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[Kirche von Unten]

Über die Geschichte der Braunschweiger Landessynode

Ein Kompendium von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf: Band 1 Band 2)



Über die Geschichte der Landessynode zur herzoglichen Zeit (1869-1916)

Die achte ordentliche Landessynode 1900/01
Die Gesangbuchsynode


Quelle: Verhandlungen der achten ordentlichen Landessynode des Herzogthums Braunschweig eröffnet am 19. December 1900 und geschlossen am 15. Mai 1901.

Kandidatenliste Synodalpräsident

Kandidatenliste für das Amt des Synodalpräsidenten, hier von 1882. Der Inhaber der Kirchengewalt war der Herzog bzw. Regent. Dies kam zum Ausdruck durch die Bestimmung des Synodalpräsidenten und seines Stellvertreters durch eben diesen.

Vorgeschichte
Es war die erste Synode im neuen Jahrhundert. Der Herausgeber des Evangelischen Gemeindeblattes hatte zum Jahresanfang geschrieben: „Wird nicht das neue Jahrhundert Katastrophen bringen, furchtbarer und erschütternder, als Menschen sie je erlebt haben?“ (EGbl 7.1.1900 S. 1) Gewiss werde das neue Jahrhundert das Ende der Staatskirche bringen. Es gelte an Stelle der Staatskirche ein neues festes Haus Volkskirche zu bauen. v. Hanffstengel artikulierte ein merkwürdiges, waberndes Untergangsbewusstsein um die Jahrhundertwende. 100 Jahre später bezeichnete der amerikanische Historiker Kennan den ersten Weltkrieg als die „Urkatastrophe“ des Jahrhunderts. Mit dem Gefühl vom Ende der Staatskirche, das bei Liberalen wie Lutheranern durchaus ausgeprägt war, war viel Hoffnung auf Freiheit und Selbständigkeit, aber auch viel Unsicherheit über die Vorstellung, wie sich dieses Ende einstellen wird, verbunden.

Auch Hanffstengels Rückblick auf die bisherigen Synoden war eher pessimistisch. Große Resultate habe sie nicht erzielt; noch habe sie gewagt, sich unabhängig zu fühlen. Das Kirchenregiment habe immer noch Mittel und Wege, sich die Synode gefügig zu machen. Das war reichlich übertrieben, und verriet wenig liturgisches Gefühl für die Breite der gottesdienstlichen Erneuerungen, die während dieser Synode mit der Beschlussfassung über ein neues Gesangbuch zu Ende kommen sollte.

Es gab auch romantische Fluchtwege aus dem Katastrophengefühl und der Unsicherheit. Der Pastor aus Gr. Dahlum, Johannes Kühne, schrieb in diesem Jahr unter dem Titel „Des Dorfes Erwachen“ folgende kirchliche Romanze: Im Dorf herrscht eine wüste sozialistische Agitation. Aber eine reiche Bauerntochter vermacht ihr Erbe ihrer Schwester, die im Dorf Gemeindeschwester wird und unter deren pflegerischen, segensreichen Händen das Dorf zum Guten erwacht. (nach EGbl 1900 S. 181 11.11.1900) Der Kitsch war schon immer ein Gradmesser für Stimmungen und erhoffte Auswege.

Es gab aber auch viel Anlass zur Dankbarkeit, was im ungewöhnlich umfangreichen Lagebericht des Konsistoriums nachzulesen war.

Diese achte ordentliche Landessynode war mit 20 Sitzungen eine der längsten der bisherigen Synoden, auch mit dem umfangreichsten Anlagenmaterial, sodass es gut war, dass zwischen der Eröffnung im Dezember 1900 und den eigentlichen Sitzungstagen im April/Mai 1901 für die Kommissionen reichlich Zeit blieb, sich in die Stoffmenge einzuarbeiten.

Der Eröffnungstag, der 19. Dezember 1900, war von der furchtbaren Nachricht des Unterganges des Schulschiffes „Gneisenau“ vor dem Hafen einer spanischen Kolonie beherrscht. Die Gneisenau war in einem unerwarteten Seeorkan geraten, nicht alle Seeleute konnten aus der See gerettet werden, 100 Verletzte wurden in die Krankenhäuser aufgenommen, auch der Kapitän war ums Leben gekommen. Ein Omen, wenn man so will, denn die wichtigste Synodenvorlage ging am letzten Tag ebenfalls unerwartet in einem vom Kirchenkommissar ausgelösten Sturm unter und versank.

Um die Sitze in der Synode, von denen 15 zur Wahl standen, gab es unerwartete Auseinandersetzungen. Gegen den verdienten langjährigen Synodalen Superintendenten Rothe trat in Lichtenberg Pastor Pillmann an und entschied die Wahl für sich. Die Abwahl eines sich erneut zur Wahl stellenden Synodalen war äußerst selten. Rothe gehörte zur Gruppe der lutherischen Rechten. Pillmann war Vorsitzender des Pfarrervereins, der für den Ausgleich zwischen Rechten und Linken stand. Von den 15 gewählten Abgeordneten gehörten zehn dem Freien Kirchlichen Verein an und vier der ev.-luth. Vereinigung. Zu den zehn Liberalen gehörten u.a. Degering, Retemeyer, Hauswaldt, Schumann, Böhme, Willecke, Roemer, Kunze, Müller-Seesen, zu den Lutheraner Jeep, v. Grone, Kellner, Perl.
Im Endergebnis erbrachten die Wahlen zur Synode keine wesentliche Änderung der Mehrheitsverhältnisse in der Synode. Es blieb, wie bisher, eine hauchdünne Mehrheit für die Liberalen, (EGbl 1900 S. 185 vom 18.11.1900) die sich bei den Abstimmungen rasch in ein Patt verwandeln konnte. Offensichtlich hatten die Liberalen mit einem schlechteren Abschneiden gerechnet. „Wir haben allen Grund, einen Triumph zu feiern“, resumierten die Liberalen, (EGbl. 25.11.1900) und die Lutheraner seufzten, die Wahlen seien „sehr zu unsern Ungunsten ausgefallen“ (EvlW 30.10.1900)

Namen der gewählten und berufenen Synodalen der 8. ordentlichen Landessynode 1900/01

01. Albrecht, Heinrich, Vollmeier, Dölme, seit 1896.
02. Blanke, Friedrich, Holzhändler, Kl. Rüden, seit 1880.
03. Boehme, Carl, Pastor, Räbke, seit 1892.
04. Degering, Wilhelm, Pastor, Braunschweig, seit 1896.
05. v. Grone, Siegfried, Generalleutnant, Westerbrak, neu.
06. Hauswaldt, Hermann, Kaufmann, Braunschweig, neu.
07. Jeep, Rudolf, Superintendent, Holzminden, seit 1888.
08. Kellner, Robert, Superintendent, Blankenburg, neu.
09. Kulemann, Wilhelm, Landgerichtsrat, Braunschweig, seit 1896.
10. Kunze, Wilhelm, Oberamtsrichter, Salder, neu.
11. Langerfeldt, Conrad, Kreisdirektor, Helmstedt, seit 1888.
12. Lerche, Rudolf, Generalsuperintendent, Braunschweig, neu, berufen.
13. Lüderßen, Rudolph, Kammerpräsident, Braunschweig, neu, berufen.
14. Müller, Gymnasialdirektor, Blankenburg, seit 1892.
15. Müller, Oberförster, Gittelde, seit 1892.
16. Müller, Ackermann, Watenstedt, seit 1896.
17. Perl, Ernst, Pastor, Beierstedt, neu.
18. Pillmann, Wilhelm, Pastor, Uehrde, neu.
19. Pini, Otto, Pastor, Braunschweig, seit 1896.
20. Retemeyer, Hugo, Oberbürgermeister, Braunschweig, neu.
21. Roemer, Landwirt, Beddingen, neu.
22. Rothe, Emil, Superintendent, Lichtenberg, seit 1884, berufen.
23. Röttger, Friedrich, Gemeindevorsteher, Dannhausen, seit 1896.
24. Schliephake, August, Ackermann, Uehrde, seit 1896.
25. Schulz, Wilhelm, Superintendent, Halle a.d.W. seit 1886.
26. Schumann, Otto, Superintendent, Timmerlah, seit 1892.
27. v. Schwartz, Amtsrat, Hessen, seit 1888, erneut berufen.
28. Stichel, Rentner, Querenhorst, seit 1896.
29. Struve, Hermann, Pastor, Greene, neu.
30. Willecke, Stadtrat, Königslutter, seit 1896.
31. Wollemann, Bruno, Superintendent, Ostharingen, seit 1896.
32. Zerbst, Carl, Pastor, Gebhardshagen, seit 1888.

In der Landessynode gab es viele neue Gesichter. Der Vorsitzende der Synode, der Braunschweiger Oberbürgermeistert Pockels, war mit 68 Jahren nach zwanzigjähriger Tätigkeit aus der Synode ausgeschieden. Er war 1898 Vorsitzender der Landesversammlung geworden. Sein Nachfolger im Amt, Hugo Retemeyer, 49 Jahre alt, rückte für ihn in die Synode nach. Retemeyer war gerade (seit 1897) für die Liberalen drei Jahre lang Mitglied des Reichstag gewesen. Er blieb, auch über 1918 hinaus, bis 1925 Braunschweigs Oberbürgermeister.
Der Braunschweiger Generalsuperintendent Bertram war mit 64 Jahren im Dezember 1899 verstorben. (Klaus Jürgens BL Artikel Bertram S. 57) Sein Nachfolger im Amt, der 65jährige Rudolf Lerche, wurde vom Prinzregenten in die Synode berufen. Bereits mit 52 Jahren war der Superintendent Bach aus Königslutter im Amt verstorben. Für ihn kam der 41 jährige Beierstedter Pfarrer Perl in die Synode. Als synodales Urgestein mochte man Hausmarschall v. Cramm aus Burgdorf ansehen. Er war seit 1876 in der Synode, vertrat die Braunschweiger Staatsregierung in Berlin, wohnte dort auch meist und ging in der Reichshauptstadt seinen literarischen und Theaterinteressen nach. (Löhr in BBL 126). Für ihn rückte Oberamtsrichter Kunze aus Salder nach, ein Pluspunkt für die liberale Gruppe, wie auch der Landwirt Römer aus Beddingen, der den anderen v. Cramm, der in Oelber a.w.W. residierte, ablöste.

Den Adel in der Synode vertrat nun der Gutsherr v. Grone aus Westerbrak, der für den ausgeschiedenen Amtsrat Baumgarten in die Synode gewählt worden war, ein Kirchenpatron, dessen Väter schon das lutherische Banner in der Landeskirche sehr hoch gehalten hatten.
Zu den jüngeren Nachrückern gehörte der 41 jährige Pastor Struve aus Greene, der zusammen mit Pillmann auch Mitglied der Landesversammlung war, was wegen der engen Abhängigkeit von Landtag und Landessynode wichtig war. Einer der Sprecher der Liberalen in der Synode wurde der Braunschweiger Kaufmannn Hauswaldt, der den verstorbenen Provisor Karl Schrader abgelöst hatte.
Dass der bei der Wahl gegen Pillmann durchgefallene Superintendent Rothe aus Lichteberg vom Prinzregenten berufen wurde, war zwangsläufig. Rothe gehörte auch schon vorher zu den berufenen Synodalen und nicht zu den gewählten. Da er die Wahl nicht bestanden hatte, konnte der Prinzregent ihn schlecht übergehen.

Der Landesversammlung gehörten folgende sieben Landessynodale an: Kaufmann Hauswaldt, Kreisdirektor Langerfeldt, Pastor Pillmann, Landwirt Römer, Gemeindevorsteher Röttger, Ackermann Schliephake, Pastor Struve. Struve und Pillmann hatten das Pfründensystem in der Landesversammlung zur Sprache gebracht. (EGbl 25.3.1900)
Die Synode trat nach Schluss der Tagung der Landesversammlung zusammen.

Neu war auch der Regierungskommissar Dr. August Trieps, der 1900 das Ministerium für Schule und Kirchenangelegenheiten übernommen hatte. Sein Vorgänger Wilhelm Spies, seit 1889 im Amt, war zum 1. Januar 1900 mit 68 Jahren krankheitshalber in den Ruhestand gegangen (gest. 23.12.1901).

Ebenfalls erstmals nahmen als theologische Mitglieder des Konsistoriums die Konsistorialräte Emil Moldenhauer, 47 Jahre alt, seit 1897 als Nachfolger von Sallentien in der Kirchenbehörde und Vitus Dettmer, 52 Jahre alt, seit 1899 als Nachfolger von Rohde in der Kirchenbehörde, an den Sitzungen der Landessynode teil. Das war für Vitus Dettmer ein besonderes Gefühl, denn als früherer Superintendent von Lehre und dann von Helmstedt hatte er bereits als Synodaler im Gremium mitgewirkt. Nun also auf der anderen Seite. Die beiden neuen Konsistorialräte hatten bei der Pfarrerschaft schwere Verärgerung durch eine Verordnung ausgelöst, wonach die Superintendenten unangemeldet die Gottesdienste auf den Dörfern besuchen und danach an das Konsistoriums berichten sollten. Dieses Thema würde gewiss auf der Landessynode behandelt werden.

Dem Prinzregenten wurden für das Amt des Synodalpräsidenten die Synodalen Langerfeldt, Schumann und Kulemann präsentiert und Langerfeldt als Vorsitzender und Schumann als Stellvertreter bestimmt.

Dem Synodalausschuss gehörten Langerfeldt, Degering, Rothe, Kulemann und Pini und als Stellvertreter Lüderßen, Wollemann, Kunze, Schumann und Blanke an.

Es wurden auf Zuruf folgende Mitglieder in die drei Kommissionen gewählt:
Liturgische Kommission, die die Gesangbuchfrage zu behandeln hatte: Pini, Schumann, Schulz, Jeep, Blanke;
Kirchenrechtliche Kommission: Böhme, Wollemann, Hauswaldt, Kulemann, Lüderßen.
Pfründenkommission: Pillmann, Struve, Zerbst, Kulemann, Langerfeldt.
Kulemann gehörte also zwei Kommissionen an, was seine herausragende, vermittelnde Stellung während dieser Tagung betont.

Die liberale Gruppe umfasste etwa folgende Namen: Hauswaldt, Pini, Degering, Schliephake, Röttger, Römer, Müller-Watenstedt, Willeke, Müller-Seesen, Schumann, Kunze, Zerbst, Stichel, Blanke, Kulemann, Böhme.
Die luthersche Gruppe umfasste folgende Namen: v. Grone, Albrecht, Schulz, Wollemann, Rothe, Jeep, Müller-Blankenburg, Kellner, v. Schwartz, Lüderßen. Lerche, Perl, Struve.
Pendler zwischen diesen Gruppen jeweils nach Sachthemen mal mit der einen mal mit der anderen Gruppe stimmend: Pillmann, Retemeyer.

Presse
Die Regionalpresse beobachtete wie bisher die Synodalverhandlungen. Der Braunschweiger Anzeiger veröffentlichte meist einen oder zwei Tage später eine Art Verhandlungsprotokoll. (Beispiel: Braunschweiger Anzeiger 19.12.1900/ 20.12./ 21.12.1900/ 19.4.1901/ 23.4./ 24.4./ 25.4./ usf). Ungewöhnlich war es, dass am Eröffnungstag, dem 16. Dezember 1900, ein Leserbrief eingerückt war, in dem eine Einkommensreform gefordert wurde, da die Landesversammlung die Gehälter der Staatsbeamten aufgebessert hätte. „Es dürfte doch ein haltloser Zustand sein, dass manche Geistliche nicht das Einkommen eines Volksschullehrers, manche aber bis 13.000 M. haben. Die Maximaleinkommen gewähren gerade die einfachen ländlichen Pfarrstellen.“ Erwünscht wäre ein Einkommen nach einer Dienstaltersskala. Mehrere Patrone hätten sich für eine Gehaltsreform ausgesprochen.
Auch die Braunschweiger Neuste Nachrichten brachten aktuelle Synodenberichte anhand der Protokolle, sogar zwei Gutachten zur Frage, ob der Herzog von Cumberland Landesherr wäre, in voller Länge. Später ließ die Berichterstattung nach.
Die Braunschweiger Bevölkerung konnte über die Sitzungen vollständig informiert sein.
Die Kirchenpresse, die liberalen Ev. Gemeindeblätter und die orthodoxen Ev.-luth. Wochenblätter kommentierten die Verhandlungen in ihrem Sinne. (siehe EGbl. 5. Mai 1901 S. 71f; / 17. Mai S. 73f; 27.Mai.1901 S. 75f. Das Ende des Gesangbuchstreites 2.6.1901 S. 81. „Der Schluss der 8. Landessynode S. 85 ff hier sehr ausführlich Wollemann in den Ev.-luth. Wochenblättern)

Gottesdienst
Vor Sitzungsbeginn versammelten sich die Synodalen in der Domsakristei und gingen von dort geschlossen zu ihren reservierten Plätzen im Dom. Den Gottesdienst leitete Domprediger Bichmann. (nach LAW Syn 82 Verhandlung der 8. Landessynode Einladung zum Gottesdienst)

Termine und Themen

1. Sitzung 19. Dezember 1900 Mittwoch.
Kühle Eröffnungsansprache des Regierungskommissars Trieps; Gelöbnis der elf neuen Synodalen;
Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters, sieben Eingänge und Vorlagen des Staatsministeriums, Wahl der Mitglieder des Synodalausschusses und der Stellvertreter auf Zuruf.
„Das Barometer des Synode anfangs auf Sturm“. (EGbl. 1901 12.5.1901 S. 74 f)

2. Sitzung 20. Dezember 1900 Donnerstag.
Bericht des Synodalausschusses; Wahl der Mitglieder einer liturgischen und kirchenrechtlichen Kommission sowie einer Pfründenkommission; Eingang der brisanten Eingabe der Landes-Rechtspartei betr. Gebet für den Herzog von Cumberland; Anträge der Synodalen Schumann, Kulemann, Wollemann, Jeep. Der Antrag Kulemann bezog sich auf eine Reform des Kirchenvorstandes und war detailliert ausgeführt. Vertagung.
Nach der Sitzung Empfang und Diner im Schloss.

3. Sitzung 18. April 1901 Donnerstag.
Zahlreiche Eingaben;
Aussprache über die „Eingehende Mitteilung“ des Konsistoriums, vor allem über die Frage einer amtlichen Beteiligung von Geistlichen bei einer Feuerbestattung; „mit Rücksicht auf die vorgerückte Stunde wurde die Sitzung abgebrochen“.

4. Sitzung 19. April 1901 Freitag.
Fortsetzung Aussprache über die „Eingehende Mitteilung“ des Konsistoriums,
Freigabe der festen Kirchensitze; Unterstützung von Diasporagemeinden; Religionsunterricht durch Theologen; Förderung „einer wirksamen Gesamtorganisation des amtlichen deutschen evangelischen Kirchenwesens“.

5. Sitzung 22. April 1901 Montag.
Fortsetzung Aussprache über die „Eingehende Mitteilung“ des Konsistoriums;
Frage einer Vermehrung der Anzahl der Synodalen in der Stadt- und Spezialinspektion Braunschweig infolge der Bevölkerungszunahme; Frage der Privatpatronate; Frage der Zusammenlegung von Generalsuperintendenturen mit einem Konsistorialsitz; Errichtung von Kollaboraturen; „wenig Entgegenkommen des Konsistoriums für Ansichten und Wünsche der Synode“; Vertretungskosten; lange Aussprache über ein Ausschreiben an die Superintendenturen betr. unangemeldeter Gottesdienstbesuche der Superintendenten.

6. Sitzung 23. April 1901 Dienstag.
Fortsetzung Aussprache über die „Eingehende Mitteilung“ des Konsistoriums,
Fortsetzung der Aussprache über unangemeldete Gottesdienstbesuche der Superintendenten; Abschaffung der Gebühren der Stadt Braunschweig für Begräbnisse außerhalb Braunschweigs; Hauskollekten; Vorschriften bei der Einführung eines Pfarrers.

7. Sitzung 24. April 1901 Mittwoch.
Fortsetzung Aussprache über die „Eingehende Mitteilung“ des Konsistoriums,
Übernahme des Inventars bei Pfarrerwechsel; erneute Beratung des Verhaltens des Pfarrers bei Feuerbestattung.

8. Sitzung 25. April 1901 Donnerstag.
Fortsetzung Aussprache über die „Eingehende Mitteilung“ des Konsistoriums,
Umzugskosten beim Pfarrstellenwechsel und Kosten des Einführungsessens; Überschüsse aus der Pfarrvakanzkasse sollen dem Emeritierungsfonds überwiesen werden; Fragen des Kirchenkassenwesens.

9. Sitzung 26. April 1901 Freitag.
Fortsetzung Aussprache über die „Eingehende Mitteilung“ des Konsistoriums,
Wieder Fragen der Führung der Kirchenkassen und scharfe Kritik an zwei Erlassen des Konsistoriums; Pachterhebung durch einen Beauftragten; Äußerungen von geistlichen Synodalen sollten nicht kirchendisziplinarisch belangt werden können; Zustimmung zu einem Kirchengesetz die kirchlichen Geschäfte der Opferleute betreffend; Ingebrauchnahme des revidierten Luthertextes; staatliche Bezuschussung von Kirchenbauten.

10. Sitzung 30. April .1901 Dienstag.
Aussprache über Grundsätze zur Reform des Pfründensystems; scharfe Gegensätze zwischen dem Kirchenkommissar, unterstützt von den Konsistoriumsmitgliedern und der Landessynode von Anbeginn.

11. Sitzung 1. Mai 1901 Mittwoch.
Fortsetzung der Aussprache über Grundsätze zur Reform des Pfründensystems.

12. Sitzung 2. Mai 1901 Donnerstag.
Fortsetzung der Aussprache über Grundsätze zur Reform des Pfründensystems.

13. Sitzung 3. Mai 1901 Freitag.
Fortsetzung der Aussprache über Grundsätze zur Reform des Pfründensystems.

14. Sitzung 4. Mai 1901 Sonnabend.
In 1. Lesung die Grundsätze einer Pfründenreform beschlossen.

15. Sitzung 7. Mai.1901 Dienstag.
1. Lesung. Einführung eines neuen Gesangbuches; keine Debatte, stattdessen Annahme der Kommissionsvorschläge bei 8 Gegenstimmen. (EGbl 219.5.1901 S. 77 f)

16. Sitzung 9. Mai. 1901 Donnerstag.
Neuordnung der Nachmittagsgottesdienste an Hohen Festtagen.

17. Sitzung 10. Mai.1901 Freitag.
Kritische Erklärung von Kirchenkommissar Trieps zur Stellungnahme der kirchenrechtlichen Kommission über die Eingabe der Braunschweigischen Landes-Rechts Partei betr. Kirchengebet für den Herzog v. Cumberland; Absetzung von der Tagesordnung; Berichterstattung und Beratung des Antrags Kulemann betr. Erweiterung der Rechte eines Kirchenvorstandes und des Berichtes der kirchenrechtlichen Kommission; wegen vorgerückter Zeit vertagt.

18. Sitzung 13. Mai.1901 Montag.
scharfe, lange Erwiderung der kirchenrechtlichen Kommission auf die Erklärung des Kirchenkommissars Trieps und das Gegengutachten Dedekinds; Zustimmung der Synode zur Stellungnahme der kirchenrechtlichen Kommission.

19. Sitzung 14. Mai.1901.
2. Lesung Gesangbuch, unentschiedenes Abstimmungsergebnis beim Antrag auf Vertagung des Themas; die Grundsätze einer Pfründenreform werden in 2. Lesung angenommen.

20. Sitzung 15. Mai.1901.
Die Mehrheit der Synode entscheidet sich wegen unüberbrückbarer Gegensätze mit dem Kirchenkommissar und dem Konsistorium in der Gesangbuchfrage für Vertagung;
der Regierungskommissar zieht daraufhin die Vorlage des Gesangbuchentwurfes zurück. Krise.

Hauptgegenstände und Hintergründe

Diese Landessynode hatte eine außerordentlich umfangreiche Tagesordnung, und die Aussprachen verliefen teilweise dramatisch. Auf der Tagesordnung standen u.a. so hochkarätige Themen wie ein neues Gesangbuch und Grundsätze zur Pfarrereinkommensreform mit einer 177 Seiten starken, tabellenreichen Anlage. 92 Seiten stark war der Bericht des Konsistoriums über die Zustände und Verhältnisse in der Landeskirche. Dazu kamen sehr ausführliche Anträge von Synodalen und eine politisch hochbrisante Eingabe der Landesrechtspartei, die Familie des hannoverschen herzoglichen Thronanwärters v. Cumberland in das Allgemeine Kirchengebet aufzunehmen. Es lag viel Zündstoff in der Luft.

Als die Landessynode am 18. April 1901 zur nunmehr dritten Sitzung zusammentrat, waren in der Zwischenzeit außer den Kommissionsberichten, den Antworten des Konsistoriums und Reskripten des Ministeriums sogar weitere Eingaben und Anträge eingetroffen.

Der 8. Lagebericht des Konsistoriums

Den Synodalen lag nach dem ersten Lagebericht im Jahre 1876 der nunmehr achte und bisher umfangreichste Lagebericht vor (Anlage 12), der erste unter der Verantwortung der jungen neuen Konsistorialräte Moldenhauer und Dettmer.
Unter den überregionalen Nachrichten aus der Eisenacher Kirchenkonferenz ragte die Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem am Reformationstag 1898 heraus. Der Kaiser hatte zur Teilnahme alle Landeskirchen eingeladen und so nahm auch aus der Braunschweigischen Landeskirche ein Mitglied des Kollegiums teil.

Die Zusammensetzung des Herzoglichen Konsistoriums hatte sich in den letzten zwei Jahren völlig geändert. Von den sechs Kollegiumsmitgliedern waren nur der Präsident Spies und Konsistorialrat Schütte übriggeblieben. Für den 1897 verstorbenen Abt Sallentien war Konsistorialrat Carl Rohde Vizepräsident geworden, ohne das Amt wirklich auszuüben. Nachgerückt waren 1897 Emil Moldenhauer und 1899 Vitus Dettmer als Konsistorialräte und für den weltlichen Konsistorialrat Hustedt, der als Oberlandesgerichtsrat in die Braunschweiger Justiz zurückgekehrt war, kam Staatsanwalt Klaue in das Landeskirchenamt. Moldenhauer, Dettmer und Klaue gaben der Behörde ein neues Gesicht.

Die Anzahl der Kirchengemeinden hatte sich in Folge von Teilungen leicht erhöht. Rüningen war von der bevölkerungsmäßig stark gewachsenen Braunschweiger Michaeliskirche 1899 getrennt und selbständig geworden. Aus der prall gefüllten Michaeliskirchenkasse war auch ein Pfarrhaus gebaut worden. Das Dorf Emmerstedt war von der Helmstedter Marienberggemeinde getrennt und selbständig geworden und hatte ein Pfarrhaus erhalten. Im Harz bildeten die Kirchengemeinden Rübeland, Hüttenrode und Neuwerk eine Gemeinde und auch Altenbrak wäre von Wienrode selbständig geworden, aber die Kommunalgemeinde wollte nicht die Parochiallasten übernehmen, und so zerschlug sich diese Gemeindebildung. (Anlage 12 S. 16)

Von den 253 Predigtstellen waren 11 vakant, (ebd S. 31) aber es hatte auf diesen Stellen viel Bewegung gegeben. In den letzten vier Jahren waren 101 Stellen neu besetzt worden, sehr viel mehr als im Berichtsraum davor (1892-1895), wo es aber auch 75 Neubesetzungen gegeben hatte. Das lag an den 19 Pfarrern, die in den Ruhestand gegangen waren, aber weit überwiegend strebten die Pfarrer von den schlecht dotierten Stellen auf die besseren. Der Nachwuchs war zahlreich. 32 junge Leute waren 1896-99 ins Pfarramt gekommen, 10 in den Schuldienst, 45 Kandidaten hatten das Hauptexamen bestanden und warteten auf Anstellung. Durchschnittlich acht wurden jährlich benötigt. Wenn sie Glück hatten, kamen sie auf eine relativ gut bezahlte Stelle, wie der 31jährige Gustav Helling nach Seinstedt mit einem Einkommen von 3.186 M, oder der gleichaltrige Otto Oehlmann nach Bevenrode mit 5.548 M, eine Pfarrstelle, die er sein Leben lang nicht verließ und dort 1933 emeritiert wurde. Der 33 jährige Franz Eißfeldt verdiente im dritten Dienstjahr an der Hauptkirche in Wolfenbüttel bereits 2.965 M. (alle Angaben nach Verzeichnis der Pfarrstellen Anlage 11 Anlage A S. 58) Die meisten anderen hingegen mussten sich in Grafhorst, Deensen, Duttenstedt, Eschershausen, Parsau, Herrhausen, Harderode und anderswo mit dem Minimaleinkommen von 1.950 M. begnügen. (ebd.)

Eine Verbesserung der Ausbildungsverhältnisse war nicht erfolgt. Die vorhergehende Landessynode hatte beantragt, die Stelle eines Studiendirektors einzurichten, aber die Kirchenregierung fand das nicht „zweckmäßig“, (ebd. S. 41) und so unterblieb diese Umsetzung eines Synodalbeschlusses, was noch häufiger vorkam.


Die Pfarrer waren wieder visitiert worden; 1896 in 18 Kirchengemeinden, 1897 in 19, 1898 in 23 und 1899 in 27 Kirchengemeinden. (ebd. S. 18)

Die Pfarrer beschäftigten sich auf den Predigersynoden mehrfach mit dem Alten Testament, z.B. mit der Frage, ob bei der amtlichen Verkündigung eine eingehendere Benutzung des Alten Testamentes zu erstreben sei oder das A.T. genügend beachtet werde (Generalinspektion Wolfenbüttel 1898), oder sie beschäftigten sich mit den neuen Forschungsergebnissen hinsichtlich der Geschichte Israels, wie sie Julius Wellhausen vorgetragen hatte. „Welchen Einfluss das gewonnene Resultat der Untersuchung auf die Verwertung des Alten Testamentes für die Predigt und den Religionsunterreicht habe (Generalinspektion Braunschweig 1898), aber auch mit Fragen des gemeindlichen Alltages wie das Gruppensystem bei Kindergottesdiensten (Wolfenbüttel 1900) und der Trauung Geschiedener (Helmstedt 1898). Auch die Entfremdung der Konfirmanden von der Kirche gehörte zum Themenkatalog (Gandersheim und Holzminden 1900). „Wäre die Forderung gerechtfertigt, dass jene (Konfirmations-) Praxis gründlich umgestaltet werde, weil es ein Tun der Unwahrhaftigkeit sei, unmündige Kinder zu mündigen Gemeindegliedern zu erklären, welche dann, von einem durch Gewohnheit abgenötigten Bekenntnis und Gelübde nicht geschützt, zum großen Teil nur die Zahl der der Kirche Entfremdeten verstärken?“ (ebd. S. 44) Die Themen machten durchaus den Eindruck, dass sich die Pfarrerschaft theologisch beschäftigte und bewegte.

Es gab elf Kindergottesdienste in der Landeskirche und die Zahl der Abendmahlsgäste war stabil geblieben. Der Kirchbau stagnierte nicht. 19 größere Kirchen- und Turmneubauten, 11 Pfarrhäuser neu errichtet, 22 Gemeinden hatten neue Orgeln erhalten, in 42 Kirchen waren Heizungen eingebaut worden. Immerhin hatten noch gut die Hälfte aller Kirchen keine Heizung. (Anlage 12 S. 66 f)

Aussprache über den Lagebericht
Die Synode begann mit der Aussprache über die „Eingehende Mitteilung über die Zustände und Verhältnisse der Landeskirche“, für die sich die Synodalen sieben Tage lang Zeit nahmen, so lange, wie keine Synode zuvor, und in deren Verlauf 22 Anträge von der Kommission und weitere Einzelanträge gestellt wurden. Der Konsistorialbericht war von der kirchenrechtlichen Kommission bearbeitet worden, in die die Abgeordneten Böhme, Hauswaldt, Kulemann, Lüderßen und Wollemann gewählt worden waren. Die ersten drei gehörten zu den streitbarsten und reformfreudigsten Abgeordneten der liberalen Gruppe.

Verhalten der Pfarrer bei einer Feuerbestattung
Ihr erster Antrag bezog sich auf das Verhalten von Geistlichen bei der Feuerbestattung, was als heikles Thema empfunden wurde. Am 21.4.1901 war im Blatt der Liberalen ein Grundsatzartikel von Pastor Gerlich, Johannis, Braunschweig „Die Stellung der evangelischen Kirche zur Feuerbestattung“ erschienen. Die Feuerbestattung widerstreite zwar der christlichen Sitte, aber nicht dem christlichen Glauben. Wer verbrannt werden wolle, sollte im Tode nicht anders behandelt werden und dieselben „kirchlichen Ehren“ erhalten. (EGbl 1901 S. 61 f und S. 69 f, hier S. 70) Es bestünde ein enger Zusammenhang von Erdbestattung und Auferstehung, war mahnend am Grabe von Prof. Wislicenus, einem Befürworter der Feuerbestattung, in Goslar von einem Geistlichen geäußert worden. Kulemann gab sich bei der Begründung des Antrags ebenfalls als Mitglied des Vereins für Feuerbestattung zu erkennen und kritisierte die Erklärung der Eisenacher Konferenz, wonach es die Pflicht des Geistlichen lediglich wäre, die Angehörigen im kleinen Kreis zu trösten. Im Laufe der Debatte berichtete Konsistorialpräsident Spies von einem Bericht an das Kultusministerium, wonach die Landeskirche jede amtliche Mitwirkung beim Akt der Feuerbestattung, bei der Überführung der Leiche und bei der Beisetzung der Asche verbiete. Möglich wäre eine seelsorgerliche Handlung im Trauerhaus im deutlichen Abstand zur Überführung der Leiche. Auf Nachfragen hin erklärte Spies, dass ein zuwiderhandelnder Geistlicher disziplinarisch belangt würde. Es gab insgesamt 28 Wortmeldungen davon sieben Mal vom Konsistorialpräsidenten. Der Antrag wurde zur Neuverhandlung an den Ausschuss zurückverwiesen. Schon an diesem ersten Tag klärten sich die theologischen Unterschiede. Die Abgeordneten Wollemann, Schulz und Lüderßen sprachen sich überhaupt gegen die Sitte der Feuerbestattung aus. Der Braunschweiger Bürgermeister Retemeyer, in dessen Stadt das Krematorium gebaut worden war, verteidigte dagegen die Feuerbestattung und wünschte eine Klärung der Beisetzung, denn die Braunschweiger Pfarrerschaft hatte die Beisetzung einer Urne auf dem von ihr verwalteten Friedhof abgelehnt. (Sb 3 S. 17-26)

Das feste Kirchengestühl
Am nächsten Tag kam ein weiteres, auf dem Lande viel diskutiertes Thema durch einen Antrag der kirchenrechtlichen Kommission ins Plenum, nämlich die Aufhebung des festen Kirchengestühls. Die Gemeindemitglieder hatten die Möglichkeit, sich feste Plätze in der Kirche zu kaufen, die von anderen Gottesdienstbesuchern nicht benutzt werden durften. Das wirkte störend. Eine vollständige Freigabe würde auf großen Widerstand stoßen, aber die Kirchenvorstände sollten entscheiden, von welchem Augenblick des Gottesdienstes die Plätze auch anderweitig besetzt werden könnten. (Sb 4 S. 27 f) Das grundsätzliche Problem, dass Plätze in den Stadt- und Dorfkirchen käuflich waren, wurde nicht behandelt. Die Synode erwartete vom Konsistorium eine entsprechende Verordnung. Ein weiterer Kommissionsantrag setzte sich für einen zeitlich begrenzten Pfarrdienst im Ausland ein.

Erhöhung der Braunschweiger Synodalen auf fünf?
Die enorme Zunahme der Bevölkerung besonders in der Stadt Braunschweig war Anlass für einen Antrag, die Anzahl der Braunschweiger Synodalen auf fünf zu erhöhen. (Sb 5 S. 40)

Bei der Frage, ob Generalsuperintendenten zugleich Konsistorialräte sein könnten, stellte Kulemann die später immer wieder aufgeworfene Alternative auf, „entweder vollständig zu centralisieren, oder, wenn die Centralisation im Interesse des kirchlichen Lebens nicht wünschenswert erscheine, die Zwischeninstanzen selbständiger zu gestalten“. (Sb 5 S. 44) Konsistorialpräsident Spies erklärte ungehalten, er betrachte die Debatte als Eingriff in die Geschäftsordnung des Konsistoriums, die Sache sei „nicht weiter diskutabel“. (ebd) Kulemann konterte, für reine gedeihliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen Landssynode und Konsistorium wäre eine bessere Berücksichtigung der Wünsche der Landessynode wünschenswert. (Sb 5 S. 45)

Auch bei der Frage, ob bei der sichtlich wachsenden Zahl der Gemeindemitglieder Kirchengemeinden geteilt und neue gegründet werden müssten, fühlten die Konsistoriumsmitglieder eine unpassende Einmischung in ihre eigenen Dienstangelegenheiten. Der Abgeordnete Müller schilderte die Situation in Blankenburg, das von 3.000 auf 10.000 gewachsen wäre und dringend eine neue Pfarrstelle benötige. Jeep erinnerte an den Notstand in Holzminden. Die Superintendenten müssten mehr vom Konsistorium eingebunden werden. Das Konsistorium wurde „ersucht“, als Übergang zur Bildung neuer Pfarrstellen Pfarrkollaboraturen einzurichten. Es kam zum Wortwechsel zwischen Kulemann und Spies, der den Vorwurf mangelnden Entgegenkommens zurückwies. An das Konsistorium würden „häufig unnötige Anträge“ gestellt. (Sb 5 S. 45)

Empörung über unangemeldeten Gottesdienstbesuch von Superintendenten
Der Abgeordnete Oberamtsrichter Kunze bemängelt jene zwei Schreiben des Konsistoriums, wonach unangemeldete Gottesdienstbesuche angekündigt wurden. Konsistorialrat Moldenhauer verteidigte den Erlass, man erhoffe sich ein ungeschminktes Bild vom Leben in der Gemeinde. (Sb 5 S. 50) Diese Erklärung löste nun eine erregte Debatte aus. Der Vorsitzende des Landespredigervereins Pillmann schilderte die dadurch verursachte Aufregung in der Pfarrerschaft und nannte die Situation schmerzlich. Er beanstandete, dass das Konsistorium nicht vorher die Superintendenten zusammengerufen habe. Pastor Schumann erklärte, die Form des Erlasses habe ihn wie ein Schlag getroffen. (Sb 5 S. 51) Nach neun Wortmeldungen wurde ein Antrag auf Schluss der Debatte abgelehnt und die Aussprache am folgenden Tag erregt fortgeführt.
Ungeschickt bezeichnete Konsistorialrat Moldenhauer den Erlass als einen Segen, man bekäme im Konsistorium eine Anschauung vom alltäglichen kirchlichen Leben. (Sb 6 S. 55). Der Erlass hatte auch die Kirchenvorstände erreicht, von denen einige beschlossen hatten, die Kirchentüren nach Beginn des Gottesdienstes zuzuschließen, da einige Superintendenten offenbar erst während des Gottesdienstes in der Dorfkirche auftauchten. (ebd) Nach insgesamt 32 Wortmeldungen wurde ein Antrag des Abgeordneten Hauswaldt einstimmig angenommen, wonach die Synode die Erwartung ausspreche, es werde die Ausführung der „unangemeldeten Kirchenbesuche“ derart geschehen, dass dieselben weder den Predigerstand im Allgemeinen noch das Ansehen der einzelnen Geistlichen in ihren Gemeinden schädigen.“ (ebd)

Ein anderer Erlass betraf die Prüfung der kirchlichen Kassen, der auch Ermahnungen und Strafandrohungen vorsah. Die Landessynodalen drängten auf Vereinfachung von Formularen.
Die Atmosphäre zwischen Kirchenbehörde und Synodalen war derart eisig, dass am letzten Tag der Aussprache Konsistorialpräsident Spies offen drohte, peinliche Dinge über die Pfarrer aussprechen zu müssen, wenn „die Angriffe gegen das Konsistorium aus der Synode heraus nicht aufhörten.“ (Sb 9 S. 88)
Das Blatt der Liberalen hatte am 5. Mai 1901 berichtet, dass das Urteil über die kirchliche Oberbehörde in weiten Kreisen unseres Landes durchaus abschätzig und abfällig“ sei. Aus der Landesversammlung seien „vor kurzem einige höchst drastische Urteile“ geäußert worden. (EGbl 5.10.1901 S. 71)

Der revidierte Luthertext
Weniger debattenreich verlief die Zustimmung zum erstmals gründlich revidierten Luthertext. 1863 hatte die Konferenz deutscher Kirchenleitungen die Revision der Lutherbibel in Auftrag gegeben. Bis dahin hatten unterschiedliche Ausgaben der verschiedenen Bibelgesellschaften (Württemberger Bibelgesellschaft, Cansteinsche Bibelanstalt, sächsische, badische, preußische Bibelgesellschaften) bestanden. Der Revisionsprozess war nach mehreren Probetexten 1892 zum Abschluss gekommen, und 1894 hatte die Eisenacher Kirchenkonferenz den Landeskirchen die Aufnahme des Revisionstextes in Agenden, Perikopenreihen und Gesangbüchern empfohlen. Die Liturgische Kommission empfahl einstimmige Annahme en bloc, was auch erfolgte. (Anlage 8 Begründung des Kirchengesetzentwurfes den kirchlichen Gebrauch der revidierten Lutherschen Bibelübersetzung betreffend)
Ein weiterer wichtiger Schritt zur Gottesdienstvielfalt war die Einführung rein liturgischer Gottesdienste am Nachmittag der hohen Festtage mit Psalm im Wechsel zu Beginn, zwei Lesungen, Lieder, Schlusspsalm, Segen und einer nur kurzen Ansprache vom Altar. Offenkundig hatte sich die liturgische Reform des Hauptgottesdienstes bei den Gemeinden bewährt. (Anlage 9 Kirchengesetz die Ordnung liturgischer Gottesdienste an den Nachmittagen der Feste Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten sowie der Todtenfeier betreffend“ mit Begründung).

Kein Kirchengebet für den Herzog von Cumberland
Nach den anstrengenden ersten Lesungen der Gesangbuchreform und der Grundsätze über eine Pfründenreform stand in der 17. Sitzung am 10. Mai 1901 die Eingabe der Landesrechtspartei und der Braunschweigisch-welfischen Partei auf der Tagesordnung, die Familie des Herzog v. Cumberland neben der des Prinzregenten in das allgemeine Kirchengebet aufzunehmen. Die beiden Parteien hatten eine entsprechende Bitte bereits an das Staatsministerium und an den Prinzregenten selber gestellt und waren abgewiesen worden.
Das öffentliche Interesse war groß. Die Braunschweiger Neuste Nachrichten hatten bereits am 26. April 1901 auf der Seite 1 das Gutachten der kirchenrechtlichen Kommission unter der Überschrift „Kirchliche Fürbitte für den Herzog von Cumberland“ veröffentlicht. In der Ausgabe am 1. Mai war in voller Länge ein Gegengutachten des Oberlandesgerichtspräsidenten Dedekind erschienen. Die Eingabe konnte als ein Versuch der Politisierung der Synode bedeuten, denn der Herzog hatte auf den Braunschweiger Thron immer noch nicht verzichtet. Als solcher hatte er einen Anspruch auf das sonntägliche Gebet der Gemeinde. Heute heißt es allgemein: „Wir bitten für alle, die uns regieren“, ohne Namensnennung. Der Regierung wäre es am liebsten gewesen, wenn die Landessynode über die Eingabe wegen der damit verbundenen staatsrechtlichen Zusammenhänge, über die zu beraten die Landessynode nicht zuständig war, ohne weiteres hinweggegangen wäre. Stattdessen überwies sie die Eingabe an die kirchenrechtliche Kommission, der die Synodalen Böhme, Hauswaldt, Kulemann, Lüderssen und Wollemann angehörten, und die eine sehr ausführliche 24 Seiten lange Stellungnahme erarbeitete, in die ein Gutachten des Synodalen Kulemann eingearbeitet war. (Anlage 24) Sie kam zu dem Schluss, dass der Herzog v. Cumberland zwar rechtsmäßiger Landesherr wäre, der aber an der Ausübung der Regierungsgeschäfte behindert wäre. Die Wahl des Prinzregenten entspreche der Verfassung und hätte gesetzliche Kraft. Daher stellte die Kommission den Antrag, die Eingabe der beiden Parteien unberücksichtigt zu lassen.
Diese Vorlage löste bei der Kirchenregierung Unbehagen aus. Sie beauftragte den Präsidenten des Braunschweiger Oberlandesgerichtes Dedekind ein Gegengutachten zu erstellen. Zu Beginn der geplanten Debatte in der 17. Sitzung am 10. Mai erklärte allerdings Kirchenkommissar Trieps, die Kirchenregierung sei zwar mit dem Antrag der Kommission, die Eingabe unberücksichtigt zu lassen, einverstanden, aber die ausführliche Begründung lehnte sie kategorisch ab. Diese könnte bei der Bevölkerung Zweifel an der vollen verfassungsmäßigen Rechtmäßigkeit der gegenwärtigen Prinzregentschaft auslösen. (Sb 17. S. 162) Nach dieser Erklärung brach der Vorsitzende die Erörterung ab, um der kirchenrechtlichen Kommission Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben. Inzwischen wurde das Gegengutachten von Dedekind dem Präsidenten übergeben, der es an die Kommission weiterleitete.
Die Synode hätte sich die Erklärung der Kirchenregierung zu eigen machen können, um zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen. Es kam aber ganz anders. Die Erklärung von Trieps hatte die Kommission so stark verärgert, dass am nächsten Tage in Abwesenheit der Regierungs- und Konsistoriumsmitglieder der Sprecher der Kommission, Kulemann, eine mehr als einstündige Erklärung abgab, die Erklärung Punkt für Punkt aus der Sicht der Kommission widerlegte und den Antrag der Kommission sehr ausführlich begründete. (Sb 18 S. 174 – 181)

Der Abgeordnete Rothe empfahl ebenfalls die Annahme des Antrags, „ohne sich aber den Ausführungen und Schlussfolgerungen des Referenten anzuschließen“. (Sb 18 S. 181) Der Abgeordnete Schulz hingegen befürwortete die Eingabe und plädierte für die Aufnahme des Herzogs in das Kirchengebet. Die Annahme des Antrags der Kommission erfolgte nicht einstimmig. Aber die Synode hatte ein weiteres Signal für ihre Unabhängigkeit gesetzt. Die Behandlung dieses Tagesordnungspunktes trug nicht zur Verbesserung des Klimas zwischen Regierung und Landessynode bei. In dieser angespannten Atmosphäre begann die zweite Lesung des Gesangbuches.

Die Reform des Kirchenvorstandes

In der 2. Sitzung hatte Kulemann einen Antrag eingebracht, der die Stellung des Kirchenvorstandes grundsätzlich änderte. (Prot. 2 S. 8 f) Kulemann erinnerte eingangs an die Ersuchen der Landessynoden 1893 und 1897, die Rechte eines Kirchenvorstandes wesentlich zu erweitern. Das Konsistorium war auf diese Ersuchen nicht eingegangen, weil es an einer grundsätzlichen Veränderung der rechtlichen Stellung eines Kirchenvorstandes nicht interessiert war, bei einer Veränderung den Verlust eigener Rechte und Aufgaben fürchtete und eine Lockerung des Verhältnisses der Kirchengemeinde zum kommunalen Gemeinderat befürchtete. Der Antrag Kulemann beschäftigte sich nun nicht mehr allgemein mit der Erweiterung der Rechte des Kirchenvorstandes, sondern schlug in einem für einen Antrag ungewöhnlich ausführlichen Sechs-Punkte-Programm detaillierte Veränderungen vor. Zuerst sollte bei den Kirchenvorstandswahlen die Eintragung in die Wählerlisten entfallen, was viele Wähler abschrecke. Stattdessen sollten (1) alle wahlberechtigten Gemeindemitglieder in einer Liste aufgeführt werden. (2) Die rechtliche Verbindung zwischen politischer und der Kirchengemeinde sollten vor allem in finanzieller Hinsicht gelöst werden. Die Kirchengemeinde sollte ihre Bedürfnisse durch eigene Umlagen befriedigen können und von der Kommunalgemeinde unabhängig werden. (3) Unbeschadet eines Oberaufsichtsrechtes sollte die Verwaltung einer Einzelgemeinde bei dem Kirchenvorstand liegen. (4) Einnahmen und Ausgaben einer Kirchenkasse sollten durch einen jährlichen Voranschlag festgestellt und beim Konsistorium eingereicht werden. (5) Die Kirchenkasse sollte durch einen Kassenführer, nur in Ausnahmefällen vom Pfarrer geführt werden. (6) Kirchenkollekten für örtliche Zwecke sollten vom Kirchenvorstand selbständig angeordnet werden können, solche für allgemeine Zwecke vom Konsistorium genehmigt werden müssen.
Dieser weitreichende Antrag wurde der kirchenrechtlichen Kommission überwiesen, der Kulemann angehörte, und wo er die Verhandlungen in seinem Sinne weiter vorantreiben konnte, zumal die nächste Sitzung erst nach einem Vierteljahr einberufen würde. Der Antrag Kulemanns wurde in der Kommission gründlich bearbeitet, im Wesentlichen gebilligt und der Synode in der 17. Sitzung am 10. Mai 1901 zur Annahme empfohlen. (Anlage 25) Das war kein günstiger Zeitpunkt, denn die Landessynode hatte die anstrengende, sehr kritische Beratung der Pfründengrundsätze hinter sich.
Zu Beginn der 17. Sitzung erklärte der Kirchenkommissar außerdem, dass das Staatsministeriums keinesfalls mit der Stellungnahme der kirchenrechtlichen Kommission in der Angelegenheit der Fürbitte für den Herzog v. Cumberland einverstanden sei, die im wesentlichen ebenfalls von Kulemann stammte. Der Synode wurde das leicht geänderte Sechs-Punkte-Programm von Kulemanns Antrag vorgelegt. Die Kirchenregierung hatte von vornherein auf einer Mitberatung im Ausschuss verzichtet. Aber die liberale und die orthodoxe Gruppe waren sich in den meisten Punkten einig geworden und damit war eine Annahme im Plenum wahrscheinlich. Gleich zu Beginn der Debatte äußerte sich der Kirchenkommissar Trieps äußerst kritisch und erklärte, die Kirchenregierung „werde sich in keiner Weise auf die Commissionsanträge festlegen“. (Sb 17 S. 165) Kulemann erwiderte geschmeidig, von einem Festlegen sei keine Rede, sondern der Austausch der Gedanken solle nur zur Aufstellung von Leitsätzen führen. Der Antrag wurde Punkt für Punkt nach jeweiliger Debatte angenommen. Dabei kam auch die unterschiedliche Situation vor Ort zur Sprache. Der lutherische Superintendent Wollemann berichtete, dass gerade bei unvermögenden Kirchenkassen für die kirchlichen Bedürfnisse langwierige Verhandlungen mit den manchmal nicht sehr freigebigen und wohlwollenden Gemeindevertretungen geführt werden müssten“. (Sb 17 S. 167) Superintendent Schulz hingegen kam mit seiner Gemeindevertretung offenbar gut klar und hatte daher keinen Anlass zur Klage. Der Kommissionsantrag sei für ihn „ein Sprung ins Dunkle“. (Sb 17 S. 169) Auch der Patron v. Grone ahnte „eine Scheidung von Staat und Kirche“. (Sb 17 S. 168) Pillmann verwies bei der Frage der Einführung von Kirchenkassenführern auf deren Einführung in den Landeskirchen Hannover, Weimar, Altenburg und in der Kirchenprovinz Sachsen. Schließlich wurde dieser weitreichende Antrag angenommen und in den wesentlichen Punkten unverändert vom Synodalausschuss dem Prinzregenten noch am 16. Mai 1901 zugestellt. (Anlage 43)
Diese Grundsätze waren ein weiterer erheblicher Schritt der Trennung der Kirche vom Staat, wie es der Synodale v. Grone befürchtet hatte.

Die Einkommensreform (die Pfründereform)

Unmittelbar nach der anstrengenden Aussprache über die Zustände in der Landeskirche begann nach einer dreitägigen Wochenendpause die Aussprache über die einschneidende Jahrhundertreform der noch aus dem Mittelalter stammenden Pfründe.

Die bisherigen Einkommensverhältnisse
Der Pfarrer auf dem Lande lebte Jahrhunderte lang schlecht und recht von den Einkünften der Ländereien, die zu seiner Pfarrstelle gehörten. Jede Pfarrstelle verfügte über ein Vermögen an Land (Acker, Wiesen, Forst) und Sachen, die der Pfarrer von Amts wegen zu verwalten hatte. Diese Einkünfte waren zum Unterhalt der Kirche und für das Einkommen des Pfarrstelleninhabers bestimmt. In einem sog. Güterverzeichnis, dem corpus bonorum, waren diese Vermögen aufgeführt. Sämtliche Einkünfte nannte man „Pfründe“. (siehe v. Schmidt-Phiseldeck Kirchenrecht S. 315 § 123 Pfarrpfründen) Pfründe und Pfarramt waren untrennbar miteinander verbunden. Wenn ein Pfarrer in eine Landpfarrstelle eingeführt wurde, wurde ihm nicht nur sein Amt, das Pfarramt, sondern auch die Pfründe, die Pfarrpfründe übertragen.

Im Konsistorium wurden in einem Pfarrkataster die Einkünfte jeder Kirchengemeinde eingetragen. Die Pfarrstellen der Landeskirche teilten sich nach der Höhe der Pfründe ein. Es gab 70 sehr erträgliche und 120 weniger erträgliche Pfarrstellen. Die Unterschiede waren gravierend. Acht Pfarrstellen erbrachten weniger als 1000 Mark pro Jahr, 41 Pfarrstellen zwischen 1.000 und 2.000 Mark, 29 Pfarrstellen zwischen 5.000 und 6.000 Mark und 25 zwischen 6.000 und 9.000 Mark. Es gab junge Pfarrer auf gut dotierten und ältere auf schlecht dotierten Stellen. Oft wurde ein älterer Pfarrer vom Konsistorium auf eine einkömmlichere Stelle gesetzt, die er bis zu seinem Tod in hohem Alter besetzte und für jüngere Pfarrer blockierte. Das Einkommen der Pfarrstelle schwankte je nach dem wirtschaftlichen Verstand des Pfarrers. Einer erzielte durch geschickte Pachtverträge und hartes Einschreiten beim Pachteintreiben hohe Einkünfte, ein anderer verzichtete lieber „um des lieben Friedens willen“. Die Befürworter des Pfründensystems hoben den durch die Erhebung der Pachtgelder geschaffenen Kontakt zu den Gemeindemitgliedern lobend hervor. Andere sahen dagegen das Pfarrerbild als Seelsorger erheblich beschädigt.
Um die Notlage der sehr niedrigen Eingangseinkommen zu heben, hatte die Landesversammlung 1883 ein einheitliches Anfangseinkommen von 2.100 Mark beschlossen und zahlte, wenn die Pfarreinkünfte die Summe nicht aufbringen konnte, einen Zuschuss aus der Klosterreinertragskasse. Es war nicht selten, dass ein junger Anfänger zum Dienstantritt einen Kredit aufnehmen musste, weil er das Inventar des Pfarrhauses zu übernehmen hatte und die fällige Pacht erst nach einem Vierteljahr einkam. Der junge Mann saß finanziell auf dem Trockenen. Das war kein Anreiz, Pfarrer zu werden.

Die Vorgeschichte
Bereits während der 6. Landessynode 1892/93 war es zu einem ausgedehnten, sachkundigen Vorschlag der kirchenrechtlichen Kommission gekommen, bei formaler Beibehaltung des Pfründensystems das Einkommen nach Dienstalter zu staffeln und eine Versetzbarkeit des Pfarrers als Möglichkeit in Kauf zu nehmen. Die Mängel der gegenwärtigen Einkommenssituation waren drastisch. Die Nachbarkirche Anhalt hatte gerade eine Einkommensreform durchgeführt und war als Vorbild genannt worden. Aber das Konsistorium und das Staatsministerium hatten den Antrag der Synode, gesetzgeberische Maßregeln zu treffen, welche die Besoldung der Geistlichen unter Reform des Pfründensystems nach festen Grundsätzen, namentlich dem Maßstab des Dienstalters zu regeln geeignet sind, einfach nicht weiter bearbeitet. Es verweigerte die Umsetzung des synodalen Ersuchens. Es bedurfte einer Nachfrage des regen Synodalen Böhme zu Beginn der nächsten Synode am 18. Dezember 1896, ob eine diesbezügliche Vorlage noch während der laufenden Synode zu erwarten sei und in welche Richtung sich die Vorschläge der Kirchenregierung bewegen würden und ob man das Pfründensystem abschaffen wolle. (Verhandlungen 7. ordentliche Landessynode Prot. 2 S.10) Während der 9. Sitzung erklärte Konsistorialpräsident Spies, die Verwirklichung dieses Antrages biete „doch große Schwierigkeiten“. ( Sb 9 S. 45)

Die Synode jedoch bekräftigte ihren Beschluss von 1893 (Anlage 32): „Durchlauchtigster Prinz! Gnädigster Prinz und Herr! Euer Königlichen Hoheit beehren wir uns im Auftrage der 7. ordentliche Landessynode untertänigst anzuzeigen, dass dieselbe in ihrer Sitzung am 7.d.M. bei der Beratung eines aus ihrer Mitte gestellten Antrages, die Aufbesserung des Gehaltes der Geistlichen betreffend unter Ablehnung anderweitiger Anträge beschlossen hat, Hohe Kirchenregierung zu ersuchen, gemäß dem in der Sitzung der 6. ordentlichen Landessynode am 18. April 1893 gefassten Beschlusse, danach zu streben, dass solche gesetzgeberischen Maßnahmen getroffen werden, welche die Besoldung der Geistlichen unter Reform des Pfründensystems nach festen Grundsätzen, namentlich dem Maßstabe des Dienstalters, zu regeln geeignet sind, weiter zu verfahren. In tiefster Ehrfurcht Euer Königlichen Hoheit untertänigst-treu-gehorsamster Ausschuss der Landessynode W. Pockels Braunschweig den 15. Mai 1897.) Während der Synodalsitzung war die Denkschrift des Landespredigervereins „Die Reform der Besoldungsverhältnisse der Braunschweigischen evangelischen Geistlichen betr.“ als Eingang gemeldet worden, aber die Synode war nicht weiter auf sie eingegangen. (Pro. 3, S. 12)

Das Konsistorium blieb weiterhin von sich aus untätig, wurde aber vom Prinzregenten zu einer Stellungnahme aufgefordert. Dazu verfasste das Konsistorium eine grundlegende Denkschrift vom September 1899. Aber erst auf einen Antrag des Landtagsabgeordneten und Pfarrers Struve im Mai 1900 forderte die Landesversammlung die Kirchenregierung auf, der Landessynode und dem Landtag endlich eine Vorlage für eine Einkommensreform vorzulegen. Auch das Oberlandesgericht Braunschweig hatte sich gutachterlich dazu geäußert, dass von Seiten jener Gutsherren, die Patronate über die Pfarrstellen ausübten, keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine Reform vorgebracht werden konnten. Trotzdem sah sich das Konsistorium, wie es vor der Landessynode erklärte, „vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt“, (Anlage 11 S. 12 Denkschrift des Konsistoriums Anlage 2) obwohl in anderen Landeskirchen bereits eine derartige Reform durchgeführt worden war, zuerst im Herzogtum Sachsen Anhalt, in Hannover und Sachsen 1898, in Oldenburg 1889, in Baden 1895.

Nach siebenjähriger Wartezeit konnte sich die Landessynode nun mit diesem Thema befassen. Den Synodalen lagen zu diesem Tagesordnungspunkt ungewöhnlich umfangreiche Materialien vor. Die Vorlage des Konsistoriums umfasste eine 53 Seiten lange Abhandlung „Grundsätze für eine Reform des jetzigen Pfründenwesens“, das war im Wesentlichen die Denkschrift für den Prinzregenten, und „Erläuterung der Grundsätze“ mit neun informativen, ergiebigen Tabellen zur Pfarrstellensituation (Anlage 11 mit Anlagen A-I), außerdem eine 20 Seiten umfassende Stellungnahme der synodalen Pfründenkommission mit zusammenfassenden Grundsätzen. (Anlage 18)

Die Vorlage des Konsistoriums sah ein nach Dienstjahren gestaffeltes, regelmäßiges Einkommens von 2.400 – 6.000 Mark vor, das in festen Sätzen ausgezahlt wurde. Einen Anreiz für wirtschaftliches Ausnutzen der Pfründe sollte jedoch ein doppelter Tarif bilden, so dass für jede Pfarrstelle ein Minimaleinkommen und ein Maximaleinkommen vorgeschlagen wurde, das je nach Tüchtigkeit des Pfarrstelleninhabers variieren konnte. Das Konsistorium befürchtete, dass bei einem starren Diensteinkommen die Arbeitsfreudigkeit nachlassen würde. Ein bis heute nicht unberechtigter Eindruck.
Es wurde ein Pfarrbesoldungsfonds eingerichtet, in den ein Teil der Überschüsse der Pfründeneinkünfte fließen sollte. Der Staat sollte wie bisher Einkommenszuschüsse zahlen. Von dieser Regelung waren die Patronatspfarrstellen und die Pfarrer der Stadt Braunschweig ausgeschlossen. Diese Reformvorlage ging davon aus, dass das Pfründensystem grundsätzlich erhalten blieb. Es war, wie es im Grundsatz eins hieß „eine Änderung des bestehenden Pfründensystems.“. (Anlage 11 S. 3)

Die Vorlage der synodalen Pfründenkommission zählte dagegen die erheblichen Mängel des Pfründensystems auf, wonach die Einnahmen der Geistlichen ungleichmäßig, unsicher und unregelmäßig seien, für gleiche Arbeitsleistung eine „außerordentlich ungleiche Vergütung“ erfolge, die Verleihung höher dotierter Stellen an ältere Geistliche die Gemeinden schädige und der häufige Pfarrerwechsel „in äußerstem Maße störend“ wirke. (Anlage 18, S. 1 f) Die Beseitigung dieser Mängel sei „nur möglich durch eine völlige Aufhebung des Pfründensystems“. (Anlage 18 S. 3) Als Zielvorstellung formulierte die Kommission die Abschaffung der Patronate, die Abführung sämtlicher für den Pfarrer vorgesehenen Pfarreinkünfte in den Pfarrbesoldungsfonds, die Führung der Einnahme der Pfründeneinkünfte nicht mehr durch den Pfarrer, sondern durch eine andere Person, sei es aus dem Kirchenvorstand oder aus der Inspektionssynode und auf keinen Fall einen Doppeltarif, sondern einen einheitlichen, dem Dienstalter entsprechenden Tarif. Dieser Tarif sollte dem für akademische Staatsbeamte entsprechen. Dabei waren auch höhere Staatszuschüsse vorgesehen.
Die Gegensätze waren drastisch. Es ging im Grunde um die Frage: Reform des Pfründensystems oder seine Abschaffung? Es war die Frage, wie die Debatte in der Synode verlaufen würde.

Die Debatte
Die Debatte in der Landessynode begann nach der anstrengenden ausgiebigen Debatte um den Lagebericht, bei dem es schon zu Schärfen zwischen Synode und Konsistorium gekommen war, am 10. Sitzungstag, dem 30. April 1901, ungewöhnlicherweise mit einer ausführlichen Erklärung des Kultusminister Trieps, der wesentliche Änderungen dieser Regierungsvorlage ausschloss und vor einem Scheitern der Reform warnte. (Sb 10 S. 101) Die Kommissionsvorschläge seien nicht durchführbar. (ebd S. 102) Der Sprecher der synodalen Pfründenkommission, der die Abgeordneten Pillmann, Struve, Zerbst, Kulemann und Langerfeldt angehörten, Wilhelm Kulemann, bedauerte, dass die Regierung auf halbem Wege stehen geblieben wäre. Kulemann verfolgte die Absicht, in der ersten Lesung zunächst einmal alle, auch weitergehende Wünsche der Synode auf den Tisch zu bringen und vor der zweiten Lesung einen Kompromiss mit den Vorstellungen der Kirchenregierung zu erarbeiten. Dabei zeigte sich Kulemann flexibel, die Frage der Abschaffung der Patronate sei eine Zielvorstellung, trotzdem eine aktuelle Forderung, die jedoch nicht sofort umgesetzt werden müsste. Auch die Frage der Verwaltung der Pfründe sei durchaus diskutabel. Aber die Trennung der Verwaltung der Pfründe vom Pfarrstelleninhaber bedeutete tatsächlich die Trennung von Pfründe und Amt, die doch strukturell zusammengehörten, und war grundsätzlicher Natur.
Konsistorialpräsident Spies nannte in seiner Erwiderung den eigentlichen Differenzpunkt. Von einer „dringend notwendigen Änderung des Pfründensystems“ könne er nicht sprechen. Der Synodale Schumann erklärte unumwunden, „in den Worten des Regierungsvertreters liege viel Entmutigendes. (..) ein absolutes Hindernis der Verständigung würde der Doppeltarif sein, werde der aufrecht erhalten, dann könne man nur die Verhandlung gleich abbrechen.“ (Sb 10 S.106) Sofort erwiderte Konsistorialrat Moldenhauer „kirchliche Gründe schwerwiegender Natur“ hätten zum Vorschlag eines Doppeltarifes geführt.

Die mehrtägige scharfe Debatte, in der der Vorsitzende der Synode Langerfeldt wiederholt wegen sprachlicher Ausfälle nicht nur Abgeordnete sondern auch den Konsistorialpräsidenten Spies ermahnen mußte, beschäftigte sich vor allem mit dem Doppeltarif, mit dem sich die Regierung vom Pfründensystem nicht trennen wollte. Sie stieß dabei aber auf eine breite, gemeinsame Front der Liberalen und Orthodoxen sowohl in der Landessynode wie auch in der Pfarrerschaft und in der breiten Öffentlichkeit.

In einer zehntägigen Pause zwischen dem 4. und 14. Mai 1901 gaben Regierung und Konsistorium in Verhandlungen mit der Pfründenkommission nach und verzichteten auf die Erhebung des Doppeltarifes. Dafür wurde von der Kommission als Kompromiss die Möglichkeit eines Pfarrstellenwechsels nach zehn Jahren vorgesehen, der vom Konsistorium eingeleitet werden konnte. Damit sollte der befürchteten Stagnation vorgebeugt werden. Allerdings wurde der eiserne Grundsatz der Unversetzbarkeit eines Pfarrers aufgegeben. Eine finanzielle Anpassung an die Beamtengehälter im staatlichen Dienst wurde für die nächste Zeit angemahnt. Die Pfarrer der Stadt Braunschweig wurden aus der gesamten Regelung ausdrücklich ausgenommen.
Dieser Kompromissvorschlag wurde der Synode am vorletzten 19. Sitzungstag, dem 14. Mai, vorgelegt und vom Sprecher der Kommission Kulemann und dem Kultusminister Trieps gemeinsam vertreten. (Anlage 35) Die Mitglieder des Konsistorium Spies, Rohde, Dettmer und Moldenhauer ließen die Sitzung schweigend über sich ergehen und meldeten sich nicht mehr zu Wort. Erneut wurde Punkt für Punkt die veränderte, ergänzte Fassung, die jedoch textlich und inhaltlich den Grundsätzen der Pfründenkommission entsprach, zur Abstimmung gestellt und angenommen. Nun bat sogar der Synodale und Patron v. Grone, der wiederholt energisch für das Pfründensystem eingetreten war, es möchten die Patronatspfarrer in die neue vorgesehene Gehaltsskala aufgenommen werden. (Sb 19 S. 198) Der Synodenvorsitzende Langerfeldt verzichtete auf eine demütigende Schlussabstimmung. In einer demnächst einzuberufenden außerordentlichen Synode sollten diese gefassten Grundsätze in einem Kirchengesetz vorgelegt werden. Es blieb abzuwarten, wie die Landesversammlung finanziell der Synode entgegenkommen und wie die Pfarrerschaft auf die Möglichkeit der Versetzbarkeit reagieren würde.

Mit der Annahme dieser Grundsätze war ein weiteres Jahrhundertwerk abgeschlossen. Nach der Abschaffung der Zwangstaufe 1873, die eine tausendjährige Tradition beendet hatte, mit der Einführung zahlreicher gottesdienstlicher Reformen, die einen über zweihundertjährigen Kult beendete, setzte die Einkommensreform wiederum einen Schlusspunkt unter eine Jahrhunderte währende, morsch gewordene Tradition.

Die Gesangbuchreform

Die Vorgeschichte der Gesangbuchreform
Mit der Gesangbuchvorlage kam die Gottesdienstreform seit 1876 zu ihrem Abschluss. Den ersten großen Schritt zu einer Gesangbuchreform hatte Domprediger Thiele mit seinem 1852 erschienen Kirchenbuch getan. Es enthielt nicht nur, wie bereits beschrieben, neue Gottesdienstformen, sondern auch 233 Choräle. Vom gebräuchlichen, rationalistischen Gesangbuch schrieb er im Vorwort: „Warnende, ja abschreckende Beispiele davon, wie man nicht ändern darf, wenn man nicht geradezu verderben will, lagen mir genugsam auf der Hand. Ich brauchte unter anderen nur das hiesige Gesangbuch aufzuschlagen, in welchem die schönsten und kirchlichsten Bildungen durch einen mit möglichst geschmackloser Prosa und nebelgrauer Sentimentalität getränkten Pinsel auf eine unbarmherzige Weise oft bis zur Unkenntlichkeit verwaschen sind.“ (Thiele Kirchenbuch S. IV)

Aus einigen Kirchengemeinden kam der Wunsch nach einer Revision des Gesangbuches. Pfarrer Berndt aus Hehlen, die Kirchenvorstände aus Warle und Schliestedt und die Inspektionssynoden von Lunsen-Thedinghausen und Ahlum baten die Landessynode 1884 um die Einführung eines neuen Gesangbuches. Zur Bearbeitung dieser Bitte und anderer gottesdienstlicher Fragen wurde von der Landessynode eine liturgische Kommission gebildet, die aus dem Domprediger Thiele, Pfarrer Skerl, Superintendent Brunke aus Wolsdorf, Baron v. Cramm, Burgdorf und Stadtsuperintendent Rothe, Wolfenbüttel, bestand. Von der Arbeit der Kommission berichtete Skerl der Synode am 10. Dezember 1884.
Die Kommission empfahl, dem Kirchenvorstand von Warle zu folgen und dem Gesangbuch einen Anhang beizugeben, der die 150 Lieder des Gesangbuches für das Deutsche Heer enthielt. In der Aussprache begrüßte der Synodale Dedekind, Superintendent aus Stadtoldendorf „die Ausmerzung der kalten und frostigen Gesänge“; der Gemeindevorsteher aus Watzum Eimecke dagegen hielt eine Änderung des Gesangbuches für unnötig. Die Landessynode beschloss mit Mehrheit, an die Herzogliche Kirchenregierung den Antrag zu richten, das bestehende Gesangbuch mit einem Anhang zu versehen. Das Konsistorium stellte in seiner Eingabe an das Staatsministerium vom Sommer 1885 fest, dass 77 Lieder des Militärgesangbuches ganz neu wären und 59 befänden sich zwar im Gesangbuch, jedoch in sehr stark veränderter Form. Der Prinzregent Albrecht billigte die Vorlage des Konsistoriums, die Synode beriet 1886 über die Vorlage des Staatsministeriums und beschloss den Liederanhang. Den berechtigten Wünschen vieler würde auf diese Weise entgegen gekommen und die Einführung eines völlig neuen Gesangbuches in angemessener Weise angebahnt. Zu Ostern 1887 wurde der Liederanhang offiziell eingeführt. Nun konnte die Gemeinde erstmals „Macht hoch die Tür“, „Lobe den Herren“, „Nun danket alle Gott“ und „Liebster Jesu, wir sind hier“ singen.

Zehn Jahre später legte das Konsistorium den Inspektionssynoden 1897 die Frage vor, welche Erfahrungen in den Kirchengemeinden mit dem Liederanhang gemacht worden wären. Der konsistoriale Lagebericht von 1900 berichtete von den Rückmeldungen. (Anlage 12 S. 20) Die Aufnahme der Anhangslieder sei „durchweg sehr günstig“. Die Gemeinden erklärten mit größter Einmütigkeit, dass sie „die neuen Lieder mit Lust und Liebe sängen und sich auch die rhythmischen Melodien bald gewöhnt hätten“. Mehrere Inspektionssynoden wünschten auch ein neues Gesangbuch im Sinne des Liederanhanges, also weniger rationalistische Choräle und mehr ursprüngliche Texte.

Die konsistoriale Gesangbuchkommission
Das Konsistorium hatte den Eindruck, dass die Einführung eines neuen Gesangbuches bei den Kirchengemeinden auf geringen Widerstand stoßen würde und berief 1899 eine Gesangbuchkommission unter Vorsitz von Konsistorialvizepräsident Rohde ein, dem die drei geistlichen Mitglieder des Konsistoriums Schütte, Moldenhauer und Dettmer angehörten, die Superintendenten Schulz, Halle und Wollemann, Ostharingen, die Braunschweiger Stadtpfarrer Stock und Pini, die Gymnasialdirektoren Müller, Blankenburg und Brandes, Wolfenbüttel und der Bürgerschullehrer Fricke. Ein neues Gesangbuch stand auch auf der Wunschliste der Pfarrerschaft und der Lehrer.
Die Kommission teilte sich in Untergruppen, die die Auswahl der Lieder erarbeiteten und die Texte redigierten. Das Konsistorium legte dieser Gesangbuchkommission bereits eine Liederauswahl von 504 Liedern vor, von denen der Ausschuss 21 strich und 52 neu hinzufügte. Leitende Gesichtspunkte waren dabei die Beschränkung der Gesamtzahl der Lieder, die Übereinstimmung mit den von den Nachbarkirchen Hannover und Kirchenprovinz Sachsen bereits beschlossenen Gesangbüchern und die Rücksicht auf beliebte Choräle aus der rationalistischen Zeit.

Die Vorlage des Konsistoriums
Das Konsistorium legte der Landessynode die Arbeit dieser Kommission in einem Gesangbuchentwurf vor, der den Anteil der Lieder von 718 auf 536 reduzierte. Das Gesangbuch gliederte sich nicht mehr wie bisher nach den Lehrstücken der Dogmatik, sondern nach dem Kirchenjahr, dem die Sonntagslieder und Lieder zum Beginn des Gottesdienstes vorangestellt wurden. Darauf folgten Lieder von der Kirche, vom christlichen Leben und für besondere Zeiten. Aus dem bisherigen Gesangbuch mitsamt seinem gerade erst eingefügten Anhang des Militärgesangbuches stammten 223 Lieder. Die anderen 313 Choräle waren für die Gemeinde neu. Aus dem rationalistischen Gesangbuch von 1780 waren außer den bisher in den Anhang verbannten Lutherliedern nur noch 60 Lieder übriggeblieben. Es handelte sich demnach um ein völlig neues Gesangbuch, das die konsistoriale Gesangbuchkommission im Dezember 1900 der Landessynode vorlegte. (siehe Bemerkungen zu dem Entwurf eines neuen Gesangbuches Anlage 13 S. 5)

Die Arbeit der synodalen Gesangbuchkommission
Die liberale Mehrheit der Landessynode, die dem rationalistischen Gesangbuch immer noch viel abgewinnen konnte, war über diesen radikalen Eingriff bestürzt. Die konsistoriale Gesangbuchkommission hatte im Vorfeld die liberalen Theologen in die Arbeit kaum eingebunden.
Die Hoffnung, dass die Landssynode diese konsistoriale Arbeit ohne große Debatte en bloc annehmen würde, zerschlug sich. Stattdessen wählte die Landessynode am 20. Dezember 1900 eine eigene liturgische Kommission, der die Abgeordneten Pini, Schumann, Schulz, Jeep und Blanke angehörten, die die Vorlage des Konsistoriums durcharbeitete. Außerdem wurde ein Antrag des Abgeordneten Schumann angenommen, den Entwurf des Gesangbuches in der Zwischenzeit den Inspektionssynoden und Kirchenvorständen zur Stellungnahme vorzulegen. Das wirkte merkwürdig, zumal nur zwei Monate bis Ende Februar für die Rückmeldung vorgesehen wurden. Schumann begründete diesen Antrag mit dem Wunsch, das Gesangbuch möchte mit einer möglichst großen Mehrheit angenommen werden, zur Zeit aber wäre die Stimmung in der Stadt Braunschweig und noch mehr auf dem Lande gegen ein neues Gesangbuch. Der Abgeordnete Kulemann plädierte für eine längere Rückmeldungsfrist und eine Gesangbuchsondersynode im Herbst 1901.
Bis zum Wiedereintritt am 18. April hatte die liturgische Kommission unter dem Vorsitz von P. Schumann die Vorlage gründlich bearbeitet und 34 kleinere und 28 größere textliche Änderungen vorgenommen, die durchaus eine noch größere Originalnähe suchten, außerdem einige Verse hinzugefügt., z.B. die Passionsstrophen „Seh ich dein Kreuz, den Klugen dieser Erde“ und „Wenn endlich, Herr, mich meine Sünden kränken“. (heute EG 91,5+10) Außerdem sollten 23 Lieder aus dem bisherigen Braunschweiger Gesangbuch und 18 Choräle aus anderen Gesangbüchern vor allem aus dem 19. Jahrhundert wie „O du fröhliche“, „Ihr Kinderlein kommet“, „Stille Nacht“, „Der du in Todesnächten“ „Gottes Stadt steht fest gegründet“ u.a. hinzugefügt werden. Dieser Kommissionsvorschlag war mit der lutherischen Gruppe abgesprochen, die schweren Herzens ihre Zustimmung signalisierte. Damit war die Annahme der Gesangbuchvorlage in der Synode mit großer Mehrheit gesichert.

Die Synodaldebatte
In der 15. Sitzung am 7. Mai stellte der Kommissionsvorsitzende Schumann den neuen Entwurf vor, aber in dieser Sitzung wurden erneut Anträge auf Änderungen vorgebracht, und nach einer Sitzungspause weitere 21 redaktionelle Änderungen von der Kommission aufgenommen. Eine liberale Gruppe beantragte außerdem die Aufnahme von weiteren 18 Lieder aus dem ehemaligen Gesangbuch, die kurz vor der ersten Lesung von der liturgischen Kommission in einen Nachtrag zur Vorlage aufgenommen wurde. (Anlage 33 Nachtrag II S. 2) Der Wortführer der orthodoxen Gruppe Wollemann signalisierte daraufhin Ablehnung, beide Seiten betonten, große Opfer gebracht zu haben. Aber in der ersten Lesung am 8. Mai stimmte die Mehrheit der Synode dem Entwurf zu. (Sb 15 S.150)
Die 2. Lesung am 13. Mai wurde mit einer Erklärung von Konsistorialvizepräsident Rohde eröffnet, der die bisherigen Verbesserungen der liturgischen Kommission zwar mittragen wollte, aber die weitere Hinzufügung von 18 Lieder des alten Gesangbuches strikt ablehnte, auch im Namen seiner Königlichen Hoheit. (Sb.18 S.182 f) Daraufhin wurde die Gesangbuchfrage vertagt. Am nächsten Tag beantragte der Kommissionsvorsitzende Schumann, die Gesangbuchfrage auf einer nächsten Sondersynode im Herbst zu behandeln, was jedoch vom Kirchenkommissar und Konsistorium abgelehnt wurde. Kommissar Trieps deutete an, dass die Regierungsvorlage gegebenenfalls zurückgezogen werde „und müsse das Weitere sich finden“. (Sb 19 S. 191) Der liberale Abgeordnete Hauswaldt hielt die ganze Vorlage für nicht abstimmungsreif. Der Kompromiss wäre durch die gestrige Regierungserklärung zunichte geworden. Die namentliche Abstimmung über den Vertagungsantrag ergab Stimmengleichheit. Für eine Vertagung stimmten: Blanke, Böhme, Degering, Hauswaldt, Kulemann, Kunze, Müller (Seesen), Müller (Watenstedt), Roemer, Röttger, Schliephake, Schumann, Retemeyer, Willecke, Zerbst.
Gegen den Antrag stimmte die vor allem orthodoxe Seite Albrecht, v. Grone. Jeep Kellner, Lerche Lüderßen, Müller(Blankenburg), Perl, Pillmann, Rothe, Pini, Struve, v. Schwartz, Schulz, Wollemann. (Sb 19 S. 194)
Wegen Stimmengleichheit wurde für den nächsten Tag eine erneute Abstimmung anberaumt. Da der am Vortag fehlende Abgeordnete Stichel an der Abstimmung teilnahm und für eine Vertagung stimmte, wurde einer Vertagung mit 16:15 zugestimmt. (Sb 20 S. 202) Daraufhin erklärte der Regierungskommissar Trieps, dass auf diesen Vertagungsantrag nicht eingegangen würde und bestand auf einer Abstimmung über die Kommissionsanträge. Nun wurde die Gesangbuchfrage endgültig zu einer Art Machtfrage zwischen Regierung und Synode.

Auch einen Kompromissvorschlag des Abgeordneten Zerbst, die Regierung möge zustimmen, wenn wenigstens einige der neu vorgeschlagenen 18 Lieder fallen gelassen würden, lehnte Kommissar Trieps ab. Die bisherigen Konzessionen hätten „die äußerste Grenze erreicht“. (Sb 20 S. 203) Kulemann beantragte daraufhin eine Sitzungspause, in der ein Teil der 18 Lieder wieder fallengelassen wurde. Trieps jedoch bestand auf „bedingungsloser Annahme“ der ursprünglichen Kommissionsvorlage. Daraufhin wurde in namentlicher Abstimmung die Frage, ob jene 18 Lieder in das Gesangbuch aufgenommen werden sollten, von 17 Abgeordneten bejaht und von 14 verneint. (Sb 20 S. 205) Pillmann, der Vorsitzende des Landespredigervereins, hatte sich auf die liberale Seite geschlagen. Regierungskommissar Trieps zog daraufhin ohne weitere Erklärung die gesamte Regierungsvorlage zurück.
Mit dieser Entscheidung war das gesamte Gesangbuchunternehmen gescheitert und die enorme Arbeit vergeblich. Kirchenkommissar Trieps, über den Fortgang befragt, erklärte, er sei beim besten Willen nicht in der Lage, zu sagen, ob, ob nicht und wann eine Gesangbuchvorlage erfolgen werde.“ (Sb 20 S. 206) Damit wurde der Kauf der bisherigen Gesangbücher wieder angekurbelt.

Keine Synode bisher war von derartigen Anspannungen sowie von einer solchen Themendichte geprägt wie diese achte. Und doch fielen Entscheidungen, die wie beispielsweise die Grundsätze zum künftigen Einkommen und zur Arbeit in den Kirchenvorständen der Zeit weit voraus waren und sich als zukunftssicher erwiesen. Die Synode hatte sich erneut als wesentlicher Reformmotor der Landeskirche erwiesen.



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Impressum  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Synode/, Stand: August 2020, dk