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Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Perikope kurz erklärt

Im Gottesdienst werden seit Jahrhunderten zwei Bibelabschnitte vorgelesen, einer aus den vier Evangelien, ein anderer aus den Briefen der Apostel. Diese Bibelabschnitte werden Perikopen genannt.

In der Wolfenbüttler Herzog August Bibliothek befinden sich einige Blätter, auf denen solche Bibelabschnitte vor mehr als tausend Jahren für eine Kathedrale um 500 n. Chr. aufgeschrieben worden sind. Im Mittelalter sind diese Bibelabschnitte im sog. Evangelistar (im Unterschied zu einem Evangeliar, das ein Evangelium fortlaufend enthält) reichlich verziert aufgeschrieben worden.

Johannes Bugenhagen hat in seiner Kirchenordnung von 1528 den Stadtbraunschweigern verordnet, dass in einem evangelischen Gottesdienst Epistel und Evangelium vorgelesen werden sollen. In der Messe wurden die Perikopen in lateinischer Sprache vorgetragen, teilweise auch gesungen. Das Gottesdienstvolk brauchte nichts zu verstehen, es wurde Gottes Wort vorgetragen. Dem sollte es sich beugen. Das sollte sich nun ändern. Die Lesungen wurden in deutsch vorgetragen. Der Gottesdienstbesucher sollte glauben und verstehen. Die Perikopen rückten in die Mitte des Gottesdienstes und wurden seitdem zu einem bedeutsamen, von Generation zu Generation überlieferten Kulturgut.

Die Perikopen wurden nicht nur vom Altar aus einer Lutherbibel vorgetragen, sondern auch in der Predigt ausgelegt. In den evangelischen Gottesdiensten wurden für die Predigt lange Zeit die sog. Postillen benutzt, das waren vorgefertigte Predigten. Diese hatten den Vorteil, dass die "rechte Lehre" verkündigt wurde. Martin Luther hat selber eine Kirchenpostille zu allen Sonntagen geschrieben, um die lutherische Lehre besonders auch bei den "schwachen Brüdern" zu sichern. Der Schliestedter Pastor Georg Wolters hat die Pastorenbüchereien aus dem Jahr 1572 untersucht und Postillen von Martin Luther, Georg Major, Johann Brenz, Johann Matthesius und vielen anderen dort gefunden. Am beliebtesten und weit verbreitet waren die Postillen von Peter Ulner, Prediger im Dienst der Herzöge Heinrich und Julius. Die Postille wurde zum literarischen Aufbewahrungsort der Perikope.

Die katastrophale Situation in den Kirchengemeinden nach dem 30jähriger Krieg suchte der leitende Geistliche in der Braunschweigischen Landeskirche Joachim Lütkemann 1652 durch der Herausgabe von Predigten über die Episteln zu lindern. Welche anderen Postillentexte die Kanzeln unserer Landeskirche beherrschte, ist noch unerforscht.

Eine Revolution in der Perikopengeschichte war der Abdruck der Perikopen in den Gesangbüchern. Die Ausgabe des Braunschweiger Gesangbuches von 1744 enthielt den vollständigen Abdruck der Episteln und Evangelien für alle Sonn- und Festtage. Erstmals gelangte die Perikope aus den Händen des Priesters und Pfarrers in die der Gottesdienstbesucher. Die Perikopen konnten nun mitgelesen werden. Auch das Braunschweigische Gesangbuch der Aufklärung, das erstmals 1780 erschien, hatte einen Perikopenteil ausgedruckt. Der Bewahrungsort der Perikope war nun nicht mehr allein die Postille, sondern das Gesangbuch. Im Gesangbuch konnten sie zu Hause oder während des Gottesdienstes mitgelesen werden.

In der Regel predigte der Pfarrer über die sonntägliche Perikope. In der Aufklärungszeit jedoch lockerte sich allmählich dieser "Perikopenzwang", und die Pfarrer predigten über andere Abschnitte aus der Bibel, über sog. "freie" Texte. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts begannen Braunschweiger Pfarrer ihre eigenen Perikopenpredigten zu veröffentlichen. 1821 erschien eine Evangelienpostille aus der Feder des 56jährigen Pfarrers Friedrich Ludwig von Kalm. von Kalm war seit 1808 Pfarrer in Bettmar und Sierße und ist dort 1858 gestorben und begraben. Der Predigtband gibt einen Einblick, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Landgemeinden der Landeskirche gepredigt worden ist.

In der Aufklärungszeit hatte sich der Gottesdienst immer mehr zu einem liturgielosen Wortgottesdienst entwickelt. Das war als radikale Absage an eine protestantische Gottesdienstform, die sich seit der Reformationszeit an der römisch-katholischen Messordnung orientiert hatte, eine beachtliche Alternative. Auf diese Weise rückten die Perikopen näher an die Predigt und in die Mitte des Gottesdienstes. Sie gewannen an Bedeutung. In dieser Zeit forderte die Braunschweiger Stadtgeistlichkeit eine zweite Perikopenreihe. In einer Beratung am 16. Mai 1794 empfahlen sie dem Herzog, die traditionelle Perikopenreihe unverändert zu lassen, aber einige von ihnen zu verbessern und daneben einen neuen Perikopenjahrgang einzuführen. Das kann als ein Beispiel gelten für einen Vorgang, den Peter Cornehl folgendermaßen beschreibt: "Die offenkundige Krise des gottesdienstlichen Lebens gegen Ende des 18. Jahrhunderts war also nicht die Folge der Aufklärungstheologie, sondern deren Voraussetzung. Die Liturgik der späten deutschen Aufklärung muss vielmehr als ein großangelegter Versuch gewertet werden, den Verfall aufzuhalten und die Gottesdienstkrise durch Modernisierung im kognitiven wie im kommunikativen Bereich mit neuem Leben zu füllen."

Die Umsetzung des Vorschlages der Braunschweiger Stadtpfarrerschaft scheiterte an dem Konsistorium, das auf die strikte Einhaltung der Agende von 1709 beharrte. Der liturgielose Wortgottesdienst konnte die Bedeutung der Perikopen auch schwächen. Es wurde darauf hingewiesen, dass alles in der Predigt gesagt und ausgelegt würde, was eine Altarlesung unverständlicher Episteln überflüssig mache. Eine Reform der Perikopen blieb in den nächsten Generationen im Gespräch.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk