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[Kirche von unten]

Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Wilhelm Hille - ein Lebensbild

Wilhelm Hille ist im Pfarrhaus in Veltheim geboren. Sein Vater Conrad Hille (1754-1831) war dort schon seit 20 Jahren Pfarrer gewesen, die längste Zeit unverheiratet. Er veröffentlichte verschiedene Predigten, die einen anschaulichen Einblick in einen liturgielosen Wortgottesdienst vermitteln. . Mit 46 Jahren heiratete Conrad Hille die 37 jährige Sophie Johanna Heusinger. Am 16. Februar 1803 wurde ihnen der Sohn Wilhelm geboren, aber vier Wochen später starb die Mutter 40 jährig. Der Vater taufte den Sohn über dem Sarg der Mutter. Was mag es für die Prägung und Entwicklung eines Kindes bedeuten, wenn es in den ersten drei Lebensjahren ohne die leibliche Mutter aufwachsen muss?
Der Vater wechselte die Gemeinde in das benachbarte Sickte. Hier blieb er 20 Jahre lang und heiratete erneut. Wilhelm hatte nun eine Mutter und ging beim Vater in den ersten Unterricht, wie es damals üblich war. Die Kindheit verlebte Hille auf dem Lande.

Schulzeit und Studium
Vom 10. Lebensjahr an besuchte er das Gymnasium in Wolfenbüttel und wohnte bei Familie Stegmann, den Eltern seiner neuen Mutter. Als der hochgewachsene Wilhelm Hille 14 Jahre alt war, hatte er bereits die letzte Klasse, die Prima, erreicht, das war 1817. Er erlebte als Jüngster und doch Klassenbester den fortwährenden Wechsel der nachrückenden Schüler, die das Abitur machen konnten, weil sie das nötige Alter hatten. Er musste vier Jahre lang in der Prima verharren, bis er zum Abitur zugelassen wurde. Wann, wo und vom wem Wilhelm konfirmiert wurde und ob er seine Flegeljahre ausleben konnte, ist nicht bekannt, weil die Familienchronik Hille, die noch Johannes Beste für seine Darstellung im Braunschweiger Magazin 1909 zur Verfügung stand, verschollen ist.
Aber auch die Studienzeit benutzte Wilhelm Hille nicht zu einer Ausreise in eine fremde Welt, sondern er wählte die nächstliegende Uni, Göttingen, und beendete, hochbegabt, sein Studium bereits nach fünf Semestern. Sein erstes Geld verdiente Hille als sog. Kollaborator, eine Art Hilfslehrer, am Wolfenbüttler Gymnasium, und drei Jahre später von 1827-1833 am Helmstedter Gymnasium. Nun verfügte er über die nötigen Finanzen, um mit 25 Jahren, 1828, Auguste Stegmann zu heiraten. Sie wurden in Woltorf vom Vater Konrad getraut, der inzwischen Superintendent in der Inspektion Süpplingen geworden war.

Pfarrer in Marienthal und Superintendent der Inspektion Vorsfelde
Mit 31 Jahren, für damalige Verhältnisse sehr frühzeitig, erhielt Hille im Jahre 1833 die Pfarrstelle in Marienthal. Das war eine kleine Gemeinde mit 143 Gemeindemitgliedern. "Der Ort besteht, außer der Försterei und Mühle, nur aus den Zubehörungen des vormaligen Klosters Marienthal", beschreibt Pfarrer Carl Venturini in seiner Geschichte des Herzogtums Ort und Bewohner von Marienthal. Gerhardt Schildt bezieht die finanzielle Situation folgendermaßen mit ein:
"Es lebten im Dorf der Gutspächter mit einem Einkommen von über 1000 Taler, der Förster (400- 499 Taler), zwei Jäger, ein Schafsmeister, ein Hofmeister und ein Lehrer mit je 100 - 199 Talern Einkommen und 18 weitere Dorfbewohner mit unter 100 Talern Einkommen. Zum Klosterhaushalt gehörten 761 Morgen Acker, 157 Morgen Wiese und 43 Morgen Gärten, und entsprechend überdurchschnittlich war das Einkommen der jungen Familie Hille. Es betrug 867 Taler. Schon ein Jahr später wurde Hille Superintendent für die Inspektion Vorsfelde. Das konnte als ein besonderer Vertrauensbeweis der Wolfenbüttler Konsistorialbehörde, insbesondere des ehrwürdigen Abt Bank, gelten.

Die Predigten Hilles
Einen Einblick in seine Person zur damaligen Zeit als Pfarrer und Superintendent geben Hilles Predigten, die er selber veröffentlicht hat. Schon bald nach seiner Einführung als Pfarrer von Marienthal wurde die Klosterkirche renoviert und wenige Jahre später eine neue Glocke eingeweiht. Die Predigt zur Glockenweihe über Psalm 95, 1,2,7,8 fasste der 33jährige Hille unter das Thema zusammen: "Wie der ernste und fromme Mensch in den Tönen der Glocke Gottes heiligen Ruf vernimmt". "Ernst und fromm" war die beständige Glaubensmelodie Hilles von Anfang an. "Ernst" nannte Hille die Bestimmung der Glocke, die Gemeindemitglieder an die Flüchtigkeit des Lebens wie an das zwischen Leid und Freude wechselnde Lebensschicksal zu erinnern. "Im Glück Demut! aber im Leid die Wege Dem befohlen, der da waltet über den Wechsel der Zeit. Das ist die Sprache der Glockentöne an des ernsten und frommen Menschen Herz."

Das Thema einer Predigt am Sonntag nach Weihnachten über die Geschichte von Hanna und Simeon lautete: "Der Weg, der zu einem glücklichen Alter führt." Darin warnte der junge Pfarrer Hille vor den Sünden der Jugend. "Fleuch die Sünden der Jugend, die Leib und Seele verderben, so lautet der erste nicht genug zu beherzigende Ruf." Alte Menschen, deren Leben durch manche Jugendtorheit und Jugendsünde entweiht gewesen seien, später jedoch durch Gottes Gnade zu einem würdigen und geachteten Greisenalter gelangt seien, - "solche Fälle gehören doch immer zu den höchst seltenen Ausnahmen, und nur zu bittere Früchte des Unheils tragen der Regel nach die Sünden einer schuldbefleckten Jugend in den Tagen des Alters." Ausschweifender Leichtsinn früherer Jahre habe unberechenbares Wehe über die späten Jahre gebracht und "lasterhafte Befleckung des Fleisches und Geistes die Blütentage ihres Lebens vergiftet". Man hört die Warnungen des Großvaters in Wolfenbüttel an den 16/17jährigen Schüler Wilhelm. Unbeeindruckt von pastoralen Warnungen hatte sich allüberall die Dorfjugend auf den Spinnstuben Freiräume zum gegenseitigen Kennenlernen und Erobern geschaffen. Auch in der Gemeinde Marienthal. Dorfpfarrer Hille rief, als ihm das jugendliche Treiben zu Ohren kam, die Eltern nach der Predigt in der Schule zusammen, so steht es in der Familienchronik, und forderte sie auf, mit Zucht und Ordnung dem Unwesen in den Spinnstuben zu begegnen. Ein älterer Dorfbewohner habe ihm entgegnet: "Sei hät wohl ganz recht, Herr Pastor; aber ick will Sei man seggen: dei Katte lät das Musen nich." Da prallen zwei Erfahrungswelten aufeinander, die die Isolierung des kirchlichen Bemühens aufdecken. Hille veröffentlichte eine Predigt vom 2. Sonntag nach Epiphanias unter den Überschrift "Der Weg zum häuslichen Glück" und versah diesen Weg mit folgenden ernsten Mahnungen: "Prüfe wohl, bevor zu wählest". "Leiste mehr als du forderst." "Dulde vieles, eh Du klagest." "Was du tust, das tue nicht ohne Gott". Es ist eine Predigt über die Geschichte von der Hochzeit zu Kana. Hille transponierte sein ideales Bild einer christlichen Familie in diesen Bibeltext Johannesevangelium 2, 1-11. Hille überging das Wandlungswunder von Wasser zu Wein in sechs Krügen, die Rede der Maria: "Was er sagt, das tut", die Deutung der Geschichte als Offenbarung der Herrlichkeit. Eine spätere Betrachtung hat solche klassische Auslegung der Aufklärungszeit nach den Kriterien der kritischen Bibelexegese nicht bloß für unzureichend gehalten, sondern der Lächerlichkeit preisgegeben. Aber wer wollte den Ernst der Auslegung, die unmittelbare Zuwendung an die Predigtzuhörer, den ethischen Appell bestreiten? Nicht selten hatten die Gottesdienstbesucher den Bibeltext während der Predigt vor sich und haben ihn mitgelesen. Der Predigt der Aufklärungszeit ist im 20. Jahrhundert mit wenig Achtung begegnet worden.

In der Predigt bei der Trauung seines Sohnes Wilhelm in der Wolfenbüttler Marienkirche benannte Vater Hille gleich zu Beginn eine "ernste" Stimmung: "Geliebte Kinder, Ihr seid vor Gott erschienen mit freudigem, aber auch wie wir Alle, ich weiß es, mit ernstem Sinn". In diesem Augenblick "an der Grenzscheide zweier so wichtiger Lebensabschnitte ist Eure Seele ernst gestimmt und wir, Eure Eltern, Geschwister und Freunde teilen mit Euch diesen Ernst". Es ist im Folgenden auch viel von der Freude im künftigen Haus- und Ehestand die Rede, zumal der Trautext 2. Kor. 13,11 mit der Aufforderung zur Freude beginnt: " Zuletzt, meine Lieben, freut euch, seid vollkommen, tröstet euch.." Vor dem Trauversprechen bittet Hille die göttliche Majestät, dass die Brautleute "mit heiligem Ernst und ernsthaftem Herzen ein Gelöbnis ablegen". Dieser Grundton eines "milden Ernstes" scheint mir auch aus dem einzigen amtlichen Foto von Hille herauszutönen.

Generalsuperintendent in Helmstedt
Mit 37 Jahren wurde Hille in einem ganz ungewöhnlich jungen Alter für diesen Posten Generalsuperintendent in Helmstedt. Das Ehepaar Hille zog im Jahr 1840 mit fünf Kindern zwischen einem und elf Jahren vom ländlichen Marienthal in das große Haus der Generalsuperintendentur am Papenstieg. Die Generalinspektion Helmstedt hatte die Inspektionen Wolsdorf, Königslutter, Vorsfelde, Calvörde, Velpke, Schöningen und Jerxheim mit insgesamt 44 Pfarrämtern zu visitieren. Hille übernahm ein offenbar kirchlich schwieriges Gelände. Ernst Ludwig Theodor Henke, bis 1839 Konsistorialrat in Wolfenbüttel, schrieb ihm aus eigenem Erleben von "schauerlicher Verwüstung und Verödung" des dortigen kirchlichen Lebens. Hille predigte am Einführungstag, dem 2. Weihnachtstag 1840, über das Evangelium des Tages, die Geschichte von der Steinigung des Stephanus.
Hille suchte, das Gemeindeleben durch Erinnerung an ihre historischen Wurzeln zu heben. Er organisierte in der Stadt Helmstedt im September 1842 im großen Stil ein Erinnerungsfest anlässlich des Besuches von Bugenhagen und seiner Visitationsgruppe im Jahre 1542, also vor 300 Jahren. Er brachte den Rat der Stadt, die Schulen und Vereine zu einer gemeinsamen Anstrengung für eine ausgiebige Jubiläumsfeier zusammen. und hielt am 14. Oktober 1842 in der von Gläubigen gefüllten Stephanikirche die Festpredigt: "Große Siege der Väter, die durch schweren Kampf um eine heilige Sache erstritten wurden und mit ihren segenreichen Folgen weit über ihre Zeit hinaus wirkten, feiert mit Recht die dankbare Nachwelt, und freudig begeistern sich, wann nach Jahren oder Jahrhunderten das Erinnerungsfest der großen Ereignisse wiederkehrt, die Kinder und Kindeskinder zum Lobe Gottes für den teuer erkauften Sieg, wie zur Nachahmung des Heldenmutes der Väter im Kampf um die Bewahrung der von ihnen errungenen heiligen Güter."
Hille vermied antikatholische Polemik und entwarf das Bild eines alle Bevölkerungsgruppen umfassenden protestantischen Helmstedt. Durch die anhaltende Predigttätigkeit Hilles in der Stephanikirche, der einen verständlichen aber gehobenen Sprachstil pflegte, vermehrte sich wirkungsvoll der Gottesdienstbesuch. Aus Anlass des Jubiläums erhielt Hille auf Antrag des Helmstedter Bürgermeisters den theologischen Ehrendoktor der Universität Jena.
In dieser Zeit des erwachenden Geschichtsbewusstseins, der entstehenden Epoche des Historismus, wurden in ganzen Reich Gustav Adolf Vereine gegründet zur Unterstützung der evangelischen Gemeinden in der Diaspora. Hille hielt in Helmstedt eine flammende Rede im Oktober 1844 und betonte den moderaten Charakter der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche. "Wir wollen nicht angreifen - wir wollen nicht herausfordern -wir wollen nicht kränken - wir wollen nicht verunehren - wir wollen nicht verdammen, wie man uns verdammt - wir wollen nicht abtrünnig zu machen suchen, die andern Glaubens leben - wir wollen nicht stören Freiheit, Recht und Frieden der katholischen Kirchengenossen." Im Hofe des Juleum wurde am Nachmittag dann der Braunschweiger Gustav Adolf Verein gegründet.

Konsistorialrat
Als der leitende Konsistorialrat Theodor Bank 1843 schon mit 63 Jahren im Dienst in Wolfenbüttel gestorben war und Konsistorialrat Wilhelm Westphal zwei Jahre lang allein in der Behörde gearbeitet hatte, berief der Herzog 1844 Wilhelm Hille als Konsistorialrat in das Konsistorium. Die Familie Hille zog 1845 mit der großen Kinderschar nun nach Wolfenbüttel um, in die Stadt, in der Wilhelm Hille erwachsen geworden war.
Konsistorialrat Hille fand in der Behörde am Schlossplatz viel Arbeit vor. Die Pfarrerschaft drängte auf Reformen, Hille beteiligte mit großem Aufwand die Pfarrerschaft an einer Verfassungsreform.
Federführend war Hille bei dem Entwurf für ein Kirchenvorstandsgesetz und bei den dafür erforderlichen Verhandlungen mit dem Staatsministerium. Hille habe, schreibt der spätere Konsistorialrat Vitus Dettmer, "seinen älteren Kollegen an Bedeutung und bald auch an Einfluss weit" übertroffen. Hille erstrebte eine Reform der Kirche durch Erneuerung und Vertiefung des Gottesdienstes. Er griff die Idee aus den 30er Jahren auf, der Pfarrerschaft eine neue Leseordnung für den sonntäglichen Gottesdienst vorzuschlagen.
Das folgende Kapitel beschreibt, wie die Braunschweiger Pfarrerschaft auf den Vorschlag einer revidierten Perikopenreihe reagiert hat.


Foto Wilhelm Hille

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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk