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[Kirche von unten]

Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Der unglückliche Zeitpunkt für eine Perikopenrevision

Die evangelisch-lutherische Kirche im Braunschweiger Herzogtum um 1850

Die Alterspyramide der Pfarrerschaft
Die Mitte des 19. Jahrhunderts war für unsere Landeskirche eine unruhige Zeit. Im Dienst waren sie alle, die 242 Pfarrer, der Jüngste mit 29 Jahren Ferdinand Vogler in Söllingen, der Älteste mit 87 Jahren Ludwig v. Kalm in Bettmar, dort noch im Dienst. Mit ihm noch zwei andere über 80 Jährige im Dienst der Kirche: der 83 jährige August Schröter in Oelsburg und der 82 jährige Nathalius Günther in Jerxheim. v. Kalm und Schröter waren schon sehr lange in ihren Gemeinden, Schröter seit 1804, also 48 Jahre und von Kalm seit 1808, also 44 Jahre. Das war nicht typisch, aber bezeichnend. Man starb in der Gemeinde, weil es keine zufriedenstellende Alterssicherung gab. Die meisten waren Jahrgang 1802-1812; also die 40-50 Jährigen: insgesamt 121 Pfarrer, und 55 Pfarrer waren zwischen 50 und 60 Jahre (Jahrgang 1792-1802).
Hinter allen lagen schwere Jahrzehnte. Die über 50 Jährigen hatten als Jugendliche die napoleonische Zeit und das Hungerjahr 1816 erlebt, der größte Teil den patriotischen Aufschwung der sog. Freiheitskriege und den folgenden wirtschaftlichen Abschwung, den schon die Zeitgenossen eine Zeit der Verelendung, des Pauperismus nannten. Zu jener Zeit steckten die 22 über 30 Jährigen (Jahrgang 1812-1823) noch in den Kinderschuhen. Pastor Funke beschrieb in der Nummer 6 der Amtsbrüderlichen Mitteilungen die Lage jener Zeit folgendermaßen: "Bei dauernder Lebensnot treten die leiblichen Bedürfnisse so unabweisbar hervor, dass, wenn auch höhere Lebenselemente sollten aufgenommen worden sein, diese erstickt werden und die ganze Richtung des Menschen immer mehr sittlich bodenlos wird. Der hohe Beruf des Christentums ist es, dem Menschen den inneren Seelenfrieden zu bringen: wie aber ist solches möglich, wenn die fortdauernde Unsicherheit der Existenz, die stete Sorge: was werden wir essen, was werden wir trinken, womit uns kleiden? den Menschen zu keiner inneren Ruhe kommen lässt?"
41 Pfarrer waren über 60 Jahre (Jahrgang 1783-1792), elf über 70 Jahre alt (Jahrgang 1773-1782). Die Erinnerung dieser Älteren reichte in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts
Aber 176 Pfarrer waren zwischen 40 und 60 Jahre alt. Diese Alterpyramide war für das kirchliche Leben der Landeskirche nicht ungünstig.

Kirchenzwangsmitgliedschaft
Warum unruhig? Viele Pfarrer fühlten sich in ihrer Kirche schon lange nicht mehr wohl. Sie wollten mitreden, sie wollten raus aus der erstarrten Form ihrer Institution.
Die Erstarrung hatte ihre Gründe, die für Stärken gehalten wurden. Formal herrschte in der Gesellschaft noch Kirchenmitgliederzwang. Jeder Bewohner in der Braunschweiger Region musste einer Religion angehören: jüdisch, katholisch, reformiert oder lutherisch sein. Es bedurfte also keiner besonderen Anstrengung seitens des Ortspfarrers, seine Mitglieder zusammenzuhalten. Sie gehörten alle dazu, ob willig oder unwillig. Von den 271.800 Bewohnern in den Stadt- und Dorfgemeinden des Herzogtums waren im Jahre 1845 263.340 evangelisch-lutherisch, denn es bestand Taufzwang. Darüber reden die Historiker nicht gerne, und fragen nicht nach den Folgen. Denn Zwang in der Kirche ist nicht schön, und Taufzwang unfein. Aber so war es.
Ob diese erzwungene Mitgliedschaft allerdings das Bewusstsein der Bewohner bestimmte, ist zweifelhaft. Man kannte nichts anderes und machte auch, als nach 1873 im Herzogtum Braunschweig die Möglichkeit zum Kirchenaustritt bestand, zunächst nur sehr sparsamen Gebrauch davon. Aber trotz (oder wegen?) Tauf- und Mitgliedschaftszwang lockerte sich die Kirchenbindung, entleerten sich die Gottesdienste. Nur 30 % ließ sich noch kirchlich bestatten. Die Mehrheit sparte sich die Kosten und organisierte selber eine "stille Bestattung". Kirchenmitgliederzwang und Kirchendistanzierung schufen für viele eine spannungsvolle Unruhe. Der Zustand der Kirche war erstarrt und bröckelte.

Domänenpächter und Adel als Arbeitsgeber auf dem Lande
Ansehen und Einfluss richteten sich auf den Dörfern nach dem Landbesitz. Der größte Arbeitgeber in den Dörfern waren die großen landwirtschaftlichen Betriebe, die zum überwiegenden Teil in der Hand des Staates waren. Der Staatsbesitz wurde von Domänenpächtern verwaltet, die auch die Funktion eines Amtmannes, Oberamtmannes oder Amtsrates hatten. Wer von den Dorfbewohnern "auf dem Amte" arbeitete, konnte schon als privilegiert gelten. Es gab um 1850 ca 62 Domänengüter, die große Flächen zwischen 200 und über 600 Hektar Land bewirtschafteten. Die Domänenpächter beherrschten politisch und gesellschaftlich das Dorf. Was sollte ohne ihren Einfluss besser werden?
Nicht nur die Domänenpächter, auch der in Privathand befindliche, auf lange Tradition beruhende Landbesitz der Adelsfamilien prägte die Dörfer. Ihre Rittergüter in gepflegten Parkanlagen ragten architektonisch aus dem Dorfbild heraus. Auch sie gehörten zum bevorzugten Arbeitgeber im Dorfe. Sie beherrschten durch Acker-,Wiesen- und Waldbebesitz viele Dörfer.
Der Adel war mit den Kirchengemeinden in der Weise verbunden, dass er ein sog. Patronat in der Kirche ausübte. Er hatte gewisse Rechte bei der Pfarrerwahl, er "präsentierte" den Pfarrstellenbewerber, war für die Bauunterhaltung der Dorfkirche mitverantwortlich, erhielt auch einen Sitz im Kirchenvorstand. In den Kirchen des Dorfes gehörte dem Rittergutbesitzer ein herausragender Platz, manchmal mit dem Ortspfarrer auf Augenhöhe auf der Empore der Altarwand, von wo aus die Familie auf die Gottesdienstgemeinde herabsehen konnte, oder er besaß ein besonderes Kirchengestühl im Altarraum, zu dem von außen oft ein eigener Eingang führte. Von den Pfarrstelleninhabern wurde erwartet, dass sie an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht rüttelten, sondern sie durch Predigt und Seelsorge stabilisierten.
Insgesamt 69 Kirchenpatronate gab es damals in der Landeskirche mit noch heute klangvollen Namen: v. Cramm (Sambleben), v. Veltheim (Destedt), v. Gadenstedt (Lebenstedt), v. Bülow (Gr. Brunsrode), v. Grone, v.d.Schulenburg (Nordsteimke). Aber die Patronate waren nicht beliebt und eine Reform oder gar die Abschaffung der Patronate stand ganz oben auf der Wunschliste der Pfarrerschaft.

Geringes gesellschaftliches Ansehen der Pfarrerschaft
Das gesellschaftliche Ansehen der Pfarrerschaft in seiner Gesamtheit blieb gering. Die Predigersynode in Helmstedt diskutierte 1852 über folgendes bezeichnende Thema: "Wenn Ansehen, Einkommen und Wirksamkeit des Predigers infolge eines nicht freundlichen Zeitgeistes und auch der neusten Gesetzgebung nicht wenig gefährdet und gemindert erscheint; wenn der geistliche Stand für einen Teil des s.g. gebildeten Publikums eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist; wenn endlich infolge dieser Ungunst der Verhältnisse für tüchtige, in ihrer Berufswahl nicht gebundene junge Leute kein geringer moralischer Mut dazu gehört, sich dem Kirchendienst zu widmen: so fragt sich, wie diesen zur Aufmunterung und uns selbst zur Beruhigung die Lichtseite unserer amtlichen Verhältnisse mit objektiver Wahrheit vorzustellen sein möchte."
Schon 1838 hatten die Pfarrer in der Generalinspektionen Holzminden, Gandersheim, Helmstedt Braunschweig über die bezeichnende Frage diskutiert: "Nicht selten finden sich zumal unter den sogenannten Honoratioren in Landgemeinden Solche, die notorisch einem groben Materialismus zugethan sind, und deshalb auch sich dem öffentlichen Cultus gänzlich entziehen. Welche Stellung hat der Prediger solcher Gemeinden gegen dergleichen Menschen, besonders was das gesellige Leben betrifft?" Die Entfremdung war - so wird es üblicherweise dargestellt - eine Folge der Säkularisierung, ein anderer, wenig beachteter Grund war, dass Teile des Braunschweiger Adels seit der Reformation kein Verhältnis zur evangelischen Kirche gefunden hatten und von Anfang an abseits bei ihrem Besitz blieben.

Eine unabhängige kirchliche Leitung der Landeskirche gab es nicht. Das herzogliche Konsistorium im Gebäude am Wolfenbüttler Schlossplatz war eine Außenstelle des Staatsministeriums in Braunschweig. Der Präsident des Konsistoriums war immer ein Jurist, der seinen Wohnsitz 1850 in der Landeshauptstadt hatte. Konsistorialpräsident Geheimrat Friedrich Schulz war seit 1843 Finanzminister und sah seine eigentliche Aufgabe im Staatsministerium in Braunschweig, nicht in Wolfenbüttel im Konsistorium. Die geistlichen Aufgaben des herzoglichen Konsistoriums in Wolfenbüttel erledigten zwei theologische Konsistorialräte, ein weiterer befasste sich mit Schulangelegenheiten. Ihnen untergeordnet waren die sechs Generalsuperintendenten. In dieser eng an den Staat ausgerichteten Organisation hatte der Herzog keine wesentliche Rolle. Er übte zwar das Amt der ihm zustehenden "Kirchengewalt" formal aus. Was immer ihm hinsichtlich der Landeskirche zugetragen wurde, ließ er vom Staatsministerium bearbeiten und beantworten.

Pfarrer geben ein Mitteilungsblatt heraus
Ein erstes Anzeichen von Unruhe in der Pfarrerschaft war die Schrift des 30jährigen Pfarrers Carl Heinrich Jürgens aus Negenborn im Jahre 1831 mit dem Titel "Über die Nothwendigkeit durchgreifender Reformen bei der gegenwärtigen Lage Deutschlands" sowie die Gründung einer eigenen, fachinternen Zeitschrift, die "Neue Amtsbrüderliche Mittheilungen Braunschweigischer Landesgeistlichkeit aus dem Kreise der Wissenschaft, der Kirche, des Amtes und Lebens." Die erste Nummer erschien 1832. Die Zeitschrift war eine Idee von liberalen Pfarrern, gedacht zum gegenseitigen Austausch, zu Anregungen aus Wissenschaft und Leben, an denen es ihnen fehlte. Herausgeber war Anton Wirk, der 53 jährige Pfarrer in Abbenrode.
Die vielseitigen Aufsätze geben ein lebendiges Bild von den damaligen Interessen in der Landeskirche:
Für eine bessere Fortbildung der Lehrer warb ein Artikel unter dem Titel "Über ein wichtiges Bedürfnis im Volksschulwesen" , der Aufsatz "Was tut der Kirche unseres Landes Noth?" wünschte eine wirksamere Beaufsichtigung der Prediger und zitierte die in Nr 1 genannte Aufgabenstellung: "auf das Vaterland und seine Geistlichen berechnet, auf Vorschläge zur Abstellung von Übelständen im Kirchen und Schulwesen" und "dass wir frei und unumwunden reden, wie es uns ums Herz ist." Fragen der kritischen Bibelexegese diskutierte ein Candidat aus dem Predigerseminar , ein Pfarrer warb in einer mehrteiligen Reihe in einem fiktiven Brief an einen jungen Theologiestudenten für das Studium der kritischen Bibelexegese und für ein gründliches Studium des Alten Testamentes. Das sei eine "wesentliche Amtspflicht". Er schloss seinen Artikel mit einem liebenswürdigen Schnörkel in zeitgenössischem Stil: "Lassen Sie uns der hohen Vorzüge unserer Zeit nicht unwert, und den Studien, die an sich so nothwendig wie heilsam und gerade gegenwärtig besonders einladend und erfreulich sind, nicht abhold sein. Lassen Sie uns Melanchthons Wort: theologus in scripturis nascitur an uns in seinem ganzen Umfang in Erfüllung gehen. Auch die Sionitischen Harfenklänge sollen uns nicht vergeblich ertönen und unter den Cedern Libanons wollen wir heimisch werden und bemühen."
Auch das Konsistorium hatte diese Unruhe bemerkt und die Pfarrerschaft zur Mitwirkung an einer grundlegenden Neuordnung des Gottesdienstes aufgerufen. Die geltende Agende von 1709 sei überholt; nun sollte die Reform "zu einer Angelegenheit der gesamten Landeskirche" werden, die Pfarrer Texte für ein allgemeines Kirchengebet, Altargebete, Antiphone, Ordnungen für Amtshandlungen, sogar für einen Gottesdienst schriftlich fixieren, auf Synoden diskutieren und dann zur Prüfung an das Konsistorium schicken. Allerdings wurden die Pfarrer gleichzeitig gehalten, "zu genauer Beobachtung der festgesetzten liturgischen Ordnung und der im Wesentlichen vorgeschriebenen Form, die heiligen Gebräuche zu verwalten, verpflichtet." Der Inhalt dieses Zirkularschreibens ging an der Stimmung in der Pfarrerschaft völlig vorbei.

Pfarrer dringen lautstark auf Reformen
Im Oktober 1831 entlud sich nach einer Synodalsitzung der Inspektion Thiede-Engelnstedt der Zorn der Synodalen in einem 20 Seiten langen Brief an das Konsistorium, in dem sämtliche Beschwerden der Kirche gegenüber der Gesellschaft aufgezählt wurden: öffentliche Veranstaltungen zur Gottesdienstzeit, das Fehlen der Jugend in den Betgottesdiensten am Sonntag Nachmittag, sog. "wilde" Ehen, Abgaben, die an die Pfarrer nicht gezahlt würden, das Verhältnis zu den Patronaten, die jämmerliche Lage in Schulen auf dem Lande, das Armenwesen - es schien das ganze Kirchenwesen auf dem Prüfstand zu stehen.
Wie ein Aufschrei wirkte ein Jahr später ein neun seitiges Schreiben vom 27. 1. 1832, das von 184 Pfarrern und Lehrern unterzeichnet worden war. Es sei veranlasst durch den "jetzt unter den höheren Ständen sehr verbreiteten unkirchlichen Zeitgeist", wie "die betrübende und höchst bedenkliche Schlaffheit" des Volkes "Der an dem sittlich-religiösen Staatsleben nagende Krebsschaden ist gewiss durch keine politische oder diplomatische Operation gründlich zu heilen. Eine Radicalcur, die auf das innerste sittliche Lebensprinzip der höchsten wie der geringsten Stände heilend einwirken muß, kann nur von der Kirche und ihrem Lehrstande selbständig ausgehen." Zu den dann vorgebrachten Beschwerden gehörte die veraltete Liturgie, das Bestehen der Patronate, Mängel im Kirchenrechnungswesen, sowie die Lage der Landschule. "Ein tief erschütterndes Mitleid muss Jeden des Mitgefühls bei fremder Not noch nicht ganz beraubten Menschen ergreifen, wenn er das Los der unglücklichen Landschullehrer und zweiten Predigerwitwen und ihrer unmündigen Familien erwägt." Dieser grundlegende Reformwille in der Pfarrerschaft hatte vor allem die Absicht, die Landeskirche aus der festen staatlichen Umklammerung zu befreien und der Landeskirche eine neue Verfassung zu geben.

Erneuter Reformanstoß aus der Pfarrerschaft
Mit dem republikanischen Rückenwind der 1848er Bewegung erneuerten einige Pfarrergruppen die Forderung nach einer neuen Verfassung. 23 Pfarrer aus der Generalinspektion Holzminden stellten am 10. April 1848 in einer Petition an den Herzog fest: nicht der Staat nur, auch die Kirche bedürfe der freien Entwicklung, wenn sie ihren erhabenen Beruf erfüllen solle. 10 Pfarrer der Inspektion Schöppenstedt forderten am 25. Mai 1848 vom Herzog die Einberufung einer Generalsynode, die aus Geistlichen und Nichtgeistlichen zusammengesetzt sein sollte.18 Pfarrer der Generalinspektion Blankenburg wünschten in einer Verfassung u.a. Aufstellung einer zeitgemäßen Agende und Liturgie, einen Ausgleich der unterschiedlichen Einkommen, Aufhebung der Patronate Einzelner, Neuordnung des Verhältnisses zur Schule. Es gab auch Gegenwind. Generalsuperintendent Stöter in Helmstedt spottete über die "Petitionssucht einiger unserer vaterländischer Amtsgenossen". In Helmstedt hatten sich 42 Pfarrer der Generalinspektion Helmstedt versammelt. Die Lehrer sollten zwar der niederen Küsterdienste enthoben werden, aber Kirche und Schule seien inniger als bisher zu verbinden. Die Besoldung der Pfarrer sollte überprüft und die "Patronate der Privaten" aufgelöst werden. Generalsuperintendent war mit dem zurückhaltenden Kurs der Versammlung "im Ganzen zufrieden".
Das Konsistorium berief eine repräsentative Fachgruppe ein, die sich in einer dreitägigen Tagung Ende Juli 1848 den Reformbestrebungen anschloss und Grundsätze zu einer Verfassung formulierte. Alle Pfarrer erhielten das Ergebnis der Konferenz in Protokollform zur Gegenäußerung zugeschickt. Das war eine außergewöhnliche Aktion zur Mitarbeit der Pfarrerschaft. Das Interesse war sehr groß. Die versandten 153 Exemplare reichten nicht aus. Es mussten noch Exemplare nachgeliefert werden.
Am 5. und 6. Dezember 1848 versammelten sich in Wolfenbüttel fast die halbe Braunschweiger Pfarrerschaft, insgesamt 105 Pfarrer und Kandidaten aus allen Generalinspektionen und verabschiedeten eine Petition, in der die Landesversammlung zu einer besseren Zusammenarbeit mit den kirchlichen Organen aufgerufen wurde. Das Verhältnis zur Landesversammlung berührte tatsächlich einen heiklen Punkt.

Eine Verfassungsreform
"Die evangelische Kirche der Zukunft" lautete ein mit B. und H. gezeichneter Artikel jener Zeit im Braunschweigischen Magazin : "Mit jedem Tag werden die Stimmen lauter und zahlreicher, die nach einer freisinnigen, bürgerlichen Verfassung auch eine Reform in den kirchlichen Verhältnissen dringend fordern." Das eben begonnene Jahr (1849) werde wahrscheinlich in unserem Land eine Entscheidung bringen
in das Verhältnis der evangelischen Kirche zum Staat und über die Verfassung. Der Artikel diskutierte die Pfarrstellenbesetzung. Das Patronatsrecht wurde als erledigt angesehen, es gebe in Zukunft nur die Entscheidung zwischen einem Gemeindewahlrecht oder dem Besetzungsrecht der Oberbehörde. Das waren weitreichende Wünsche, die jedoch die Hoffnungen auf eine Kirche der Zukunft widerspiegelten.
Es wurden Ausschüsse gebildet und Ende Dezember 1849 legte eine Kommission tatsächlich eine neue Verfassung vor und schickte sie den Kirchengemeinden wiederum zur Gegenäußerung zu.
Pfarrer Ernst Tischer, bald Superintendent in Pabstorf, fasste in einem "Beitrag an den Vorarbeiten zur Reorganisation der Kirche" die Reformwünsche knapp zusammen. Er kritisierte die "vollendete Einverleibung der Kirche in den Staat", es fehle "eine selbständige geistliche Oberbehörde" sowie "ein gesundes Zusammenwirken der Gemeinden untereinander". Es fehle außerdem der evangelischen Kirche ein "Centralpunkt für die gesamte protestantische Kirche Deutschlands."

Die Frage einer neuen Verfassung für die Landeskirche blieb nicht kirchenintern, sondern wurde öffentlich diskutiert. Die Verfassung wurde 1850 in nicht weniger als acht Beiträgen im Braunschweiger Magazin vorgestellt. Sie wurde auch zur Machtfrage zwischen den Regierenden und Einflussreichen und der Pfarrerschaft.

Eine Einkommensreform
Ein weiteres dringendes Reformvorhaben der Pfarrer, das mit der Verfassung verknüpft war, war eine Änderung der Einkommensverhältnisse. Die Kirchengemeinden waren lokal sehr unterschiedlich mit Acker- und Gartenland ausgestattet. Danach richtete sich das Einkommen der Pfarrerschaft. Die Pfarrstelle Lichtenberg brachte 1200 Taler bei 142 Morgen Acker, Westerlinde 1073 Taler bei 195 Morgen, Halchter 1040 Taler bei 119 Morgen, Bruchmachtersen 1107 Taler bei 136 Morgen, hingegen die Kirchengemeinde Hötzum 398 Taler bei 26 Morgen, Volkmarode 358 bei 28 Morgen. Es gab ca. 28 Kirchengemeinden, deren Einkommen so gering war, dass sie auf staatliche Zuschüsse angewiesen waren. Aber das Einkommen von 51 Pfarrstellen war laut Pfarrkataster mit über 800 Talern überdurchschnittlich hoch, 41 Pfarrstellen brachten sogar über 1000 Taler ein. Ein Dorflehrer dagegen verdiente ca. 130 Taler jährlich. Es setzte ein unwürdiges Rennen nach einer besser dotierten Pfarrstelle ein. Jene Amtsbrüder, die auf einer gut dotierten Pfarrstelle saßen, harrten oft bis zum Tode auf der Pfarrstelle aus. Das Alter des Pfarrstelleninhabers, die Größe der Familie, die Größe der Gemeinde, auch das akademische Studium hatten keine Bedeutung bei dieser Einkommensregelung. Dieser skandalöse Zustand galt Jahrhunderte lang unveränderbar. Er wurde lange nicht als skandalträchtig empfunden, sondern als gottgewollt hingenommen. Es galt auch in der Kirche die Domänen- und Landadelsdevise: Haste was, dann biste was, haste nix, dann biste nix. Dieser Zustand sollte nun ein Ende haben. Eine Einkommensreform stand ganz oben auf der Liste der Reformwünsche eines Teils der Pfarrerschaft.

Kirche und Schulreform
Wesentlicher Bestandteil der geltenden Kirchenordnung war das Verhältnis der Ortskirche zur Schule im Ort.
Die Frankfurter Nationalversammlung hatte auch zu einer gründlichen Überprüfung des Verhältnisses von Kirche und Schule aufgerufen. Dagegen sträubten sich große Teile der Landeskirche. Pastor Dedekind vom Kloster Marienberg nannte die beabsichtigte Trennung der Kirche von der Schule einen Widerspruch zur Entwicklung des deutschen Volkes, sie erscheine unnatürlich und bedeute eine Rechtsverletzung. Dedekind ging von der für ihn unumstößlichen Tatsache aus, dass "der Geist des Christentums, dessen Träger die Kirche seit ihrer Entstehung gewesen, das deutsche Volk an Mark und Bein durchdrungen habe". Die sichtliche Entfremdung der Bevölkerung von der Kirche sah er nicht. Der Vorsitzende des Lehrervereins Seesen H. Wunderlich erwiderte mit einer deutlichen Forderung der Trennung, wie sie dann bis 1918 immer dringlicher wiederholt, ohne dass der Kirche jeder Einfluss auf die Schule genommen wäre.

Die Schaffung einer Verfassung, die Reform des Einkommens und die Klärung des Verhältnisses von Schule-Kirche scheiterten, weil nach Einschätzung von Zeitgenossen "in einflussreichen, maßgebenden Kreisen wenig Neigung vorhanden war, der Kirche durch Neuordnung ihrer Verfassung aus der schwierigen Lage herauszuhelfen."

Einführung von Kirchenvorständen
Weitere Aufregung erzeugte das Gesetz zur Einrichtung von Kirchenvorständen. Konsistorialrat Abt Hille hatte mit einer Pfarrergruppe 1850 einen Entwurf ausgearbeitet, der viel Staub aufwirbelte. Es war vor allem die Art der Gesetzgebung, die Proteste auslöste. Über das Gesetz zu einer im Grunde rein innerkirchlichen Angelegenheit sollte die Landesversammlung abstimmen. War sie dafür zuständig? Lief das Vorgehen nicht den Wünschen nach mehr Selbständigkeit durch eine neue Verfassung zuwider? Es warf ein Zwielicht auf die Überlegungen einer Kirchenverfassung. "Es ist uns schmerzlich, dass unsere Hoffnung nicht erfüllt ist." Wenn die vorhandenen Schäden in der Kirche nicht vermehrt werden sollten, dann sei eine Grundbedingung, "dass sich das Kirchenregiment lossage von den Formen der Staatsverwaltung, in welche es gegen seine Natur gezwängt worden ist, und dass die kirchliche Behörde frei gemacht werde von der unselbständigen Verwebung in den Organismus der Staatsbehörden".
Das Gesetz wurde von der Landesversammlung verabschiedet und Ende 1851 eingeführt. Das bedeutete sehr viel mehr Arbeit in den Pfarrämtern.

Auch der "Fall Jürgens" ging einer Entscheidung entgegen. Jürgens hatte neben seinem Stadtoldendorfer Pfarramt politische Ämter in seiner Dorfgemeinde, in der Braunschweiger Ständeversammlung und sogar in der Frankfurter Nationalversammlung eingenommen und viel beachtete Arbeit in den Parlamenten geleistet. Aber er war auch angeeckt. Nach der Auflösung der Frankfurter Versammlung kehrte er 1850 nur kurz in die Landeskirche zurück und nahm an einer Inspektionssynode teil. Das Konsistorium war einverstanden, dass Jürgens um Entlassung aus seinem Dienst nachsuchte. Seine Stadtoldendorfer Gemeinde kämpfte noch um seine Rückkehr ins Pfarramt. Auch sein Superintendent schrieb ein glänzendes Zeugnis. Jürgens entschied sich 1851 für eine journalistische Tätigkeit in Hannover. Mit 59 Jahren starb er 1860 in Wiesbaden.

Zu aller gesellschaftspolitischen Unruhe verbreitete sich seit 1848 in weiten Teilen des Braunschweiger Landes die Cholera. Sie forderte zahlreiche Tote, unter ihnen den leitenden Konsistorialrat Wilhelm Westphal im Alter von 58 Jahren.

Um diese Zeit erhielten die Pfarrer die Aufforderung von Konsistorialrat Abt Hille, sich binnen kurzer Zeit zu einer Reform der biblischen Lesungen (Perikopen) zu äußern. Kein ganz günstiger Zeitpunkt.
Wilhelm Hille, im Folgenden kurz skizziert, gehört zu den einflussreichen Theologen der Braunschweigischen Landeskirche.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk