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[Kirche von Unten]

Die Evangelische Kirche und der Russlandfeldzug

von Dietrich Kuessner

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Kirchliche Kundgebungen und Telegramme zu Beginn des Rußlandfeldzuges

Die Äußerungen der evangelischen Kirche zu Beginn des Rußlandfeldzuges sind zahlreich und unterschiedlich. Im Telegramm des Geistlichen Vertrauensrates zum Überfall der deutschen Wehrmacht auf Sowjetrußland am 21. Juni 1941 wurde der Bolschewismus als „Todfeind aller Ordnung und aller abendländische christlich Kultur“ bezeichnet. Dem Führer wird wiederum im Hinblick auf die „Säuberungsaktion“ im Jahr 1933 gedankt: „Sie haben, mein Führer, die bolschewistische Gefahr im eigenen Lande gebannt.“ Nun gelte es, die Gefahr in Europa zu bannen. Daher versicherte die Kirche dem Führer „unwandelbare Treue und Einsatzbereitschaft der gesamten evangelischen Christenheit des Reiches“. Gegenstand des Gebetes der Kirche sei es, daß unter Hitler Führung eine neue Ordnung in ganz Europa entstehe. Der Geistliche Vertrauensrat übernahm auch die von Hitler gegenüber dem Reichstag ausgesprochene Begründung, es habe ein Komplott zwischen Stalin und Churchill zur Vernichtung Deutschlands gegeben. Die Berufung auf die baltischen Märtyrer ist deshalb problematisch, weil im Hitler-Stalin-Pakt die baltischen Länder Stalin überlassen worden waren, was im Sommer 1939 zu einer großen Aussiedlungswelle gerade unter den deutschsprachigen Balten führt, die vom Evangelischen Bund und der westpreußischen Kirchenprovinz besonders betreut wurden und keineswegs unbekannt geblieben war. Der Beginn des Rußlandfeldzuges widersprach allen Kennzeichen eines „gerechten Krieges“. Auch unter dem Gesichtspunkt einer klassischen christlichen Ethik hätte die Kirche wenigstens schweigen, besser: Protest einlegen sollen.
Das Telegramm wurde den Landeskirchen zur Verlesung von den Kanzeln zugesandt. Das stieß auf Kritik. In der bayrischen und württembergischen Landeskirche wurde der Text nicht von der Kanzel verlesen. Das Telegramm sei zu spät bei den Kirchenleitungen eingetroffen, bemerkte Bischof Meiser. Tatsächlich waren inzwischen 14 Tage verstrichen.
Bischof Tügel in Hamburg schickte ein eigenes Telegramm an Hitler und gelobte im Namen der evangelischen Kirche in der Hansestadt Hamburg dem „heißgeliebten Führer“ aufs Neue „Treue und Gehorsam“. Die Kirche werde täglich um den Sieg bitten. Anders als der Geistliche Vertrauensrat verknüpfte Bischof Tügel aber das neue Treuegelöbnis mit der Bitte, kirchenfeindliche Maßnahmen wieder rückgängig zu machen. Der Führer sei wohl uniformiert und möge die Kirche mit einem „Machtwort von diesem Druck“ befreien.

Tatsächlich war ja die Gemeindepresse seit Juni 1941 drastisch eingeschränkt worden, auch die Post an die Front unterlag Beschränkungen, die diakonischen Einrichtungen und die Jugendarbeit mußten sich empfindliche Schikanen gefallen lassen. Das Verhältnis von Staatsjugend zur kirchlichen Jugendarbeit war auf dem Nullpunkt.
Auch Bischof Tügel konnte wie die süddeutschen Bischöfe seinen Hamburgischen Pfarrern nicht empfehlen, den Wortlaut des Telegramms des Geistlichen Vertrauensrates zu verlesen. Für eine Verlesung sei es am dritten Sonntag „nach dem Beginn des Kampfes gegen die bolschewistischen Verbrecher in Moskau“ viel zu spät. Das Telegramm sei außerdem für den Führer und nicht für die Gemeinden gedacht. Eine Kanzelabkündigung müsse „die christlichen Gedanken besonders stark betonen, die uns mit der Gemeinde in weltgeschichtlicher Stunde bewegen.“

Tügel hatte bereits unter dem 25. Juni 1941 eine eigene Kanzelabkündigung im Amtsblatt unter der Überschrift „In weltgeschichtlicher Stunde“ veröffentlicht und ihre Verlesung seinen Hamburger Pfarrern freigestellt. Die Tügelsche Kanzelabkündigung gliedert sich in drei Teile: der Führer hat gesprochen – die Waffen sprechen – der Ewige hat das letzte Wort. Im ersten Teil zitiert Tügel ausführlich aus der Proklamation Hitlers und macht sich dessen verlogene Begründung zum Überfall auf die Sowjetunion zu Eigen. Es ist ein schönes Beispiel gegen die nach 1945 immer wieder vorgetragene Behauptung, man habe kirchlicherseits den reden Hitlers keinen Glauben schenken können, der immer nur von der „Vorsehung“ gesprochen habe. Im 2. Teil liefert Tügel eine theologische Rechtfertigung für den Überfall: Gott, der Schöpfer der Völker, wolle nur diejenigen Völker erhalten, die nach Gottes Willen leben. Gott kenne „das namenlose Verbrechen, das der Bolschewismus als organisierte Macht der Gottlosigkeit auf sich geladen“ habe und „das Seufzen der geknechteten Völker sei „nicht umsonst jahrzehntelang an das Herz Gottes gedrungen.“ Der Beginn des Rußlandfeldzuges ist die Offenbarung Gottes als Richter der Welt. Die deutsche Wehrmacht ist folgerichtig „das Werkzeug des Gerichts über den Bolschewismus“ und zugleich ein Werkzeug „der Gnade über unser heißgeliebtes Volk und aller Völker“. Mit welchen Gedanken mögen wohl die Soldaten, die den Rußlandfelzug heil überstanden haben, nach 1945 in ihren Hamburgischen Kirchen gesessen haben? Und gab es einen überzeugenden Augenblick in unserer Kirche, in dem sie sich nach 1945 von dieser furchtbaren Verkehrung des Evangeliums vor den als Werkzeug des Gerichtes wiederholt mißbrauchten Soldaten gereinigt hat?

Nicht nur den Hamburger Gemeinden wurde von ihrer Kirchenleitung ein deutendes Wort gesagt. Auch die Kirchenleitung der Kirchenprovinz Ostpreußen wandte sich noch vor Eintreffen des Telegramms des Geistlichen Vertrauensrates bereits sieben Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion an die Gemeinden. Anders als im Inneren des Deutschen Reiches war die ostpreußische Bevölkerung von dem Überfall auf die Sowjetunion betroffen und auch informiert. Seit Wochen waren die Dörfer an der Grenze überfüllt mit deutschen Soldaten. Mehr als die Bevölkerung im Westen des Reiches wird sie sich mit der Frage beschäftigt haben, ob es etwa einen Krieg gegen Rußland geben werde. Erinnerungen an das Kriegsjahr 1914 tauchten auf, als die Russen nach Ostpreußen einbrachen und von Hindenburg bei Tannenberg zurückgeschlagen wurden. Es waren Erinnerungen an siegreich bestandene Kämpfe, die aus der Erinnerung aufstiegen. Warum also nicht auch im Kriegsjahr 1941? 1914 waren es noch die Truppen des Zaren. Jetzt bedrohe „die rote Flut“ die Grenzen Ostpreußens. Eigentlich hätte sich die Bevölkerung Ostpreußens durch den deutschrussischen Freundschaftsvertrag besonders sicher fühlen können. Aber solche psychologischen Auswirkungen hat der Hitler-Stalin-Pakt nicht gehabt.

Auch den ostpreußischen Gemeinden wurde eine biblische Begründung für den Überfall geboten und zwar in Form des Bibelzitates aus Josua 1,9, in dem Josua nach dem Tode Moses bestärkt wird, das Volk Israel über den Jordan in ein neues, unbekanntes Land hineinzuführen. Den Gemeinden wurde der Glaube vermittelt, dass Gott wohl auch in allem sein wird, was Hitler und die deutsche Wehrmacht nun tun werden. Daher war ihnen das Gebot nicht deplatziert, „getrost und freudig“ auch diesen Abschnitt des unseligen Krieges zu beginnen. Die Warnung „laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht“ hatten dann die ostpreußischen Gemeinden besonders nötig gehabt, als sie fluchtartig ihr Land 1945 vor dem unerwarteten Einbruch der sowjetischen Truppen verlassen mußten. Ist es in den ostpreußischen Flüchtlingsgemeinden und Flüchtlingsgottesdiensten nach 1945 jemals bußfertig und vor Ort zur Sprache gekommen, daß eben dieselben gefalteten Hände sich schon einmal, nämlich 1941, zum Herren alles Geschehens erhoben haben, „daß er dem Kampf unserer Soldaten und den Plänen des Führers weiterhin Sieg und Gelingen schenke“? Und wo ist in den Gemeinden darüber gründlich nachgedacht worden, daß Gott jahrelang diese Art von Gebeten seiner Gemeinde in der furchtbaren Weise erhört hat, daß Millionen von betenden Gemeindemitgliedern geflüchtet sind und vertrieben wurden?
Sehr viel Später wandte sich auch die Leitung der Thüringischen Landeskirche an ihre Gemeindemitglieder. Sie ist unverkennbar geprägt von dem deutschchristlichen Vokabular dieser deutsch-christlich verseuchten Kirchenleitung. Diese Kundgebung unterscheidet sich von allen bisherigen dadurch, daß sie ihre vorbehaltslose Anerkennung der Person und Politik Hitlers benutzt, um anderen evangelischen Bruderkirchen in Deutschland mangelnde Loyalität zu Hitler und zum Nationalsozialismus vorzuwerfen. Jene anderen offenkundig nicht staatstreuen Landeskirchen hörten nur auf das Wort Gottes in der Vergangenheit, aber nicht auf sein Wort in der Gegenwart, das ihrer heute unfaßlichen Ansicht nach aus dem Wortschwall Hitlers entgegentöne. Das Wort, das Gott „heute durch den Führer spricht“ lautet: „Es werde Ordnung“. Beachtlich ist die in der Erklärung genannte, für Deutsche Christen typische Reihenfolge „Adolf Hitler, Deutschland, Gott und Welt“.

Den Gruppen der kirchlichen Mitte, den Lutheranern und natürlich den Gemeinden der Bekennenden Kirche warf die Thüringische Kirchenleitung ihrerseits Bolschewismus vor. Bolschewismus wurde zum Sammelbegriff aller Kräfte, die gegen Hitler angetreten waren. Daher paßte ihr der Begriff des Bolschewismus auch auf alle kirchlichen Gruppen, die sich angeblich gegen Hitler stellen. Eine Antihitlerhaltung jedoch läßt sich aus dem Telegramm des Geistlichen Vertrauensrates und aus den bisherigen kirchlichen Verlautbarungen anläßlich des Beginns des Rußlandfeldzuges beim besten Willen nicht herauslesen. Offenkundig witterten die Deutschen Christen – und wohl nicht nur in Thüringen – eine gründliche Verbesserung ihrer Situation nach dem natürlich siegreich, was anderes kam ja nicht nur für sie nicht in Frage – verlaufenen Kriege.

Es ist bezeichnend, dass in dieser deutsch-christlichen Kundgebung auch die Jugendfrage so verhängnisvoll auftaucht. Mit dem Rußlandfeldzug begann die systematische Ausrottung des europäischen Judentums sofort hinter der Front in den eroberten Gebieten. Dazu wurde den deutsch-christlichen Gemeinden mit dieser Kundgebung in den Gottesdiensten vorlesen zu lassen. Die Kundgebung habe „die Aussöhnung deutscher Menschen im Innersten vorbereiten“ wollen. Die Zeit sei dafür aber noch nicht reif. Auch mit diesem Rückzieher bleibt die Kundgebung ein hervorragendes Beispiel deutsch-christlichen Denkens im 2. Weltkrieg.
Man mag gegen diese Telegramme an Hitler und die Worte und Kundgebungen an die Gemeinden einwenden, dass sie nach außen gewendete und auf Außenwirkung zielende Veröffentlichungen seien und daher „eben gar nicht anders konnten“, als sich führergetreu und in Übereinstimmung auch mit seiner Kriegspolitik zu geben. Gegen diese nach dem Krieg immer wieder vorgebrachte Behauptung stehen jene Quellen, die sich nicht an die große und allgemeine Öffentlichkeit wenden, sondern an einen begrenzten Empfängerkreis, etwa die Pfarrerschaft. Gewiß mußten die Verfasser davon ausgehen, daß auch solche Rundbriefe bin der Gestapo mitgelesen und weitergegeben wurden. Trotzdem ist es doch auffällig, daß auch in solchen mehr internen Rundbriefen die nach außen gewendete Position wiederholt nun zur eigenen Sache gemacht wird. So äußerte sich Landesbischof Marahrens unter dem 8. Juli im Rundbrief Nr. 2562 VIII,22 an seine Hannoverschen Amtsbrüder ganz ähnlich wie in dem Telegramm des Geistlichen Vertrauensrates, daß er mit unterzeichnet hat, ohne inhaltliche Abstriche zu machen. Er bezeichnete den Überfall auf die Sowjetunion als „Daseinskampf des deutschen Volkes“. Damit übernahm er auch intern die Version Hitlers, ohne sich zu fragen, was denn deutsche Soldaten in russischen Dörfern und Städten eigentlich zu suchen haben und was der Überfall für die 2 Millionen Deutsche an der Wolga bedeutet. Dabei wird man unterstellen dürfen, daß Marahrens die schauerliche Theorie vom Untermenschentum des Slawischen und die Vernichtung der slawischen Völker aus dem Anfangsprogramm der Hitlerschen Erklärungen gekannt und verurteilt hat.

Der Wochenbrief von Bischof Marahrens wird jeweils von einer biblischen Betrachtung eingeleitet. Was bedeutet die theologisch bedenkliche Äußerung des Bischofs, daß es Gott nicht widerfahren könne, „daß er den Tüchtigen übersieht oder den Untüchtigen bevorzugt?“ Zunächst erinnert diese Äußerung an eine Zeile aus dem damals in Kirche und auf Parteiversammlungen viel gesungene Lied „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten“, in der es heißt: „Er läßt von den Schlechten die Guten nicht knechten“. Hier wird die Welt in Gute und Schlechte, Tüchtige und Untüchtige eingeteilt, und Gottes Kraft ist in den Guten und Tüchtigen mächtig. In der Heiligen Schrift lesen wir eigentlich das Gegenteil, nämlich von der Hinwendung Gottes zu den Schwachen und den vor der Welt Untüchtigen und Armen. Es läßt einen heute ratlos zurück, wenn der Leser einen frommen und bibelfesten Bischof das Wort aus Sam.6,7, daß der Herr das Herz, aber der Mensch nur das sehe, was vor Auge ist, in einer aus der heutigen Sicht verblendeten Weise bedenken sieht. Gott habe für den Fortgang Seines Werkes auf Erden die Werkzeuge schon bereit. Auf wen anderes sollen die lesenden Pfarrer in diesem Zusammenhang kommen als eben auf die tüchtigen Deutschen und am 8. Juli 1941 auf die tüchtige Wehrmacht und den tüchtigen, erfolgreichen Führer?
Auch der bayrische Landesbischof Meiser schrieb an seine Pfarrer Rundbriefe, in denen er ihnen immer wieder nahelegt, daß der Krieg gegen Rußland kein Krieg im üblichen Sinne, sondern ein Gesinnungskrieg sei. Aus den Antworten, die er von den an der Front stehenden Amtsbrüdern bekomme, spreche „die Bereitschaft, ungeachtet aller Entbehrung und Strapazen standzuhalten bis zum Äußersten. Diejenigen von Euch, die in Rußland stehen, wissen ja auch, welcher Todeshauch über Deutschland ginge, wenn die organisierte Gottlosigkeit des Bolschewismus den Sieg erränge. Das zu verhindern, rechtfertigt die größten Anforderungen, die auch weiterhin an Euch gestellt werden“. (Brief vom 25. März 1942)

Die kirchliche Presse stimmt in den zu frühen Jubel mit ein. Der Bolschewismus in Europa sei „jetzt und nach menschlichem Ermessen für alle Zeiten abgewendet“, jubelt das „Evangelische Deutschland“ vom 10. August 1941 und fügt ein Gebet an, daß in seinem Sprachstil an den Jubelton nach dem Frankreichfeldzug anknüpft.
Die evangelische Kirche hielt dem neuen Stil des Vernichtungskrieges nicht die altkirchliche Theorie vom „gerechten Krieg“ entgegen, die von Augustinus einmal entworfen war, um einer Brutalisierung und „Entartung“ des Krieges zu wehren. Der Geistliche Vertrauensrat akzeptierte vielmehr die Vernichtung des Gegners als Kriegsziel, indem er in seinem Grußtelegramm das Bild vom „Pestherd“ gebraucht, der beseitigt werden muß.
Bereits vor Beginn des Rußlandfeldzuges stellte die angesehene Allgemeine Ev. Lutherische Kirchenzeitung psychologisch den Leser auf dieses neue Kriegsziel ein. Die Vernichtung sei „das eigentliche Gesetz des Krieges“. Dem Wehrmann sei „die Vernichtung aufgetragen“. Die Verantwortung dafür brauche er nicht zu tragen, sondern gebe sie an den Vorgesetzten ab. Zu dieser von keiner christlichen Ethik mehr getragenen Glosse „Zum Zeitgeschehen“ muß gefragt werden, ob für den Fall, daß ein solcher Artikel der Redaktion aufgezwungen worden ist, das damit erst ermöglichte Erscheinen anderer kirchlicher Informationen und Artikel noch gerechtfertigt erscheint. Es ist eher zu vermuten, daß der Rausch der Jahre im Sommer 1940/41 eine allgemeine, ruhige, kritische Betrachtung unmöglich machte. Diese harmlos erscheinende Glosse macht es verständlich, daß diese hochangesehene Zeitung der deutschen Lutheraner nach 1945 unter diesem Titel nicht wieder schienen ist.



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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Russlandfeldzug/, Stand: März 2021, dk