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[Kirche von Unten]

Hans Wilhelm Jürgens

Die Geschichte eines vergessenen Oberlandeskirchenrates

Eine Erzählung


von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf hier)




Der Quellenteil

Jürgens Brief vom 17.08.82

Hamburg, den 17.8.82

Dr. H.W. Jürgens
2000 Hamburg 55

Herrn Pastor Dietrich Kuessner
Kirchstrasse 3
3333 Büddenstedt

Sehr geehrter Herr Pastor!
Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief vom 15.8.82 und Ihre Schrift: „Kirche und Nationalsozialismus in Braunschweig".
Ich habe mich gleich darauf gestürzt und will Ihnen auch gleich antworten, denn wer weiß, wie lange ich noch schreibfähig sein werde. In meinem Alter kann ich nicht weitläufig disponieren. Zunächst habe ich Ihren Wunsch erfüllt und einen kleinen Artikel über Bernewitz abgefasst unter Verwendung meiner bereits mitgeteilten Eindrücke. Ich kann keine überzeugende Abhandlung mehr schreiben, aber vielleicht genügt Ihnen diese Skizze. Sie können frei damit verfahren, hinausstreichen, was Ihnen nicht gefällt und hinzufügen, was Sie aus meinem Briefwechsel nebenbei erfahren haben. Früher pflegte ich gern den Stil, heute kann ich nur noch aus dem Ärmel schütteln. Man darf also keinen zu strengen Maßstab anwenden.
Für Ihr Archiv füge ich einige Originale bei. Was Sie sonst noch archivarisch verwenden können, bitte ich Sie, bei Ihrem Besuch in Blankenese zu bestimmen. Dabei werden Sie auch Einblick nehmen können in meine “Erinnerungen", die zwar umfangreich, aber im Wesentlichen ohne Interesse für Sie sein werden. Was ich in meinem Ruhestand schrieb, hat keinerlei literarischen wert. Es sind Gedankenspiele eines Greises, eine Wiederbelebung vergangener Zeiten, ein endloser Briefwechsel mit uralten Freunden, aber auch mit einem poetischen Enkel, auf den ich viele Hoffnungen setze. Die
Erinnerungen an Wolfenbüttel und Braunschweig sind mehr als dürftig ausgefallen. Das ergibt sich schon daraus, daß diese Epoche meines Lebens negativ verlief. Wer will schon das Scheitern seiner Laufbahn wachrufen! Selbst mein Sohn hat sich - als er heranwuchs - mit Grausen vom juristischen Beruf seines Vaters abgewandt, obwohl ich gern gesehen hätte, daß er diesen für mich immer noch interessantesten aller Berufe für sich gewählt hätte. Aber er erfuhr von dem üblen Hinterhalt, den menschlichen Bosheiten, die mich zu Fall brachten und wandte sich der Biologie zu, um in der Anthropologie seine Erfüllung zu finden.
So hat Hoffmeister es sogar fertig gebracht, selbst meinen Sohn aus dem Berufsideal seines Vaters zu vertreiben. Meine Tochter war dagegen bereit, das Jurastudium zu beginnen. Das wollte ich aber verhindern weil Frauen mir nicht dazu berufen erscheinen.
So bat ich meine Tochter, erst einmal schneidern zu lernen und als sie fähig war, ihre Garderabe bestens selbst zu fertigen, bat ich sie, zunächst einmal ihr Dolmetscherexamen in Englisch und Französisch zu machen. Nachdem sie damit gut abgeschnitten hatte fand ich keinen Grund mehr, ihr Jurastudium zu verzögern. So fing sie beim römischen Recht an. Aber sie landete -wie vorauszusehen- in der Ehe.
Für Ihren Besuch in Blankenese bitte ich die Zeiten vom 28. 8. bis 20. 9. 1982 auszusparen und außerdem die Tage vom 8. bis 10. 10.82, denn während dieser Zeit bin ich auf Reisen.
Ich möchte nicht, daß wir uns verfehlen!
Zu Ihren Fragen vom 13. kann ich folgende Antworten geben: Ra. Kahn kannte ich gut. Ich habe ihn als zuverlässigen Kollegen stets geschätzt, seine Frau übrigens auch wegen ihrer großen pianistischen Begabung.
Frl. Randau und Ra. Linke habe ich nicht kenenen gelernt. Die Richter Höse, Grimpe und Lerche habe ich als Richter nie genossen, mit Lerche habe ich aber nach dem Kriege einmal in Wolfenbüttel verhandelt, als ich wegen eines Opfereiprozesses einmal nach Braunschweig kommen mußte, um als Zeuge vernommen zu werden. Um was es für eine Sache ging, weiß ich nicht mehr. Nur ist mir noch klar im Gedächtnis, daß der vernehmende Richter von den strittig Rechtsproblemen keine Ahnung hatte und daher garnicht in der Lage war, die Vernehmung ordnungsgemäß durchzuführen. Im Anschluß an diesen Gerichtstermin sprach ich mit Lerche, teilte ihm meine Enttäuschung über der Verlauf des Termines mit und sagte: kein Mensch verliert gern sein Gesicht und genau diesen Eindruck hätte ich gewonnen. Lerche nahm ein Protokoll auf, um der Sache nachzugehen. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht mehr.
Ein OLGPräsident Lachmund ist mir unbekannt. Sie meinen wohl den LGPräsidenten Lachmund, der das Urteil über Beye fällte. Ich habe ihn ganz aus den Augen verloren.
Über die Freiräume der Verteidiger im Dritten Reich kann ich schwerlich ein treffendes Urteil fällen, da mir die unmittelbare Verbindung fehlte. Die von mir geführten Verteidigungen waren -abgesehen vom Beye-Prozeß- ziemlich unbedeutend. Das Strafmaß erschien mir aber bei den fraglichen Bagatellfällen überhöht.
Vor allem Sittlichkeitsdelikte wurden m. E. zu schwer bestraft und damit viel seelisches Leid verursacht. Mit politischen Prozessen habe ich mich nicht befasst. Aber mein Hamburger Freund
Leonhard Grisebach, Sohn des hanseatischen Senatspräsidenten, erzählte mir eingehend von seinen NS-Verteidigungen. Dabei war für mich interessant, daß die Urteile meist mit Tod und Hinrichtung endigten, daß aber die amtierenden Richter nicht gerade glücklich wurden. Mit einem dieser Richter, Landgerichtsdirektor Erich Möller, Hamburg, war ich befreundet. Er verurteilte den Arzt meiner Mutter zum Tode. Der Grund: der Arzt war kein Arzt, sondern ein genialer Lazarettgehilfe, der die Papiere eines verstorbenen Mediziners angenommen hatte... Nachdem 10 berühmte Professoren meiner Mutter wegen eines Magenleidens nicht helfen konnten, brachte es ausgerechnet dieser falsche Arzt fertig, meine Mutter nachhaltig zu kurieren! Dr. Kaum hieß der Delinquent. Sein Schicksal war besiegelt, denn es war ein arisch aussehender Wiener Jude. Dr. Kaum wurde hingerichtet. Doch der LGDirektor Möller folgte ihm ins Grab. Ich sagte meinem Freund Möller: Du hast den Retter meiner Mutter hingerichtet. Sein Delikt war aus der Verfolgung und Verzweiflung entstanden und niemals todeswürdig. Möller antwortete mir, Du hast Recht, mein Freund, der Tote zieht mich nach.
Möller verfiel in Wahnideen. Eines Tages sankt er tot über seiner Akten zusammen. Ich hielt ihm -trotz allem- die Grabrede.
Die Juristen meiner Braunschweiger Epoche kannte ich fast alle. In Blankenburg residierte einst ein entfernter Onkel von mir, der Oberamtsrichter Schilling, zuständig für Strafsachen und Grundbuchrecht. Daneben amtierte Amtsrichter Mitgau, den man den Waschbären nannte, wegen seines Bartes. Mit beiden verstand ich mich prächtig. Auch mit dem Blankenburger Kreisdirektor Schultz kam ich gut aus, obwohl er als schwierig galt. Schultz hatte die Schwester des Emden-Kapitäns Müller geheiratet und da der Emdenheld Müller in Blankenburg hoch verehrt wurde, fiel auch auf Schultz ein wenig von dem Glanz ab. Auch an den anderen braunschweigischen Gerichten kannte ich nur brauchbare Rechtswahrer, wenn auch die Begabungen sehr unterschiedlich waren. Es gab schlechte Richter mit guten Menschenkenntnissen und daher treffenden Urteilen.
Zum Thema Nationalsozialismus bemerke ich noch: Für den Dom in Braunschweig habe ich mich mit ganzer Leidenschaft eingesetzt.
Ich ließ mich auch im Dom 1929 trauen, natürlich von dem Heimatpfarrer meiner Frau, Pastor Kalberlah aus Alvesse. Der Domorganist Walrad Guerike setzte sein ganzes Können ein, um mich zu erfreuen, der Domkantor Wilms war mir stets in allen Domfragen hilfreich.
Als Hitler den Dom umwühlte, rief mich Wilms, um die schändliche Zerstörung anzuschauen. Ich war entsetzt. Heinrich des Löwen Grab war leicht zu identifizieren an seinem zerbrochenen Bein. So stand auch fest, daß die neben ihm liegende Gestalt die Gemahlin Mathilde war. Hitler soll -so berichtete Wilms- der Frau eine noch gut erhaltene Locke abgeschnitten und zur musealen Verwendung abgegeben haben. Die neben Heinrich dem Löwen im Dome beigesetzten hohen Würdenträger waren aus ihrer Gräber gerissen. Die Gebeine kreuz und quer in morschen Kartoffelkisten. Pietätloser konnten man nicht verfahren, als es hier geschah.
Der genannte Pastor Kalberlah war der Vater des späteren Kirchenrates Kalberlah in Braunschweig. Der Pastor in Alvesse hatte dort segensreich gewirkt. Meine Schwiegereltern Roloff hielten viel von diesem guten Seelsorger. Als er starb, übernahm P. Buttler die Pfarrstelle. Aber mit Buttler wurde die Gemeinde nicht glücklich. Buttler fehlte die Ruhe, Güte, Ausgeglichenheit. Es gab grundlose Spannungen und Zerwürfnisse. Ich besprach den Fall einmal mit Dr. Breust in der Hoffnung, einen Wechsel erreichen zu können. Doch Breust reagierte merkwürdig. Er sagte: Seien Sie froh, daß Sie in Alvesse so viele Jahre einen so guten Pfarrer wie Kalberlah gehabt haben. Sie können doch nicht erwarten, für alle Zeit eine so guten Pfarrstellenbesetzung zu behalten. So konnte ich meine Schwiegereltern nur trösten, daß man auch die sieben mageren Jahre hinnehmen müßte.
In Ihrem Brief an den Vater vom 27.4.80 schreiben Sie, daß 90 % der Deutschen christlich seien, aber ebenso viele Prozente dem Hitler -wenigstens bis 1938- zugestimmt hätten. Hier befinden Sie sich in einem fundamentalen Irrtum. Meine Familie und vieler meiner engsten Freunde haben bei den Hitlerwahlen stets mit nein gestimmt, obwohl wir im Wahllokal die Ja-Plakette angehaftet bekamen. Als wir am Tage nach der Wahl die Ergebnisse lasen, stellten wir fest, daß die Neinstimmen gestrichen waren. Nach meinen Erfahrungen waren alle Hitlerwahlen gefälscht, wie dies bei solchen Diktaturwahlen üblich ist. Ich bin auch der Ansicht, daß Hitler zu keiner Zeit die Mehrheit des Volkes gewonnen hatte. Nur in Österreich war die Zahl der Hitlerwähler größer. Bei uns konnte Hitler weder mit den Stimmen der Kommunisten noch der Sozialisten noch der Konservativen rechnen. Dabei koppelte er die Ja-Stimme in infamer Weise mit einer vaterländischen Frage, sodaß man nur schreiben konnte: Natürlich ja zur Saar, aber Nein zur NSDAP.
Und wenn Ihr Herr Vater die Frage aufwirft: Waren wir nicht schuldig geworden, daß wir uns nicht umgesehen haben, was alles im NS-Staat gespielt wurde? (Seite 90 oben) so kann ich nur darauf
Antworten: wir haben uns sehr wohl umgesehen und haben bittere Tränen vergossen. Was konnten wir aber tun? Ein kleines Beispiel: Meine treue Klavierlehrerin Lotte Dahn, Hamburg, wurde als Jüdin nach Theresienstadt gebracht. Sie hätte zu Verwandten nach Schweden entfliehen können, aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß man sie physisch vernichten würde. So kam sie zwangsweise in den Osten und schrieb uns aus dem Lager verzweifelte Briefe wegen des furchtbaren Hungers. wir schickten Lebensmittelpakete so viel wir konnten und zeigten in Briefen unsere Verbundenheit. Einige Sendungen erreichten ihr Ziel. Dann kam der nächste Brief zurück mit dem kurzen Vermerk: Empfänger verstorben!
Was nützt das Wissen von diesen furchtbaren Morden, die sich bei vielen meiner Bekannten wiederholten. Wer dagegen protestierte hatte mit seiner eigenen Vernichtung zu rechnen und obendrein noch mit der Sippenhaftung von Frau und Kindern. Wer bereit war, sich durch einen Protest zu opfern -wie Pater Kolbe- konnte dieses Opfer nur bringen, wenn er nicht seine ganze Familie in die Vernichtung nachzog.
Für mich und die Meinen gab es nur den Weg der inneren Abkehr. Dabei stand ich nicht einsam auf weiter Flur. Die Menschen, die die Hitlerherrschaft verachteten war weit größer, als man im allgemeinen annimmt.
So muß ich auch Ihre Frage beantworten: Kann man überhaupt an die Front fliehen? Ja, man konnte es wirklich! Im Dienste der Wehrmacht war man freier als im zivilen Leben. Ich persönlich habe meinen Wehrdienst unter Hitler geradezu als eine Erlösung von den Hoffmeister-Schikanen angesehen. Ich war fest davon überzeugt, daß Hoffmeister seinen Plan, mich ins KZ zu bringen, eines Tages verwirklichen würde - selbst mit gefälschten Dokumenten. Ein Soldatentod war mir aber tausend Mal lieber als die KZ-Vernichtung.
Bei den Soldaten konnte ich auch viel verhüten, z. B. konnte ich jede Beförderung durch vertrauliche Absprache mit dem Kommandeur verhindern, jede Ordensverleihung umgehen und wenn mir so ein Kreuz unversehens an die Brust geheftet wurde, konnte ich es im nächsten Augenblick in der Hosentasche verschwinden lassen auf Nimmerwiedersehen. Als man mir eröffnete, ich müßte die Stellung eines Kriegsgerichtsrates übernehmen, konnte ich meinen Kommandeur dazu bewegen, einen anderen Juristen zu suchen. Jede Ehrung durch Hitler empfand ich als Schande. Die Kunst war nur, sich durchzulavieren und nicht aufzufallen. Ich hatte dabei viel Glück und fand auch manchen Kameraden, der die gleiche Taktik anwandte.
Auf Seite 9 Ihrer Schrift erwähnen Sie den Nutzen, den die Kirche durch das vertrauensvolle Nebeneinander mit dem NS-Staat hatte. Während in den 20iger Jahren keine einzige Kirche errichtet wäre gelingt es der Kirche nach 1933 bis 1940 5 neue Kirchen zu bauen. Dabei ist zu bedenken, daß es vor 1933 keine neuen Großsiedlungen gab und daher kein Bedürfnis für Kirchenbauten. Neue Siedlungen konnten aber unmöglich ohne kirchliche Versorgung bleiben.

Man kann es auch so ausdrücken: Der NS -Staat plante, baute und siedelte an allen Orten. Der Kirche gelang es trotz gewisser Behinderungen die kirchlichen Gebäude zur Betreuung der neuen Gemeinden in einem erträglichen Rahmen zu erstellen. Hätte der Staat diese kirchlichen Bauten verboten, dann wäre das der Beginn des Auslöschens des kirchlichen Lebens gewesen. Dabei darf man auch nicht übersehen, daß es viele Parteigenossen gab, die sich gegen den Fortbestand der vorhandenen Kirchen bereits auflehnten. So erklärte der NS-Generalstaatsanwalt Müller, die deutsche Landschaft wäre herrlich, wenn sie nicht durch so viele Kirchen verunstaltet sei. Von einer Urlaubsreise aus Süddeutschland heimgekehrt sagte er, es wäre doch schrecklich, daß aus jedem Dorf ein gräßlicher Kirchturm herausschaute und in Bayern gar noch in Zwiebelform! Solche Pg hätten sicher alles daran gesetzt, um neue Kirchenbauten zu verhindern. Man darf die effektiv vorhanden gewesenen Spannungen nicht ignorieren. Sie wurden nur durch das Kriegsgeschehen überlagert bzw. auf spätere Zeit vertagt. Ein so prominenter Mann wie der Generalstaatsanwalt hatte jedenfalls Gewicht. Das mag für heute genügen.

Mit freundlichem Gruß
Ihr
     
PS.
Ich überlasse Ihnen gerne auch meine Handakten, soweit noch vorhanden. Gewicht: etwa 4 kg.
Die Rechtsfragen werden für Sie uninteressant sein. Aber es finden sich darin Originalunterschriften von Jasper, Moser, Sievers, Rasche, Bernewitz, JR Jürgens, Morawitz, Guericke, Wilms u.a.
Auch einige Zeitungsausschnitte,
Abhandlung über die Dompfarre und Text d. Art. V §25 Instr. Pacis Osnaburgensis könnte evtl. Ihr Interesse finden.



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