon 1932 hatte ich eine guten Anwaltskollegen, Ra. Salomon, durch Selbstmord verloren. Salomon war mein angenehmster Prozeßgegner weil er ritterlich kämpfte. Er sah das 3. Reich kommen und zog den Tod vor.
Nach 1933 folgten dann viele weitere Selbstmorde in meinem Bekanntenkreis. Der Ra. Regensburger stand mir persönlich zwar nicht nahe, aber ich schätzte seine ironischen Randbemerkungen. Sein Freitod ergriff mich. Ebenso der Selbstmord des Arztes Kantorowicz und vor allem des tüchtigen Intendanten des Braunschweigischen Staatstheaters, Dr. Neubeck. Neubeck war kein Jude, aber seine Nerven reichten nicht aus, um die Zeiten durchzustehen.
Das Schlimme war ja, daß man überhaupt nicht wußte, was nun wirklich gelten sollte. Als Hitler im Hochsommer 1933 erklärte, die Revolution ist zu Ende, es beginne die Evolution, verkündete der Kreisleiter in Wolfenbüttel sofort: Für uns ist die Revolution nicht zu Ende, sie beginnt erst jetzt und dauert noch 10 Jahre. - Hitler einigt sich mit dem Stahlhelmführer Seldte, aber trotz aller Abmachungen bleibt der Stahlhelm in Wolfenbüttel verboten! Wie rücksichtslos man gegen meine Stahlhelmkameraden in Wolfenbüttel vorging, zeigt schon der erwähnte Fall Ackenhausen. In weit größere Bedrängnis kam mein Freund und Stahlhelmkamerad Hans Barnewitz, Inhaber der bekannten Konservenfabrik Busch, Barnewitz & Co. Barnewitz wurde wiederholt verhaftet und endlos vernommen. Man warf ihm Obstruktion vor, konnte ihm aber nicht das Geringste nachweisen. Neider und Verleumder fanden sich immer, aber Barnewitz konnte stets nachweisen, daß er sich loyal verhalten habe. Schließlich spielten einige Pg nicht mehr mit, sie hielten das Verhalten der NSDAP gegenüber Barnewitz für unfair und gaben dem Verfolgten heimlich einen Wink, wenn wieder eine neue Aktion gestartet werden sollte. So konnte Barnewitz den Häschern entkommen.
Wenn die SA-Männer in die Barnewitzsche Villa eindrangen, konnte er durch die Hintertür entkommen. Er hatte sich ein Versteck in Peine geschaffen und blieb so lange auf Tauchstation bis die Luft wieder rein war. - Man atmete auf, als die Reichsleitung der NSDAP verkündete, daß körperliche Mißhandlungen von Schutzhäftlingen nicht mehr erfolgen dürften. In vielen Orten wurde dieser Befehl respektiert, in Wolfenbüttel leider nicht. Hier wurde eine Arbeiterin, deren Name mir unbekannt blieb, wegen einer unvorsichtigen Bemerkung mit dem Gummiknüppel schwer gezüchtigt. Als sie dann aber ihre Verwundungen anderen Personen zeigte, wurde sie sofort nach Braunschweig geschafft und im dortigen Volksfreundhaus bis an die Grenze des Todes mißhandelt. Immerhin kam es nicht mehr vor, daß mißhandelte Häftlinge aus dem 2. Stock des Volksfreundhauses in den Tod sprangen, denn ein solcher Todessprung wegen der unerträglichen Mißhandlungen hatte viel Aufregung in Braunschweig gebracht. Daher wurden die Häftlinge angekettet, sodaß ein sprunghaftes Entweichen nicht mehr möglich war. Über den Tod des SS-Mannes Landmann und den Vergeltungsmord von 10 Häftlingen im. KZ Rieseberg haben Sie im "Überblick" schon berichtet. Nicht aber haben Sie über die sensationelle Verhaftung des Landgerichtsrates Schmidt berichtet, der für viele Pg ein Vorbild der alten Kämpfer war, denn Schmidt war Pg seit 1923! Ob hier ein Irrtum vorlag, steht dahin. Jedenfalls wurde Schmidt arg mißhandelt, dann aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Daß auch Jasper im KZ arg mißhandelt wurde ist bekannt. Als er einmal KZ-Urlaub hatte - sowas kam vor! - traf ich ihn auf der Kaiser Wilhelmstrasse, erkannte ihn aber nicht - so entstellt war er. Schlecht erging es auch meinem Kollege Ra. Philipps, der bei einem nächtlichen Überfall schwere Verletzungen erlitt. Ich vergaß noch meinen Stahlhelmkameraden Delius aus Wolfenbüttel zu erwähnen. Er wurde von SA-Horden so zusammengeschlagen, daß er lange Zeit in ein Sanatorium mußt. Der von mir schon erwähnte AGR v. Nordheim hatte nicht nur viele Feinde in der NSDAP, sondern auch einige Sympathisanten. Zu den letzteren gehörte der Kaufmann Welge in Wolfenbüttel. Dieser empörte sich über die schmachvolle Behandlung des Herrn v. Nordheim, doch die Empörung bekam ihm schlecht. Welge wurde von der SA niedergeschlagen und so schwer verletzt, daß es lange dauerte, bis die offenen Wunden wieder geheilt waren. Auch dem Leiter des Breymannschen Instituts in Wolfenbüttel, Neuer Weg, Dr. Arnold Breymann ging es an den Kragen. Er wurde grundlos in Schutzhaft genommen, aber wieder entlassen, als man merkte, daß dieser Fall einen tödlichen Ausgang nehmen würde. Obwohl wieder auf freien Fuß gesetzt, starb Breymann infolge der Aufregung am folgenden Tage. - Neben dem Volksfreundhaus war auch das Gebäude der AOK Braunschweig, Am Fallersleber Thor, als Haftanstalt mit in Anspruch genommen worden. Auch hier sollen sich Foltertragödien abgespielt haben. Einzelheiten sind aber nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Wie immer, wenn etwas verschwiegen oder geheimgehalten wird, bilden sich wilde Gerüchte: Der Todesspringer vom Volksfreundhaus versiebenfachte sich, andere schwere Ausschreitungen wurden weit schrecklicher kolportiert, als sie in Wirklichkeit waren. Doch der Parteitag der NSDAP vom Sept. 1933 mobilisierte die Schläger im Braunhemd, denn in Nürnberg sprach Dr. Goebbels offen aus, daß es den Juden gelungen sei, Deutschland in eine außenpolitische Krise zu bringen. Nun, zur Beseitigung der Krise packten die Braunschweige gleich wieder zu. Sie setzten den stillen, lammfrommen und harmlosen Ra. Tannchen ins KZ. Weil er Jude war, war seine Stille mehr als verdächtig! - - -
Im Jahre 1936 begann man im Lande Braunschweig sogenannte "Musterdörfer" zu schaffen. Es sollten vorhandene Dörfer verschönt und dann nach Möglichkeit Feierplätze für KdF-Veranstaltungen eingerichtet werden. Wendhausen bei Braunschweig und Trautenstein im Harz waren die ersten beiden Musterdörfer des Landes. Zur Feierstunde in Trautenstein am 23.8.1936 und der Einweihung eines schönen Dorfbrunnens -der auch heute noch eine Zierde des jetzigen DDR-Dorfes ist- wurde auch das LKA eingeladen. Als Vertreter des LKA nahm ich an der Feier teil. Die Veranstaltung hatte -wie ich feststellte- einen rein politischen Charakter. Alles erschien im Braunhemd: der Trautensteiner Bürgermeister Pg Bleßmann, der aus Blankenburg angereiste Fanfarenzug der HJ, die politischen Leiter des Kreises Blankenburg, die SA und HJ von Trautenstein und Tanne mit ihren Kapellen, der Gauwalter der DAF Pg Carius aus Hannover, natürlich auch der Kreisleiter Pg Kämpfert und der Blankenburger Kreisdirektor Bergmann.
Ich_war das einzige "schwarze Schaf" in dieser braunen Herde und trotzdem wurde ich genau so höflich begrüßt wie die anderen Gäste. Von Kirchenfeindlichkeit also keine Spur!
Aber dieses friedliche Miteinander täuschte. In einigen Harzgemeinden gab es arge Spannungen und Übergriffe der NSDAP: P. Querfurth in Walkenried und P. Kiel in Braunlage nahmen sich diese Vorkommnisse besonders zu Herzen. An einigen Sonntagen wurden die Kirchgänger auf dem Weg zur Kirche von SA und SS belästigt, beschimpft, verhöhnt, verschreckt, ja sogar mit Dreck und kleinen Steinen beworfen. Was soll der Pastor nun tun? Schutz von Polizei oder anderen Sicherheitsorganen gab es nicht. Sollte der Pastor seine Gemeinde nun bitten, vom Kirchgang einstweilen abzusehen, um keinen Schaden zu erleiden?
Der Pastor konnte natürlich nicht wissen, ob diese Störaktionen nur ein Auftakt für schwerere Tumulte waren, die sich vielleicht auch gegen die Wohnungen der Kirchgänger, auch gegen Pfarrhaus und Kirchengebäude richten könnten. Der Walkenrieder Pfarrer handelte mutig wie Luther und asketisch wie Franz von Assisi. Er verzehrte sich förmlich im Kampf und flehte seine Gemeinde an, glaubensstark der Kirche die Treue zu halten. Als ich im Juni 1937 nach Walkenried kam, konnte ich die mannhafte Haltung des Pfarrers nur bewundern. Er führte mich durch Kirche und Klosterruine. Beim Abschied war ich tief ergriffen, sagte mir aber: Das hält der Mann nicht durch, wo findet er in seinem körperlichen und seelischen Erschöpfungszustand überhaupt noch die Kraft zu diesem heroisch-ergebenen Einsatz!
Anschließend kam ich zu Pastor Kiel in Braunlage, Hier fand ich aber keinen Kämpfer, sondern einen verstörten, zerbrochenen Mann. Ich hatte keinerlei Grund, ihm irgendwelche Vorhaltungen zu machen, er aber verlor sich in Selbstanklagen, als ob er die Schuld an Hitlers Machtübernahme und ihre Folgen für die Kirche hätte! In welchem Krankheitszustand sich P. Kiel befand, ergibt sich aus dem Brief, den er mir unmittelbar nach meiner Abfahrt aus Braunlage per Post zusandte. P. Kiel hatte noch nicht einmal den Mut, mir den Brief persönlich zu übergeben. Ich füge den Brief anliegend bei.
Das Beste, was ich P. Kiel sagen konnte, um ihn wiederaufzurichten, war, daß er einst die Fähigkeit unter Beweis gestellt hätte, den Menschen in Not und Verzweiflung neue Hoffnung und neues Vertrauen zu verschaffen. Als ich nämlich 1922/23 in Blankenburg als Referendar am Amtsgericht und der Kreisdirektion tätig war, war P. Kiel mein Gemeindepfarrer. In diesem Inflationsjahr gab es wirklich viele verzweifelte Situationen, manchmal auch für mich. Als Referendar bekam man damals noch keine Bafög oder dergleichen. Ich mußte mich selbst unterhalten, war also auf den Monatwechsel meiner Elter angewiesen. Das Geld entwertete aber so schnell, daß ich in der 2. Monatshälfte kein Brötchen mehr kaufen konnte. Die Post verzögerte die Geldsendungen auch bis zu 10-12 Tagen, sodaß das Geld beim Empfang schon stark entwertet war. Als sich dieser Zustand von Monat zu Monat verschlimmerte und auch die Verzehnfachung des Wechsels nicht mehr langte, sandten mir die Eltern Silber in kleine Barren und in Münzen zum Einwechseln im Laufe des Monats. Aber auch dieser Weg führte nicht zum Erfolg, weil das Silber keinen festen Tageskurs hatte oder der Kurs nur mit Verzögerung bekannt wurde.
Daher wußte niemand, was er für das Silber gerade zahlen sollte. Die Blankenburger waren auch zu korrekt und wollten nicht in den Verdacht kommen, zu wenig gezahlt zu haben. Es hätte ja sein können, daß der wahre Preis schon das Fünfzigfache hätte sein können! Nun schickten mir die Eltern als Eilpäckchen, die schneller liefen, als Postanweisungen, Papiergeldstapel, meist 100 Scheine gebündelt, anfänglich mit 100.- bzw. 500.- M Nennbetrag, bald aber mit 1000.- M.
Sprunghaft ging es höher. Mit Scheinen im Nennbetrag von je 50.000.- M. kam ich bald nicht weiter. Sie stiegen auf 100.000.- M und in der Folge auf Millionen und Milliarden. (Zur Veranschaulichung füge ich 2 Geldscheine bei, von denen der eine 1 Mio. M ausweist, der andere aber -einen Monat später- gleich 10 Mio. M für den gleichen Einkaufswert.)Die wertlos gewordenen Banknoten konnte ich wenigsten noch als Notizblöcke verwerten, da die Scheine keine bedruckte Rückseite mehr hatten! Von diesen Scheinen habe ich noch viele herumliegen, die beigefügten mögen daher als Zeitdokument bei Ihren Akten bleiben. Nun, unter den geschilderten Verhältnissen war die Not in Blankenburg groß, denn eine Pensionopolis lebt von ihren Rentnern und diese hungerten von einer Rentenabschlagszahlung zur anderen. Hier gab es nun zwei segensreich wirkende Kräfte, die die Not vergessen liessen. Die eine war die Stärkung des Verbundenheitsgefühls der Bürger - ein wahres Gemeinschaftsbewußtsein - die andere aber die Hoffnung und Zuversicht, die uns P. Kiel gab! Ich sagte nun dem Pastor bei meiner Besprechung in Braunlage, er solle einmal an seine Predigten zurückdenken, die er fünfzehn Jahre zuvor in Blankenburg gehalten hätte. Das wären großartige Leistungen gewesen, von denen die ganze Stadt gesprochen hätte. Die Schwierigkeiten wären jetzt in Braunlage weiß Gott nicht größer, er dürfe nur nicht an sich selbst verzweifeln. Ob meine Worte geholfen haben, weiß ich nicht. Es stürmte zu vieles auf mich ein, ich verlor Walkenried und Braunlage aus den Augen. Ich will nur wünschen, daß der Walkenrieder ohne gesundheitlichen Schaden durchgehalten hat und daß der Braunlager sich wieder gefangen hat.
Nebenbei zeigt meine Tätigkeit in Trautenstein, Walkenried und Braunlage, daß ich juristisch auf dem Trocknen saß.

Sie werden sich gewiß wundern, daß ich mich an die Vergangenheit mit noch so vielen Details noch erinnern kann, obwohl ich kein Tagebuch führte. Der Grund liegt darin, daß ich in meinem Ruhestand anfing, die Vergangenheit zur Wirklichkeit zu machen. Ich schrieb meine Erinnerungen in aller Ruhe nieder, vervollständigte sie mit alten Photos und Zeitungsberichten. Mein Ziel war, alles in allem etwa 200 bis 300 Seiten zu schreiben. Als ich aber im Laufen war, gab es kein Bremsen mehr. Ich schrieb was mir gerade in den Sinn kam, Rückblicke auf die Jugendzeit, den Militärdient, die Familie, die Vorfahren, auf Reiseerlebnisse, Buchkritiken und einen umfangreichen Gedankenaustausch mit meinen Freunden. Schickte mir der Philosoph Walter Hueck ein Manuskript von 1000 Seiten, dann kritisierte ich es auf 100 Antwortseiten. Schickte mir Otto Mock seine satirischen Glossen, versuchte ich ihn ironisch zu übertrumpfen, Mock wurde der Voltaire meiner Tage. Und der tragische H. H. Liebau wie auch Thomas Schäfer schickten mir lange Episteln in klassischem Latein. Wenn wir uns früher aber trafen, unterhielten wir uns weder lateinisch noch deutsch, sondern gern in meiner Lieblingsprache, der französischen. Auch meine Erinnerungen habe ich streckenweise in der französischen Sprache geschrieben. Liebau verwirklichte seinen tragischen Ikarusflug nachdem er zuvor zu der bitteren Erkenntnis kam:

Meine „Erinnerungen” wuchsen von Jahr zu Jahr auf 20 Bände, die wohl niemand lesen wird, die mir trotzdem viel Freude beim Schreiben gemacht haben. Was soll nun mit der Zentnerlast an Papier werden?
Meine Frau verweist auf die Anzeige im Abendblatt / AUGUST FÄHRT ALLES. Auch meinen Papierberg wird August eines Tages entrümpeln, es sei denn, ein Enkel meldet noch Interesse an.
Warum ich Ihnen von meinen „Erinnerungen" Mitteilung machen: nur weil sich darin auch einige Abhandlungen über die NS-Zeit befinden.
Einen Artikel schrieb ich unter dem Titel:
Adjutant Schulze oder Pressemeldungen aus dem Dritten Reich.
Hier sind nun einige Zeitungsausschnitte eingeklebt, die ich leider nicht aus dem Buch herausreissen kann, ohne es zu zerstören. So bleibt mir nur, die Texte abzuschreiben zur Vervollständigung Ihrer Akten. Denn Sie wollten wissen, woher die KZ-Häftlinge Flack, Adams und Pförtner kamen.
Der Ausschnitt aus der Braunschweiger Zeitung lautet:
Preisunterbietung
Solingen, 30.Sept. Im Auftrage der Deutschen Arbeitsfront wurden Freitag vormittag der Fabrikant Ernst Flack aus Solingen und der Heftemacher Paul Adams aus Wald in Haft genommen und dem Konzentrationslager Beyenburg zugeführt. Sie hatten entgegen den gesetzlichen Bestimmungen die bestätigten Preisverzeichnisse unterboten und dadurch den Wirtschaftsfrieden gestört.
Der 2. Ausschnitt lautet:
Schädling der Volkswirtschaft in Schutzhaft
Das Polizeipräsidium teilt mit: Der Frisör Otto Pförtner, Wilhelmstr. 22, ist für einige Zeit in Schutzhaft genommen worden, weil er sich eine die Volkswirtschaft aufs schwerste schädigende Handlungsweise hat zuschulden kommen lassen. Er hat gegen die Arbeitszeitvorschriften verstoßen…
Der Schutzhäftling Pförtner war also Braunschweiger und wohnte in der Wilhelmstrasse 22. was aus ihm und den anderen Häftlingen geworden ist, weiß ich nicht.
Wenn Sie genauere Kenntnisse über Klagges, Alpers und die anderen Braunschweiger Nazis gewinnen wollen, bleibt m. W. nur eine Rückfrage bei dem Sohn von Wilhelm Timmermann. Timmermann selbst ist vor mehreren Jahren an Verkalkung in Hamburg gestorben. Er war zuletzt Leiter des Männerwerkes in Hamburg Iserbrook. Timmermann hatte auf seinem Brief vom 13.Nov.1946, in welchem er mich um einen Persilschein bat, als Referenz einen Pater Kelch, Iserbrook, angegeben.
Ich bin nun zur hiesigen Propstei gegangen und habe mich nach P. Kelch u. Timmermann erkundigt. Kelch lebt noch. Seine Adresse:
Pastor Georg Kelch     geb. 6.5.1903
Adickesstr. 15         Tel. 8992069
2000 Hamburg 52        im Ruhestand seit 1.6.68
Der Leiter des Männerwerkes Dr. Timmermann ist der hiesigen Propstei nicht bekannt.
Daraufhin habe ich P. Kelch angerufen und folgende Auskunft erhalten: Timmermann ist verstorben. Seine 2. Frau lebt in Hbg-Rahlstedt. Aus dieser Ehe gingen 2 Söhne und eine Tochter hervor. Die Tochter war Lehrerin und ist verheiratet. Der eine Sohn lebt mit der Mutter zusammen. Adresse:
Klaus-Peter Timmermann
Veltheimstrasse 56
2000 Hamburg 75 Tel. 6722792
Von diesem Timmermann wird man nach Ansicht von P. Kelch noch einige Mitteilungen über den Vater Wilh. Timmermann erhalten können. Auch die unter gleicher Adresse wohnenden Witwe Timmenmann wird wohl Auskünfte zu geben in der Lage sein.
Auch P. Kelch hat sich ausdrücklich zu Auskünften über Timmermann bereit erklärt, obwohl er von der Nazi-Zeit nicht viel weiß. Er sagte nur, Timmermann wäre eine treue Seele gewesen. Er hätte auch ein Buch über die Segelschiff-Fahrt geschrieben. Nur die Scheidung der ersten Ehe hätte ihm, dem Pastor, garnicht gefallen.
Ich möchte Ihnen empfehlen, an die Witwe Timmermann und an den Sohn zu schreiben und um Mitteilung über die NS-Jahre zu bitten.
Sie fragten mich auch, ob Greiffenhagens Sohn Horst und die beiden Söhne von Nordheim wohl in der Lage seien, Auskunft über die NS-Zeit zu geben. Dazu bemerke ich: Nordheims Söhne leben m. W nicht in Europa. Auch die Witwe lebt nicht mehr. Adresse der Söhne ist mir unbekannt. Der Sohn Dr. Horst Greifenhagen ist bei der Uno oder der EWG tätig. Eine Adresse ist meiner Tochter nicht bekannt. Sie vermutet aber, mit dem Schwager von Horst, einem Herrn Waldt, in Kürze in den USA zusammenzutreffen. Das letzte Mal hat sie Horst zufällig bei einem Empfang in Paris getroffen. Meine Tochter glaubt aber, daß Horst Gr. von der NS-Zeit nichts mehr wissen wird, denn er war erst 11 Jahre alt als der Krieg zuende ging.

Noch ein Tip zu Ihrer Bernewitzstudie / Sie kennen vermutlich die braunschweigischen Tageszeitungen vom Dezember 1929, in denen ausführlich über den Prozeß der Kirche gegen den Staat wegen des Zuschusses zur Pfarrerbesoldung berichtet wurde. Die berühmte Sitzung fand vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig unter dem Vorsitz von Reichsgerichtspräsident Dr. Bumke statt.
Vor dem hohen Gericht sprach Bernewitz in feierlichen Worten und sagte, daß der Braunschweigische Staat alles darauf anlege, der Kirche den Odem abzudrücken.
Ministerpräsident Jasper trat dem Bischof in abstoßender Haltung entgegen und erwiderte:
Wenn der Landesbischof von Odem abdrücken rede, so sei nun klar erwiesen, daß er unter Odem der Kirche das Geld der Steuerzahler verstehe.
Präsident Bumke beruhigte die erhitzten Gemüter des öfters und bat, die Verhandlung ohne Schärfe zu Ende zu bringen.
Das war alles, was ich für heute zu melden habe.

Mit freundlichen Grüssen

Ihr
     

Jürgens beschäftigt sich in diesem Brief mit dem Schicksal seiner juristischen Kollegen nach dem Regierungswechsel im Januar 1933. Vieles, so schreibt Jürgens, sei „hautnah miterlebt“. Manches mag er auch aus der Zeitung erfahren haben. Mit diesem Brief ist der Briefwechsel zunächst beendet.



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