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[Kirche von unten]

Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Die Perikopenreform 1848 - 1852

Im Dezember 1848 veröffentlichte das Konsistorium den Text eines "Entwurf(es) zweier Jahrgänge kirchlicher Perikopen", 144 Seiten dick, "bestimmt zum Gebrauche der evangelisch-lutherischen Geistlichen des Herzogthums Braunschweig." Die Pfarrämter sollten den Text auf ihre Kosten binden lassen. Die Braunschweiger Landeskirche war die letzte in einer langen Reihe von Landeskirchen, die ausgiebige Vorschläge zur Erneuerung der gottesdienstlichen Lesungen ihrer Pfarrerschaft vorgelegt hatten.

Perikopenrevisionen in anderen Landeskirchen
Das Wolfenbüttler Konsistorium konnte auf viele schon erprobte Lese- und Predigtreihen anderer Landeskirchen aus den letzten 20 Jahre zurückgreifen.
Schon seit 1825 hatte die Weimar-Sächsischen Landeskirche drei neue Jahrgänge biblischer Lesungen der unveränderten alten Perikopenreihe an die Seite gestellt. 1837 erschien für die protestantische Kirche im Großherzogtum Baden eine neue zweite Perikopenreihe mit erheblichen Veränderungen am alten Zyklus. Die ev. lutherische Kirche im Königreich Sachsen verabschiedete 1840 eine stark veränderte Evangeliumsreihe und zwei Jahre später eine veränderte Epistelreihe. Neben diesen beiden Reihen stellte sie eine dritte Lese- und Predigtreihe, die für die Trinitatiszeit ausschließlich Texte aus der Apostelgeschichte vorsah, sowie einen vierten Jahrgang mit jeweils drei Texten zur Auswahl des Predigers. 1843 war ein neues Perikopenbuch für die Württembergische Kirche erschienen mit sehr ausgedehnten, langen Bibelabschnitten. So sollten am ersten Passionssonntag Invocavit alle 26 Verse des 17. Kapitels des Johannesevangeliums und an Lätare von der Speisung der 5000 nicht wie bisher die Verse Joh. 6, 1-15, sondern 1-27 gelesen werden. Man hoffte, durch quantitative Anreicherung "den ganzen Reichtum der Schrift" der Gemeinde anzubieten. Für die rheinische Kirche hatte der spätere Prof. für Praktische Theologie Carl Nitzsch abweichend von allen bisherigen Vorschlägen drei Lesereihen nebeneinandergestellt: eine komplette a.t. Reihe, eine aus den Evangelien und eine weitere aus den Episteln. Dabei hat er nur vereinzelt die bisherige klassische Perikopenreihe benutzt.
Im selben Jahr 1843 erschien die Hamburgische Perikopenreihe, und die ev. Kirche im Herzogtum Nassau hatte im selben Jahr neue Texte im Hinblick auf die alten Perikopenreihe ausgesucht. Die Texte einer dritten und sogar vierten Lesereihe waren unter dogmatischen Gesichtpunkten ausgewählt.

Frühe Äußerung in der Landeskirche zu einer Perikopenrevision
Diese Entwicklung blieb im Braunschweigischen nicht unbemerkt. 1838 hatte Carl Heinrich Behrens, seit 1831 Pastor in der Kirchengemeinde Sambleben, einen sehr ausführlichen Aufsatz über eine Perikopenreform im Braunschweigischen Magazin veröffentlicht.
In allgemeinverständlicher Form erklärte er zunächst die in einem Gottesdienst verwendeten Texte sowie den Aufbau des bisherigen Perikopenjahrganges. Dann empfahl er jedoch deutliche Veränderungen, insbesondere an den Episteln und nannte seine Bedenken an der Evangelienreihe. Wenn z.B. das Leben Jesu als Leitfaden für die festliche Hälfte des Kirchenjahres gedacht sei, dann sollten die Evangelien der ersten drei Adventssonntagen Ereignisse vor der Geburt Jesu benennen und nicht Ereignisse aus der Mitte seiner Wirksamkeit. Wenn die Perikopen zeitgemäß sein sollten, dann dürfte das Evangelium für den Neujahrstag nicht die Beschneidung Jesu sein, sondern sich auf den Beginn des bürgerlichen Jahres beziehen. Er beendete seinen Aufsatz mit einer Art persönlichen Erklärung: "Es darf nichts, was in der Kirche ist und sein soll, das Licht der öffentlichen Prüfung scheuen. Das ist Protestanten-Weise, Grundsatz- und Ruhm; wir Alle sind die Kirche, und es ist Jeder berechtigt.. zugleich verpflichtet mit seiner Einsicht immer mehr in die Angelegenheiten der Kirche einzudringen. " Im nächsten Jahr veröffentlichte Wilhelm Brodkorb einen mehrteiligen Aufsatz über das Kirchenjahr. Darin verteidigte der 32jährige Pfarrer von Berel die traditionelle Perikopenreform unter dem bezeichnenden Motto, das er an den Anfang seines Aufsatzes setzte: "Jedenfalls muss man, wenn man Neues an die Stelle des Alten setzen will, das Alte erst ganz verstanden haben, dass man nicht das wirklich Gute aufgebe für zweifelhaften Gewinn."
Es waren Einzelstimmen im Vorfeld der Arbeit an der Perikopenrevision.

Der unmittelbare Anstoß
Der unmittelbare Anstoß zur Reform kam vom Amelungsborner Predigerverein, der am 15. Februar 1843 eine Neuordnung der Perikopen ähnlich der neuen Weimarerschen Reihe gefordert hatte. Im Konsistorium arbeitete nun Konsistorialrat Hille eine Perikopenordnung mit vier Jahrgängen aus, dem traditionellen, zwei neuen und einem vierten mit vorwiegend Texten aus dem Alten Testament und der Apostelgeschichte. Er stelle die 4 Jahrgänge in einer 25 seitigen Synopse gegenüber. Diese Synopse ging an das Staatsministerium, das nun ihrerseits einen dreiköpfigen Ausschuss, bestehend aus Ludwig Ernesti, Wolfenbüttel, Andreas Mühlenhoff, Braunschweig und Georg Schedel, Ahlum, einsetzte, der den Vorschlag prüfen sollte. Mit 14 Veränderungen, mit denen sich das Konsistorium einverstanden erklärte, ging der auf zwei Jahrgänge verkürzte Perikopenvorschlag an das Staatsministerium, der ihn nunmehr billigte. Eine kleinen Einblick in die Arbeit der dreiköpfigen Fachgruppe gibt das Sondervotum von Mühlenhoff zum Evangelium am 16. Sonntag nach Trinitatis Joh. 9,1-7 (die Heilung des Blinden, dessen Auge Jesus zunächst mit Kot beschmiert). Er gab zu Protokoll: "Dieses Evangelium hätte ich gern beseitigt gesehen, 1) weil die Frage der Jünger unserer Vorstellungsweise zu fern, 2) die Rede Jesu zwar schön ist, aber sich öfters in anderen Texten wiederholt, 3) weil der Schluss das Geheimnis des Wunderbaren verletzt und doch nicht erklärt, und 4) ganz unschön ist." Es gab also selbst in der Dreiergruppe Abstimmungen mit Niederlagen und Siegern. Der für Kirchenfragen zuständige Minister Schulz empfahl dem Staatsministerium, nicht weiter auf eine Klärung von Verfassungsfragen zu warten, sondern diese Perikopenreform der Pfarrerschaft zur Prüfung vorzulegen.

Der Entwurf des Konsistoriums 1848
Im Vorwort des Entwurfes berief sich das Konsistorium auf einen Wunsch aus der Pfarrerschaft, die schon 1830 eine Reform angeregt hatte. Zugleich betonte es, dass es sich bei der Vorlage um einen Entwurf handele und keineswegs um eine endgültige Entscheidung. Vielmehr wäre "die vielseitigste Prüfung" dem Konsistorium wünschenswert. Was das Evangelium und die Episteln der bisherigen Perikopenordnung beträfe, so habe man sich "möglichst wenige Änderungen erlauben zu müssen geglaubt". Das Konsistorium wollte offenbar protestierenden Stimme aus der Pfarrerschaft entgegenkommen. Die erstmals vorgelegte neue, zweite Lese- und Predigtreihe, die ebenfalls ein Evangelium und eine Epistel enthielten, richtete sich wie die alte Lesereihe nach dem Kirchenjahr und habe man "deshalb den neuen Perikopen thunlichst im Geist der alten ihre Stelle anweisen zu müssen geglaubt". Das Konsistorium war sich einer restlosen Zustimmung nicht sicher und ging auf die Änderungen nicht im einzelnen ein. "Wo solche eingetreten sind, werden achtsamen Blicken die Gründe davon nicht entgehen." ( IV)
Das Konsistorium hatte insgesamt 26 Veränderungen an der herkömmlichen Evangelien- und Epistelreihe vorgenommen. Die Episteln für 3 Sonntage wurden ganz ausgetauscht , andere innerhalb der bestehenden Versauswahl verändert, hier und da einen Vers hinzugefügt oder gestrichen. Vier Evangelien waren ausgeschieden worden: die Geschichte von der Speisung wurde bisher am Sonntag Lätare in der Fassung von Joh.6,1-15 und am 7. Sonntag nach Trinitatis in der Fassung von Markus 8,1-9 gelesen. Die Lätarefassung wurde durch Lukas 13,31-35 (den Weheruf über die Stadt Jerusalem) ersetzt; am Palmsonntag wurde nicht mehr der Einzug Jesu in Jerusalem in der Fassung des Matthäus wiederholt, die bereits am 1. Adventssonntag gelesen worden war, sondern, um Wiederholungen zu vermeiden, in der Fassung des Johannesevangeliums (Joh.12,12 - 23). Die Geschichte vom Gr. Abendmahl (Mt. 22,1-14) wurde am 20. Sonntag nach Trinitatis gegen die von den Arbeitern im Weinberg ( Mt 21,33-43) ausgetauscht, und am 2. Weihnachtstag sollte der Johannesprolog (Joh. 1,1-14) gelesen werden statt der unweihnachtlichen Drohrede Jesu gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt. 23,34-39).
In der neuen zweiten Reihe wurden viele Textwünsche der Pfarrer erfüllt. Neu in die Evangeliumsreihe waren aufgenommen: die Seligpreisungen Mt 5 am 4. Sonntag n.Tr., das Vaterunser Luk.11,1-4 an Rogate, das Gleichnis vom reichen Kornbauern Luk.12,16-21 am 1. S. n. Tr., das Gleichnis vom Verlorenen Sohn Luk 15,11-32 am 3. S.n.Tr., die Geschichte von Zachäus Luk. 19,1-10 am Sonntag Okuli; die Heilung des Blinden am Sabbath am 16.S.n.Tr., die "Ich-bin Worte Jesu
(das Brot: Joh. 6, 35-50, der Weinstock Joh.15,1-11, die Auferstehung Joh. 11, 1-45), Maria am Grab Joh.20, 11-18 am 2. Ostertag.

Begeisterung zu Anfang
Nicht wenige Pfarrer waren von den Vorschlägen des Entwurfes von Anfang an begeistert und legten sie sofort ihrer Altarlesung und vor allem ihren Predigten zu Grunde.
Der Perikopenentwurf entspreche "unstreitig einem längst gehegten allgemeinen Wunsch", berichtet der 44 jährige Pfarrer aus Grafhorst Friedrich Fasterling, der schon seit 1849 über die neuen Texte gepredigt hatte."Die neuen Perikopen haben hier eine sehr gute, ihrer würdige Aufnahme bei jung und alt gefunden". Sie würden zu Hause nachgelesen.

Der 76 Jahre alte Pfarrer Ludwig Sattler, der schon 20 Jahre lang in der Süpplinger Kirchengemeinde tätig war, setzte seine schönste Handschrift auf und dankte der Behörde für den Entwurf: "Zuvörderst sage ich dem Herzoglichen Consistorio meinen herzlichsten Dank, daß uns Geistlichen ein neuer Jahrgang von Perikopen mitgetheilt ist, indem es wirklich einem Prediger wie mir, der ich länger denn 50 Jahre über die älteren Perikopen gepredigt habe, schwer wird, wenn er sich nicht wiederholen will, demselben immer wieder neue Seiten abzugewinnen. Ich habe deshalb sofort, als ich den Entwurf erhielt, also vom Jahre 1848 an bis jetzt über die neuen Texte und zwar bald über die Evangelien bald über die Episteln gepredigt und gefunden, dass die hiesige Gemeinde, die im Ganzen noch viel kirchlichen Sinn hat, weit entfernt, ihre Unzufriedenheit darüber zu erkennen zu geben, dass die älteren Perikopen nicht mehr benutzt sind, meine Vorträge mit außerordentlicher Aufmerksamkeit angehört hat und dass die Texte, wovon ich die Stellen wiederholt angegeben habe, von vielen Gemeindegliedern in ihren Bibeln aufgeschlagen und nachgelesen worden sind."

Unleugbar sei, schrieb Pfarrer Ferdinand Prößel, 43 Jahre alt, seit 9 Jahren in Bevern, dass durch die 2. Reihe "aus dem unendlichen Schatz der Bibel neue Nahrung für die Erbauung der Gemeinen genommen werde." Er begrüßte, dass auch die 2. Reihe sich am Kirchenjahr orientiert und die Nähe zur alten Perikopenreihe sucht.

Einige Superintendenten erkundeten 1849, 1850 und 51 die Ansichten ihrer Amtsbrüder auf dazu einberufenen Inspektionssynoden. Die Inspektionssynode in Blankenburg beschäftigte 1849 die Frage:
"Zu welchen Erfahrungen hat die ev. luth. Geistlichkeit im Herzogtum Braunschweig bestimmte und am Ende des vorigen Jahres uns übergebene Sammlung neuer kirchlichen Perikopen bei dem wirklichen Gebrauch bisher Veranlassung gegeben?" Dazu verfassten die Synodalen neben anderen Fragen schriftliche Meinungsäußerungen. Carl August Pockels, Pfarrer in der Gemeinde Benzingerode, beendet seine eingereichte Arbeit am 20. Februar 1849 mit folgender Bitte:
"Möge der so wohlgelungenen Perikopen-Sammlung recht bald, um den Altardienst auf eine etwas höhere Stufe zu heben, eine im ächten Kirchenstyle concipirte Sammlung von Antiphonien und Altargebeten, ferner von Formularen, deren man bei Verwaltung der Sacramente sich bedienen kann, folgen. Möge für den Chorgesang der Gemeinde entweder ein ganz neues Gesangbuch oder zu dem Alten wenigstens ein Anhang herausgegeben werden, welcher die Lücken des vorhandenen Liederbuches ausfüllt und nicht so viel gereimte Prosa aufnimmt, als dieses aufgenommen hat." Beim Plenum der Inspektionssynode, das am 12.9.1849 tagte, wollte Generalsuperintendent Lentz, nicht die persönliche Meinung der Pastoren, sondern nur über die Aufnahme in der Gemeine etwas hören. Das Protokoll vermerkte: "Es ergab sich, dass wo Äußerungen darüber zu den Ohren der Prediger gekommen waren, diese nur günstiger und billigender Art gewesen. Übrigens war es eine allgemeine Bemerkung, dass sich das kirchliche Publicum ziemlich indifferent bei der Sache verhalten habe."

Auch die Synoden von Schöppenstedt, Königslutter und Thiede-Engelnstedt behandelten die Perikopenfrage.

Nun schrieb das Konsistorium im November 1851 die sechs Generalsuperintendenten an und forderte sie auf, innerhalb von vier Monaten einen Bericht über die Benutzung des Perikopenentwurfes einzureichen. Die Generalsuperintendenten gaben diese Aufforderung an die 32 Superintendenten weiter und diese an die Pfarrer ihrer Inspektion. Manche bekamen die Aufforderung zu einem Bericht erst Wochen später und reagierten unwirsch über die sehr knappe Zeit zu einem Bericht. Wer sie noch rechtzeitig im Dezember erhalten hatte, kümmerte sich vorrangig um die Weihnachtsgottesdienste und ließ die Aufforderung bis zum nächsten Jahr liegen.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk