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[Kirche von Unten]

Hans Wilhelm Jürgens

Die Geschichte eines vergessenen Oberlandeskirchenrates

Eine Erzählung


von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf hier)




Der Quellenteil

Jürgens Brief vom 3.01.1983

Hamburg, den 3.Januar.1983

Dr. H.W. Jürgens
Babendiekstr. 2
2000 Hamburg 55

Herrn Pastor Dietrich Kuessner
Kirchstrasse 3
3333 Büddenstedt

Sehr geehrter Herr Pastor!
Von der EEB wurde mir die Schrift: „Staat und Kirche im Lande Braunschweig. Eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit" zugesandt. Gewißlich geschah das auf Ihre Veranlassung. - Ich danke Ihnen dafür aufs Herzlichste. Alle abgedruckten Vorträge habe ich mit großem Interesse gelesen wobei mich Ihre Abhandlung: „Landesbischof Dr. Helmuth Johnsen ein deutsches Schicksal" natürlich besonders fesselte.
Ich fühle mich mit Helmuth Johnsen eng verbunden und das mag für Außenstehende ein Rätsel sein, denn es gab eigentlich nichts, was uns hätte verbinden können: Ich war weder Amtsbruder noch Angehöriger einer ihm nahestehenden kirchlichen Gruppe oder politischen Bewegung oder Partei. Ich war Hitlergegner von Anbeginn an und Feind aller NS-Doktrinen. Es waren also alle Voraussetzung dafür gegeben, daß ich mit Helmuth Johnsen einen Zusammenprall erleben mußte. Doch schon die erste Stunde unserer Begegnung fügte uns zusammen. Johnsen sollte bei seinem Amtsantritt in Wolfenbüttel durch ein hinterhältiges Intrigenspiel zu Fall gebracht werden. Das empörte mich. Um einem offensichtlichen Unrecht entgegenzutreten, stellte ich mich auf Johnsens Seite und erkannte alsbald, daß meine impulsiv getroffene Entscheidung richtig war. Hatte Helmuth Johnsen seine Radikalität abgestreift, war er vom völkischen Eiferer zum besonnenen Mann der Mitte geworden? War er ein Mensch in seinem lebendigen Widerspruch? Oder erschien er uns nur deshalb so widersprüchlich, weil er in eine Welt und Umwelt gestellt wurde, die nach 1918 alle bewährten Überlieferungen auflöste und die Menschen in einen Hexenkessel schleuderte?
Im tosenden Meer der Zeit gab es keine Orientierung mehr! Es gab nur Not, Elend, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Demütigung und Erbarmungslosigkeit. Hatte der erste Weltkrieg Millionen von Opfern gefordert, die Folgezeit wurde weit schlimmer. Sie nahm uns das Brot, die Arbeit und die Ehre. Das große Sterben mit zum Teil ausrottendem Charakter begann. Es beschränkte sich nicht auf Deutschland. Die spanische Grippe - eine Folge des Krieges - sprang über die Grenzen und hinterließ allein in Nordafrika Millionen von Toten. Das alles weiß die Jugend von heute nicht. Aber Helmut Johnsen wußte es und erlebte es in seiner Region.
Wir brauchen in der Gegenwart nicht unter Hunger zu leiden und nicht zu fürchten, daß Frau und Kinder und nächste Angehörige durch Not, Zermürbung oder Gewalt ins Grab gerissen werden. Wie manchen lieben, trefflichen Menschen hatte ich persönlich damals zu beklagen! - Uns fehlt heute jeder Maßstab, um die Reaktionen auf jene Epoche der zwanziger Jahre richtig messen zu können! Deshalb können wir auch nicht behaupten, daß Helmuth Johnsen wankelmütig und widersprüchlich handelte. Ich hatte vielmehr den Eindruck und gewann zunehmend die Überzeugung, daß er eine absolut charakterfeste Persönlichkeit war. Alles, was er tat, geschah folgerichtig aus tiefster Überzeugung um unserer Ehre willen, unserer Heimat willen und um Christi willen! Wer sich für so hohe Ziele einsetzte, stand über Vorwurf und Tadel, selbst wenn er sich von einem Idealismus tragen ließ, der später von Hitler pervertiert wurde. Helmuth Johnsen konnte nicht im luftleeren Raum wirksam werden. Er sah - leider - keine andere Stütze als die völkische Bewegung. Aber sein Kampf war - ganz im Gegensatz zu Hitlers - ein Kampf in strenger sittlicher Verantwortung. Wenn Johnsen sich damals gegen die jüdische Weltanschauung wandte und ihre Ablösung durch eine christlich-deutsche forderte, so doch niemals im Sinne der NS-Endlösung der Judenfrage!
Natürlich sprach ich mit Johnsen über die Kristallnacht und die Judenverfolgung. Er rückte keineswegs von mir ab, als ich erklärte, daß wir in Hamburg angesichts der Verdienste eines Albert Ballin, Max Warburg, E. Banks und Budge keine Antisemiten sein könnten und daß ich treueste jüdische Freunde hätte, die über den Tod hinaus unverbrüchlich zu mir gehörten. Ein echter Nationalsozialist hätte mich bei solchem Bekenntnis als artfremd von sich gestoßen. Johnsen aber zeigte -bei allen ihm durch Partei und Staat gesetzten Grenzen- Verständnis für meine Einstellung, wenn sie auch nicht in Einklang zu bringen waren mit seinen weltanschaulichen Einflüssen. Eine große Persönlichkeit stellte sich über die Strömungen der Zeit. Ich sollte nicht nur sein „Protonotar" sein, wie er sich sympathisierend ausdrückte, sondern mit ihm im gegenseitig Vertrauen kameradschaftlich zusammenarbeiten. So wurde der Landesbischof mein Kamerad, ja, ich darf sagen: ein Freund!
Dabei war es nicht irgend ein gutes Konzept, was mich überzeugte, denn wer glaubte bei der Fülle sich überschlagender und widersprechender NS-Programme und Proklamationen noch an Konzepte, sondern er überzeugte, weil er uns ganz einfach als Christ und Mensch mit ehrlichen Worten entgegentrat.
Mögen viele Worte der Coburger Epoche und der Folgezeit gegen das von mir gezeichnete Charakterbild Helmuth Johnsens sprechen, Worte -zeitbedingt und zeitverzerrt- sind mir nur Schall und Rauch. Dagegen steht die Gestalt eines aufrechten, tüchtigen Mannes und fairen Kampfers, der mir unvergeßlich bleiben wird!
Kann Helmuth Johnsen aber auch der Generation der Enkel das bedeuten, was er mir war?
Ja, ich bin davon überzeugt, daß er das kann. Schon Enkel Björn beeindruckte die Tatsache, daß sein Großvater auf der Suche nach einem Ausgleich der Spannungen im kirchlichen Raum -unter Gefährdung seiner eigenen Position- für Mitglieder der Bekennenden Kirche eintrat. Der Enkel weist auch mit Recht den Gedanken zurück, daß sein Großvater dabei nur als Taktierer gehandelt habe.
Natürlich sieht der Enkel das Verhältnis der Kirche zur Obrigkeit anders als sein Großvater. Die Jugend distanziert sich von der unbedingten Loyalität gegenüber den gerade Herrschenden und wünscht sich eine unbequeme Kirche um ihrer Glaubwürdigkeit willen.
Das besagt aber nicht, daß diese Jugend die Väterkultur schlechtlich verneint und sich auf der Suche nach einer alternativen Kultur befinde. Im Gegenteil, von meinen eigenen Enkeln, die zur Zeit bei der Bundeswehr dienen, weiß ich -wie auch von ihren Kameradenkreisen- daß man mit Entschiedenheit nach einer „Ethik der Ordnungen " ruft und die Ethik der Wandlungen als Wandlung zum Untergang ablehnt. Die Jugend will nicht in Nebel und Irrgarten geführt werden, wie dies zu Hitlers Zeiten in schändlicher Weise geschah. Sie will verhüten. daß sich eine solche Tragödie wiederholt. Sie will helfen, den Frieden zu erhalten und damit ihre eigene Zukunft zu sichern.
Beglückend ist es, wenn mir ein Enkel gerade jetzt zum Jahreswechsel versichert, daß er mich bei vollem Respekt vor der Großväterlichen Autorität als seinen besten und treuesten Freund empfinde. - Wenn sich zwischen Vater und Sohn Generationsprobleme ergeben sollten, werden sie spätestens von den Enkeln überwunden.
Die Autorität der Väter kommt -zum Segen aller- immer wieder zum Durchbruch. Die Väterkultur, als echte tiefverwurzelte Kultur verstanden, schlägt die Brücke der Verständigung mit der jungen Generation. - Ich will dafür nicht mein eigenes Elternhaus als Beweis anführen, denn das war in seiner vollkommenen Harmonie sicher eine Ausnahme, denn: auftretende Probleme führten nie zu Spannungen, Spannungen brauchten nicht -wie andernorts- mit Liebe zugedeckt werden. Die Klugheit, Ruhe, Güte und Weisheit des Vaters war so dominierend, daß man sich freudig seiner Autorität unterstellte. Und das geschah nicht nur im Rahmen der Familie, sondern auch im Berufsleben im Kreise der Mitarbeiter und Untergebenen, besonders aber im Kriege 1914-18, wo mein Vater als Frontoffizier Vorbild und guter Kamerad in einer Person war. Hier zeigte sich also die Vaterkultur in einem Idealzustand. Aber auch in abgeschwächter Form blieb sie immer noch ein Segen für unser ganzes Volk. Sie ist praktisch durch nichts zu ersetzen. Das Leben erfordert die väterliche Autorität.
Ohne Autorität des Papstes wäre die katholische Kirche verloren, ohne Papst und Kirche wäre Polen verloren. Ohne die Väterkultur wäre Familie und Vaterland verloren. Ja, die Nation wäre verloren, - wie Friedrich der Große bemerkte - die ihre Kultur verdrängte, die Phänomen des nationalen Bewußtseins und die Leistungen des eigenen Volkes nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
Wer schützt uns nun aber vor einem Mißbrauch der Vaterkultur, vor dem Mißbrauch der Autorität, vor diktatorischer Machtergreifung, vor Tyrannei, Imperialismus und Cäsarenwahn, vor allem, was über uns durch Hitler hereingebrochen ist?
Mit Sicherheit steht fest, daß die Väterkultur nicht Ursache des Mißbrauches war. Trotz Verelendung und Arbeitslosigkeit folgte die Mehrheit des deutschen Volkes nicht den Verlockungen des angeblichen Befreiers. Solange das Volk frei wählen konnte, stimmte es in seiner Mehrheit gegen Hitler. Wenn die NSDAP verkündete, Hitler hätte alle deutschen Herzens erobert, dann war das nichts als eine Propaganda-Lüge. Erst nachdem sich Hitler durch Gewalt in den Vollbesitz der Macht gebracht hatte, konnte er natürlich jede weitere Wahl oder Volksabstimmung manipulieren, wie dies im diktatorischen System üblich ist. - Jedenfalls hat das deutsche Volk mit seiner Väterkultur sich in seiner Mehrheit gegen Hitler gestellt und ihm daher nicht die Möglichkeit eines Autoritätsmißbrauches gegeben.
Wenn es das Volk nicht war, wer war es dann?
Das deutsche Volk war durch das Versailler Diktat gelähmt. Der Sieger verlangte nach Ausplünderung und Requirieren aller greifbaren Güter eine Kriegsentschädigung von 226 Milliarden Mark in Gold und 12 % der gesamten Ausfuhr. Die irrealistische Forderung war nur ein Vorwand, um ins Ruhrgebiet einzubrechen und den Ausfuhrtribut auf 50 % zu erhöhen. Der totale wirtschaftliche Zusammenbruch Deutschlands sollte durch anschließende Verhandlungen behoben, das Leben wieder normalisiert werden. Doch alle Bemühungen waren vergeblich. Die Welt war aus den Angeln gehoben, die Geister unheilbar verwirrt. Hitler nutzte diese Verwirrung zu einem Paukenschlag, gerichtet gegen das deutsche Volk und gleichzeitig gegen die Versailler Bedrücker. Wir waren ausgeplünderte, hilfslose Zuschauer eines dramatischen Geschehens! Wir erkannten aber:
Gegen Despotie hilft weder Gesetz noch Ordnung,
weder Volkswille noch Vaterkultur,
weder Friedenswille noch Gottvertrauen.

Wer glaubt, er könne durch Preisgabe der sittlichen und kulturellen Werte eines Volkes, zu denen auch die Vaterkultur gehört, die Gefahr einer Despotie mindern oder ausschließen, wird erfahren, daß er damit die Despotiegefahr unmittelbar heraufbeschwört.
Der Friedenswille der Khmer und der Afghanen hat sie nicht vor der Vernichtung bewahrt. Kambodschas Volk ist ausgerottet, die Afghanen verhungern unter Giftgaswolken. Im heutigen Sprachgebrauch heißt das: Befriedung. Dennoch kämpft dies tapfere Volk um den Fortbestand seiner Heimat und seiner Kultur. Denn diese Menschen wissen - wie wir - :
Verloren ist das Volk,
das Sitte, Ehre, Familie, Vaterland
und alle Werte ehrwürdiger Tradition und Religion
preiszugeben bereit ist, um ein Sklavendasein
frönen zu können.
So sieht es auch der größte Teil unserer jungen Generation und dieses Bewußtsein erfüllt mich an meinem Lebens-Abend mit Zuversicht und Frieden.

Herzlichst grüßt Sie
mit den besten Wünschen für 1983
Ihr
     

Jürgens hat im Laufe des Briefwechsels mehrere Arbeiten über jene Zeit erhalten. Anfang 1983 erhielt er den Bericht über die Vortragsreihe in der Wolfenbüttler Herzog August Bibliothek. Ein Vortrag beschäftigte sich mit Bischof Johnsen unter dem Gesichtspunkt „Ende der Väterkultur.“ Darauf nimmt Jürgens lebhaft kritisch Stellung und wiederholt seine Nähe zu Kirchenpolitik und Persönlichkeit des Bischofs, die er in den bisherigen Briefen bereits ausgiebig geschildert hatte.



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