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[Kirche von unten]

Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Die Antwort der Mehrheit

Eine summarische Zusammenfassung aller Antworten ergibt folgendes durchschnittliche Ergebnis, das sich an die gestellten Fragen anschließt:
Die erste Frage, ob man es "überhaupt bei dem früher allein gebrauchten Einen Jahrgang der älteren Perikopensammlung" belassen sollte, verneinen die allermeisten. Die Antwort bestätigte dem Konsistorium die Richtigkeit, überhaupt eine Perikopenreform vorzulegen. Die Frage sollte die grundsätzlichen Reformgegner aus dem Hintergrund in den Vordergrund rücken. Sie sollten Farbe bekennen und taten es mit vielerlei Gründen auch, die weiter unten ausführlich beschrieben werden. Aber sie gehören nicht zum durchschnittlichen Ergebnis der Befragung.

Die zweite Frage, ob man mit dem vorgelegten Entwurf grundsätzlich einverstanden sei, war bereits in der ersten enthalten gewesen, aber auch die Befürworter sollten sich ausdrücklich äußern. So wie die erstere Frage von den allermeisten verneint wurde, so bejahten nun die Meisten diese zweite Frage.
Der vorgelegte Entwurf sah den bisherigen alten und einen neuen Lesezykus vor. Das wurde gerne aufgenommen:

Wilhelm Koch, 44 Jahre begrüßte die 2. Reihe "mit Freuden" und begründete seine Zustimmung mit einem "Vertrautwerden der kirchliche Gemeinschaft mit gleich wichtigen Bestandteilen der göttlichen Offenbarung u. die dadurch vermittelte vielseitigere sittlich-religiöse Anregung".
In der Stadt Braunschweig begrüßten alle, die eine Stellungnahme abgegeben hatten, eine neue Reihe, "umso mehr, da zu unserer Zeit das Lesen der Bibel nur noch in wenigen Familien Sitte ist".
Sie waren mit der neuen Reihe vollständig ein verstanden.

"Sehr vieles in dem neuen Jahrgang ist mir erfreulich und erwecklich gewesen sowohl dem Stoffe als dem Zusammenhang der Evangelien und Episteln. nach, wenn auch in einzelnen Fällen mir die Verwandtschaft des Inhalts desselben nicht klar geworden ist," gestand Pfarrer Dr. Georg Goldmann, 67 Jahre alt und seit 21 Jahren in Gr. Dahlum. Goldmann hatte 1831 eine Synodalarbeit über den Gottesdienst angefertigt und sich darin für die Wiederherstellung der reichhaltigen lutherisch-orthodoxen Liturgie mit den Lesungen ausgesprochen, was 1831 ungewöhnlich war.

Große Zustimmung fand der Vorschlag bei allen Pfarrern der Generalsuperintendentur Blankenburg.
Auch Pfarrer Ritmeier in Thedinghausen begrüßte eine zweite Reihe "nicht allein, dass der Prediger angeregt werde, in seinen Predigten mehr erbauliche Mannigfaltigkeit und heilsame Abwechslung zu bringen," der Gemeinde werde ein größerer Teil der hl. Schrift bekannt, die alten Perikopen wünschte er aber unverändert, "da sie durch das Alter ihrer Anordnung gleichsam geheiligt sind." "Die Alten wollen die Texte ihrer Jugend hören".

Pfarrer Ludwig Helmbrecht, 49 Jahre aus Woltwiesche verband sein Ja mit der neuen Reihe mit einem Ja zur herkömmlichen. "Wenn gleich von jeher und von verschiedenen Seiten die gänzliche Abschaffung der fixirten Perikopen angerathen werden, da sie zum Theil nicht zweckmäßig gewählt, zum Theil sich sehr leicht durch ihre jährliche Wiederholung erschöpften, und viele gehaltreichere Stellen der heiligen Schrift dadurch unbenutzt blieben, auch die Wahl der Themata nach dem Bedürfnisse dadurch verhindert würden, so haben sie doch unstreitig eine großen Werth und muß es daher gewiß mit hohem Dank anerkannt werden, dass Herzogliches Konsistorium durch die dargebotenen beiden Jahrgänge kirchlicher Perikopen eine größere Abwechslung und eine weitere Kenntnis der Bibel ermöglicht hat, so dass der Geistliche nun nicht mehr nöthig hat, zu freien Texten seine Zuflucht zu nehmen, sondern sich einer erfreulichen Abwechslung hingeben kann." Helmbrecht war mit 29 Jahren Pfarrer in Braunlage geworden und sah auf eine 20jährige Predigttätigkeit zurück.

Die zweite Frage verwies außerdem auf die zahlreichen radikalen Entwürfe in den anderen Landeskirchen, die in der Schrift von Ernst Ranke vorgestellt worden waren und auf die das Konsistorium ausdrücklich hingewiesen hatte. Die Pfarrerschaft wünschte eine moderate Revision.
Sie wünschte die neue Reihe als Ergänzung der traditionellen und nicht als ausschließende Alternative.

Es ist bezeichnend für den zurückhaltenden Charakter der Fragestellung, dass die weitere Frage nicht nach den Vorzügen und Nachteilen des vorgelegten Entwurfs fragte, sondern einseitig auf die Mängel abhob. Dazu zählte das Konsistorium verschiedene Möglichkeiten auf, z.B. Veränderungen bei der älteren Perikopensammlung. Immerhin sah der Entwurf Veränderungen bei vier Evangelien und zahlreiche mehr formale bei den Episteln vor. Hier gingen die Meinungen auseinander. Durch die Einführung einer neuen Reihe, wurden Veränderungen an der alten für unnötig gehalten. Man könnte die alten Perikopen aus Ehrfurcht vor der Jahrhunderte alten Tradition und aus Rücksicht auf die regelmäßigen Gottesdienstbesucher, denen die gewohnten Texte von Jugend auf vertraut seien, unberührt lassen.
Andere befürworteten die vorgenommenen Änderungen des Entwurfes. Unebenheiten in der Sammlung seien aus diesen Gründen tragbar.

Einhellig war, von Ausnahmen abgesehen, die Ablehnung weiterer neuer Jahrgänge, also eines dritten, vierten und fünften neuen Predigt- und Lesejahrganges außer den vorgeschlagenen zwei, dem traditionellen und dem neu eingeführten.

Mehr a.t. Texte?
"Ist es gut zu heißen, dass dabei vom Alten Testament, sowie von der Apostelgeschichte nur im beschränkten Maße Gebrauch gemacht, für die Fastenzeit aber die eigentliche Passionsgeschichte nicht benutzt wird?" Diese Frage war geschickt gewählt, weil sie kurze Antworten ermöglichte und auf die Predigtpraxis des Pfarrers zielte. Das Alte Testament sei genügend berücksichtigt, meinten die meisten und gaben zu verstehen, dass für sie das Alte Testament nur als Vorstufe zum Neuen, dem Eigentlichen auszulegen sei. Es war der übliche, schulmäßige dogmatische Vorbehalt, den die Mehrheit äußerte und unempfindlich war für den Offenbarungsgehalt der Texte der Urgeschichte, der Geschichte Israels und der Propheten. Mit einer Ausnahme: die Psalmen könnten mehr berücksichtigt werden. Die Verwendung von Texten aus der Apostelgeschichte wurden wegen ihres überwiegend historischen Inhaltes von den einen begrüßt, von anderen aus demselben Grunde zurückgewiesen.
Für die Fastenzeit hingegen äußerten viele den Wunsch nach Texten aus der Passionsgeschichte.

Die beiden folgenden Fragen nach anderen Perikopen und dem Umfang der vorlegten ließen viel Freiraum für eigene Vorschläge, die weiter unten behandelt werden. Sie geben einen Einblick in das vielgestaltige Interesse von Teilen der Pfarrerschaft an der Perikopenreform.

Die Idee, am Kirchenjahr als durchgehenden Grundgedanken festzuhalten, fand ausnahmslos Zustimmung. "Wie im natürlichen Jahr Sonne, Mond und Sterne nach sinnlicher Anschauung um die Erde kreisen, so soll auch das Kirchenjahr über den Häupten der Christen in jedem Jahr dahin ziehen", Pfarrer August Hörstel, der auf eine 25 jährige Gemeindepraxis in Vorwohle zurücksah, verband seine Zustimmung mit dieser poetischen Wendung.
Das Kirchenjahr war eine Absage an lehrhafte Prägungen der Sonntage. Stattdessen bildete das Evangelium den Leitgedanken für den Sonntag auch bei der Textwahl der neuen Reihe.

Konsonanz der Perikopen
Begrüßt wurde auch mehrheitlich, "dass und wie in der Zusammenstellung der evangelischen und epistolischen Perikopen auf die Verwandtschaft des Inhalt Bedacht genommen ist." Diese Konsonanz war von vielen in der traditionellen Sammlung vermisst worden und war in der neuen Reihe von dem Perikopenausschuss ausdrücklich hergestellt worden. "Dass bei der Zusammenstellung der evangelischen mit der epistolischen Perikopen auf die Verwandtschaft des Inhalts Bedacht genommen ist, zeigt nur, wie glücklich die Wahl getroffen ist und erfüllt umso mehr mit Freude, da die Gemeinde durch die Letzteren schon auf die Ersteren vorbereitet werde", schrieb Philipp v. Peinem aus Sickte.
Die Verwandtschaft der Texte, die Konsonanz, sei "ein großer Vorzug" lobte Pfarrer Kühne, Bodenstedt.

Die letzte Frage zielte detailliert auf einen Festtag, den Epiphaniastag. Die bisherige Ordnung sah dafür einen Gottesdienst am 6. Januar mit den Lesungen Mt. 2 und Jesaja 60 ("Mache dich auf, werde licht") vor. Nun sollte das Epiphaniasfest auf den Sonntag nach Neujahr verlegt werden. Das Echo war gespalten. Im Hannöverschen bestimme diese Verlegung schon lange die Praxis.

Praktische Durchführung
Die dritte Frageabteilung zielte auf die praktische Durchführung der Perikopenrevision. Die sieben Fragen lassen keinen Zweifel, dass das Konsistorium die Reform durchziehen will. Sie will auch dem Missbrauch von zu vielen frei gewählten Predigttexten entgegenwirken. So lässt der Entwurf für Karfreitag z.B. ausdrücklich eine freie Textwahl zu. Andrerseits will das Konsistorium einen Perikopenzwang vermeiden. Hille wählt den feinsinnigen Unterschied zwischen "vorgeschrieben" und "empfehlen" und fragt, ob "eine gewissen Ordnung vorgeschrieben oder wenigstens empfohlen werde". Die Meisten wünschten eine feste Anordnung der Durchführung seitens des Konsistoriums bei freier Textwahl zu besonderen Anlässen, den Abdruck der neuen Perikopenordnung als Anhang im Gesangbuch, die Besprechung der neuen Texte am Sonnabend in der Dorfschule. "Um aber die so vortrefflichen neuen Perikopen den Gemeinden recht lieb und werth zu machen, ist es durchaus wünschenswerth, sie in Form eines Anhangs zum Gesangbuche und zwar als 2ten Jahrgang hinter den ersten zu setzen und ist mir dieser Wunsch von vielen eifrigen Kirchengliedern meiner Gemeinde ausgesprochen worden und hätten sie bei den neuen Texten, die ihnen ganz vorzüglich zusagten, nur dieses Eine auszusetzen, dass sie dieselben nicht wie die alten in ihren Gesangbüchern vorher u. zugleich mit beim Vorlesen einsehen könnten," so Pfarrer Adolf Spieß aus Twieflingen. Einige wenige Pfarrer wünschen ausdrücklich, dass für den 2. Jahrgang kein Perikopenzwang erhoben werde.

Mit diesem Gesamtergebnis konnte das Konsistorium zufrieden sein und die nächsten Schritte zur Durchführung, etwa den Druck für einen weiteren Gesangbuchanhang. einleiten. Dazu kam es aber zunächst nicht.

Bezeichnender als die Zustimmung der Mehrheit war die enorme Meinungsvielfalt in der Pfarrerschaft zu dem Perikopenentwurf. Sie reichte von einer vollständigen Ablehnung der bisherigen traditionellen Perikopenreihe und der Einführung mehrerer, neuer Reihen, wie sie in Sachsen-Weimar eingeführt war bis zum kompromisslosen Festhalten an der traditionellen Perikopenreihe ohne jeden Abstrich und die Ablehnung einer neuen Reihe. Von diesen Meinungsrändern her ergaben sich zahlreiche Variationen.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk