Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube
 
[Kirche von unten]

Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Die Reformgegner

Schon der Zeitpunkt der Reform wurde kritisiert. Superintendent Ludwig Baumgarten aus der Gemeinde Lichtenberg gab zu bedenken, dass die gegenwärtige Zeit zur Einführung neuer Perikopen "nicht ganz geeignet" sei. Die Revolutionsideen von 1848 hatten in seinem Dorf Anhang gefunden, wovon er zu Beginn seiner Arbeit anschaulich berichtete: "Der Revolutionsschwindel des Jahres 1848 hatte auch das Landvolk und besonders die Proletarier zum Theil dermaßen ergriffen, dass von manchen es gern gesehen sein würde, wenn man die gottesdienstlichen Übungen ganz bei Seite gestellt hätte. In meiner Gemeinde wenigstens sind so viele radikale Elemente vorhanden, daß ich in den letzten Jahren nicht habe wagen mögen, von den gottesdienstliche Observanzen irgendwie abzuweichen.
Der radikalen Partei schroff gegenüber steht eine streng conservative, meist aus Hofbesitzern, also dem Kern der Gemeinde bestehend, die auch an wenig Bedeutung habenden äußeren Formen ängstlich hält und jede Neuerung bezüglich des Gottesdienstes mit Misstrauen betrachtet, mit Bitterkeit tadelt."
Er hatte deshalb von den neuen Perikopen bisher keinen Gebrauch gemacht. Er empfand die Reform auch als Störung der nicht nur in Lichtenberg noch lebendigen Gewohnheit, die Perikopen im Gottesdienst mitzulesen und auch schon am Sonnabend zu Hause nachzulesen pflegen.
Eine Einführung neuer Perikopen in der gegenwärtigen Zeit, "wo die Parteien in dieser Weise so schroff einander gegenüberstehen, mir bedenklich erscheint, so kann ich nur rathen, für jetzt damit Abstand zu nehmen und bis zu günstigerer Zeit zu warten." Das war eine deutliche Warnung von einer der finanziell reichsten Kirchengemeinde der Landeskirche.

Die Ablehnung des Zeitpunktes der Reform war eine Fundamentalkritik, die von Pfarrer Ludwig Wolff nun inhaltlich vorgetragen wurde. Wolff, 42 Jahre alt, der bereits mit 32 Jahren die Pfarrstelle in der Kirchengemeinde Kirchbrak erhalten hatte, war Wortführer einer schroffen Ablehnung des ganzen Entwurfes. Er hielt das ganze Unternehmen "für höchst bedenklich. Die "Zeit der Neuerungen" müsse erst mal vorbei sein. Die Reformen seien "dem Wechsel zufälliger Willkür" unterworfen. Die Zeit der Änderungen der Perikopen sei eine "Zeit der Unwissenheit." Die Neuzeit war für Pfarrer Wolff eine Zeit des Unglaubens", überraschend für einen verhältnismäßig jungen Amtsbruder. Die Stellungnahme war sehr schlecht leserlich, weil sie offenbar in Erregung runtergeschrieben war. Wolff, später in der Synode ein kompromissloser Vertreter der äußersten lutherischen Rechten, befand sich in vollem Einklang mit dem Patron seiner Pfarrstelle, dem Freiherrn von Grone auf Kirchbrak, der sich scharf gegen jede Form von Parlamentarismus im Herzogtum und für die unerbittliche Beibehaltung überkommener patriachalischer Verhältnisse anlässlich der aktuellen Frage einer Kirchenverfassung kämpferisch ausgesprochen hatte.
Wolff hatte mitten in der aufgeregten Verfassungsdebatte Anfang 1850 eine neue Zeitschrift gegründet: das Kirchenblatt für die evangelisch-lutherische Gemeinde des Herzogthums Braunschweig, das aus vollen Rohren gegen den Verfassungsentwurf polemisierte. Es war ein Kampfblatt. Möglicherweise war es der scharfe Ton, dass vier weitere Mitherausgeber von 1850 (die Pfarrer Apfel, Brodkorb, Hartmann, Möhle) bis 1853 ihre Mitarbeit einstellten. Auch die Perikopenrevision verfiel einer vollständigen Ablehnung. Wolff veröffentlichte die Stellungnahme des Westerlinder Pfarrers Karl Guthe, der dringend empfahl, die Einführung neuer Perikopen zu unterlassen. Eine Hebung des kirchlichen Lebens sei keinesfalls zu erwarten. Es gebe zwar Übelstände in der traditionellen Perikopenreihe, aber diese machten eine Revision nicht zwingend notwendig. Der "Kampf gegen die Perikopen" sei ein "Ausfluß des in die Kirche gekommenen und in ihr herrschenden Subjektivismus".

Pfarrer Carl Heise, Eschershausen, teilte in seiner vier Seiten langen Arbeit die Klage Wolffs über die Unkirchlichkeit seiner Zeit: "Bei den vielfach gehörten und leider nur zu wahren Klagen über die Abnahme wahren kirchlichen Sinnes und der Zunahme unkirchlichen Lebens, bei der entschiedenen Gleichgültigkeit oder dem Widerwillen mancher sich höher stellenden Stände und Klassen der bürgerlichen Gesellschaft für kirchliche Endzwecke und Interessen, bei der Lauigkeit und Schlaffheit Vieler für geistige Weiterbildung ist es nothwendig, dass der Prediger als öffentlicher Redner, wenn er nicht leeren Stühlen und Bänken predigen will, sich den Stamm zu bewahren sucht, von dem er weiß, daß er ihm treu bleibt." Die Gemeinde wollten die alten Perikopen, mit denen sie doch aufgewachsen seien.

Vor einem ganz anderen Hintergrund erscheint die Ablehnung aus der Kirchengemeinde Bortfeld. Dort amtierte seit 25 Jahren Pastor Friedrich Meyer, der die Kirchlichkeit seiner Gemeinde als Begründung für die Beibehaltung der unveränderten alten Perikopen anführte.
"Meine Gemeinde, die zu den kirchlichsten im Lande gehört, würde großen Anstoß daran nehmen, wenn ihr die alten Perikopen, die ihr als ein notwendiges Stück kirchlicher Erbauungsstoffe erscheinen, genommen oder auch nur verstümmelt würden. Neue Perikopen sind durchaus nicht nötig. Der Schade liegt tiefer und anderswo." "Man lasse doch den Gemeinden, was ihnen so lieb geworden ist. Man wolle doch ja nicht durch Ergänzungen und Verkürzungen oder durch Vertauschungen und Versetzungen der alten Perikopen die hohe Weisheit meistern, mit welcher die alte Kirche den Gang kirchlicher Erbauung angeordnet hat."

Landgemeinden lehnen Neuerungen ab
Dass die Perikopenreform das gottesdienstliche Leben gerade nicht beleben werde, befürchtete auch der 62 jährige Pfarrer Dr. Ernst Brauns, der seit 32 Jahren in Deensen amtierte und auf einer Seite bündig mitteilte, man solle "alles im statu quo zu belassen, in dem die Leute einmal an die altkirchlichen Perikopen gewöhnt sind, und gewöhnlich, wenn ihnen die neueren Perikopen nichts besseres bieten, dadurch nur zum Indifferentismus gegen alles Religiöse und Kirchliche sich leiten lassen."

Die Rücksicht auf die Gemeinde führten die Reformgegner immer wieder als Argument gegen die Perikopenreform an, ohne allerdings die Gemeindemitglieder immer zu Worte kommen zu lassen. Pfarrer Ludwig Schmidt, mit 44 Jahren noch der jüngeren Mittelbau angehörend, hatte seine Landgemeinde in Uthmöden im Blick, als er warnte: "Ich glaube triftige und heilige Gründe zu haben, die mich zu dem innigsten Wunsch und der gehorsamsten Bitte bewegen, es bei dem früher allein gebrauchten Einen Jahrgang zu belassen." Er hielt auch jede Änderungen an den alten Perikopen für falsch. "Man glaube ja nicht, dass sich namentlich der Landmann jene alten Perikopen, wenn auch nur zeitweise, gern und ohne dass er eine wirkliche Störung in seiner Erbauung erlitte, werde nehmen lassen." Es mögen die neuen Perikopen nicht als Zwang zum Predigen auferlegt werden. In der vorgeschlagenen neuen Reihe vermisste er die Wundergeschichten. Die neue Reihe sei mit 5 Wundern Jesu "gar ärmlich ausgestaltet" gegenüber den 18 in den alten Perikopen. Was den liberalen Pfarrern geradezu ein Ärgernis war und die Ablehnung der traditionellen Lesereihe begründete, empfand Schmidt als gravierenden Mangel.

Pfarrer Eduard Kühne in Bodenstedt ging in dieser Begründungskette noch weiter und begründete die unveränderte Beibehaltung der biblischen Lesungen damit, daß "sie einmal Eigenthum des christlichen Volkes geworden ist und dasselbe sich daran gewöhnt, sie lieb gewonnen hat. Deshalb könnte man die Wiederholungen und die unfruchtbaren Abschnitte in derselben sich auch gefallen lassen." Diese Sicht passte nicht zu der häufiger geäußerten Klage über die Unkirchlichkeit der Zeit. und die Abnahme biblischer Kenntnisse.

Neue Texte sind keine inhaltliche Bereicherung
Gerade im Hinblick auf seine ländliche Gemeinde in Marienthal schrieb Pfarrer Wilhelm Weigel: "Durch eine neue Reihe werde "das völlige Vertrautwerden des Volkes mit den verschiedenen Perikopenkreisen insofern auf ganz unnötige Weise erschwert, als die alten Perikopen vollkommen ausreichend für die meisten Fälle sind, welche in Predigten zur Sprache kommen". Die neue Reihe biete in Wirklichkeit gar nichts Neues. Das war allerdings auch nicht die Absicht des Konsistoriums. Weigel wendete die vorsichtige Form des Reformvorschlags nun gegen diese selber: "Nichts Neues!"
Auch Georg Mühlenhoff, Pfarrer in Volkmarode, argumentierte mit der Situation auf dem Lande.
Eine reichere Kenntnis der Bibel werde durch eine neue Reihe "schwerlich gefördert, wenigstens auf dem Lande nicht. Was der Landmann nur alle zwei Jahre hört, geht meist ihm verloren." Die alten Perikopen seien längst noch nicht so bekannt, "wie es wünschenswert ist."

Auch Pfarrer Georg Tacke, der schon seit 17 Jahren in der Kirchengemeinde Scheppau amtierte und seine Gemeinde nicht wechseln sollte, argumentierte in einer sehr langen Darlegung, dass die neue Reihe keine inhaltliche Bereicherung bedeutete. "Sind also in dem Jahrgang unserer älteren Perikopen die sämtlichen oder wenigstens wichtigsten dogmatischen und ethischen Wahrheiten des Christentums enthalten und entspricht derselbe der Idee des Kirchenjahres, so sind andere Jahrgänge gänzlich überflüssig, da sie ein Mehr nicht enthalten können."

Der mit 42 Jahren der "jüngeren" Generation angehörende Carl Henneberg in Brunsen, schrieb bündig: "Ich kann mich nicht überzeugen, das dass Heil der Kirche durch neue Texte gefördert werde."

Hermann Körner aus Kirchberg (1846-1863) hielt "das Geschrei nach neuen Perikopen "vielfach für Mode." Er wünschte auch keine 2. Reihe, ebenso wie Pfarrer Constantin Austrup in Uerde.

Die Ablehnung der Reform durchzog viele Inspektionen, wenn es auch meist nur vereinzelte Stimmen waren, aber der Widerspruch wirkte deftig, weil er sich gegen die Absicht des Konsistoriums für eine Perikopenreform wandte.

Auffällig ist, dass fast die Hälfte der Braunschweiger Stadtpfarrer keine Stellungnahme abgegeben hatte, darunter auch der Domprediger Heinrich Thiele. Thiele war erst seit 1848 von der Stelle eines königlich-preußischen Gesandtschaftspredigers in Rom an den Dom berufen worden. Er veröffentlichte in diesem Jahr 1852 ein Kirchenbuch, das eine vollständige Gottesdienstordnung für den sonntäglichen Gottesdienst im Dom, für Taufen und Trauungen, eine große Liedersammlung, Gebete und auch einen Perikopenjahrgang enthielt. Es war die bisherige Perikopenordnung, darüber hinaus auch Lesungen für den jeweiligen zweiten, bzw dritten Festtag nach Weihnachten, Ostern und Pfingsten, sowie die Marienfeste, eingeordnet in das Kirchenjahr, nicht verbannt in einen Anhang.
Der große Vorteil des Kirchenbuches war es, dass Thiele die Perikopen in den Gesamtzusammenhang eines traditionellen Gottesdienstes veröffentlichte, ein Manko, dass sich bei der Befragung der Pfarrerschaft nicht vermeiden ließ.

Ablehnung von Kirchenleitenden
Der Eindruck der Ablehnung wurde verstärkt, wenn sich auch ein Superintendent den Bedenken anschloss: Superintendent Heinrich Hummel aus Timmerlah fasste seine Bedenken am 21.4.1852 im zusammenfassenden Bericht vorsichtig in die Überlegung dahin zusammen, "dass die alten Perikopen es wahrlich nicht verschuldet haben, wenn leider in so vielen, besonders der Stadtgemeinden, das religiös-kirchliche Leben tief gesunken, ja in manchen fast ganz verschwunden ist und dass von neuen Perikopen eine Wiederbelebung wohl nicht erwartet werden darf."

Superintendent Anton Keunecke, 49 Jahre alt, seit 1841 in Wolsdorf, fügte in seinem zusammenfassenden Bericht über seine Inspektion seine persönliche Meinung an: "ich halte es nicht für zweckmäßig, eher für bedenklich und unnötig, einen anderen Jahrgang neben den alten zu stellen."
"Ich selbst habe die neuen Evangelien und Episteln 2 Jahre gepredigt. Einzelne Gemeindeglieder haben darüber sich beifällig, einige tadelnd, viele sich gar nicht geäußert. Der Kirchenbesuch ist im Ganzen derselbe geblieben."

Schließlich standen sogar einige Generalsuperintendenten dem Reformunternehmen skeptisch gegenüber. Stadtsuperintendent Heinrich Hummel aus Timmerlah vertrat bereits seit 1848 den erkrankten Braunschweiger Generalsuperintendenten Carl Ludwig Sallentien. Das gab seinem oben zitierten, zurückhaltenden Votum noch ein anderes Gewicht.

Der Wolfenbüttler Generalsuperintendent Johann Christoph Linke, der die mit sieben Inspektionen und 71 Pfarrämtern umfangreichste Generalsuperintendentur verwaltete, hielt es "für ratsam, eine Entscheidung aufzuschieben." Den Predigern sollte bei der Textwahl möglichst freie Hand gelassen werden, jedenfalls bei denen, deren Gemeine die Zurücksetzung der bisherigen Perikopen zum Anstoß gereicht." Die Meinungen in seinem Aufsichtsbezirk gingen sehr weit auseinander. Linke war 77 Jahre alt und amtierte seit 1810 im Pfarramt Thiede, zunächst als Pfarrer, seit 1828 als Superintendent und nun seit 1844 als Generalsuperintendent. Er ist mit 83 Jahren in Thiede verstorben.
Sehr spät, am 6.Juli 1852 äußerte er sich auf einer Seite. ziemlich unwirsch, mit sehr schlechter Handschrift zu den Arbeiten. Er unterließ eine Zusammenfassung der zahlreichen Arbeiten, beauftragte damit aber auch keinen Kollaborator, wie andere Generalsuperintendenten sondern
berichtete lediglich von seiner Erfahrung in seiner Gemeinde: "In meiner Parochie hat sich noch Niemand darüber beschwert, dass ich ein Jahr hindurch die vorgeschlagenen neuen Perikopen in meinen Vorträgen benutzt habe. Die Hauptsache ist doch, dass über einen biblischen Text eine erweckliche und verständige Predigt gehalten werde, indes sei es auf jeden Fall wünschenswerth, dass den Gemeinegliedern die Möglichkeit gegeben werde, den zu Grunde gelegten Text selbst nachlesen zu können." Linke war kräftemäßig überfordert, denn aus seiner Inspektion kamen interessante Äusserungen, z.B. aus den elf Arbeiten der Inspektion Schöppenstedt, von den acht Arbeiten der Inspektion Lichtenberg, von den 15 Arbeiten der Inspektion Thiede. Es ist allerdings auffällig, dass sich aus den Inspektionen seines Aufsichtsbezirkes, Barum, und Salzdahlum keine Arbeiten in den Unterlagen befinden. Dass Konsistorium konnte jedenfalls von dieser Seite keine Unterstützung erwarten.
Der Holzmindener Generalsuperintendent Friedrich Möhle äußerte in seiner Zusammenfassung der Arbeiten seiner Inspektionen folgende Befürchtung: "Ich fürchte, den Gemeinden werden die Änderungen auffallen, da diese im Gesangbuch die unveränderten Texte finden und gewohnt sind, beim Verlesen derselben nachzulesen."


Zum nächsten Kapitel
Zum vorherigen Kapitel
Zum Inhaltsverzeichnis


[Zurück] [Glaube]
Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk