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[Kirche von Unten]

Über die Geschichte der Braunschweiger Landessynode

Ein Kompendium von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf: Band 1 Band 2)



Über die Geschichte der Landessynode zur herzoglichen Zeit (1869-1916)

Die neunte ordentliche Landessynode 1904/05
Die Lagesynode


Quelle Verhandlungen der neunten Landessynode des Herzoghtums Braunschweig eröffnet am 14. Dezember 1904 und geschlossen am 10. März 1905.

Die Vorgeschichte
Die Wahlen zur Synode brachten einige Überraschungen. Es waren fünf Sitze, die von Blanke, Kulemann, Stichel, Müller-Watenstedt und Müller-Blankenburg frei geworden. Um den Platz von Kulemann traten in Braunschweig Prof. Schaarschmidt, um kirchliche Belange hochverdientes Mitglied der Landesversammlung und Gymnasialdirektor Dahl an. Mit 17:16 Stimmen entschied Dahl die Wahl für sich. Um den Platz von Müller-Watenstedt kandidierten die Landwirte Benno Brandes, Offleben, Strauss, Mackendorf und Siems, Söllingen. Mit 44 Stimmen von 87 entschied Amtsrat Brandes die Wahl knapp für sich. Die beiden unterlegenen Bewerber kandidierten auch um den Platz des ausgeschiedenen Rentners Stichel und beide unterlagen mit 47: 40 Stimmen gegen den Landwirt Nieß aus Kl. Sisbeck.
Die elf Synodale, die sich zur Wiederwahl gestellt hatten, wurden auch wieder in die Synode gewählt. Aber nicht kampflos. Bei sieben von ihnen gab es Gegenkandidaten. Gegen den orthodoxen Superintendent Schulz trat der liberale Pastor Heydenreich, Negenborn, an (der unter Bischof Bernewitz, also sehr viel später, Oberkirchenrat wurde, 45:9 für Schulz), gegen den agilen, liberalen Pastor Zerbst der Kollege aus Kl. Winnigstedt, Hinkel (91:43 für Zerbst), gegen den liberalen Pastor Perl der Helmstedter Kollege Bartels (49:38), gegen Pastor Pini der Kollege Rahlwes (23:10 für Pini). Aber Pini konnte den Sitz nicht antreten, weil er noch vor Zusammentritt der Synode am 30. November 1904 im Alter von 51 Jahren verstarb.
(Alle Ergebnisse nach LAW Syn 21 in einer Anlage zum Umlauf an die Mitglieder des Synodalausschusses vom 17.11.1904)
Diese Vorgeschichte spiegelt ein nicht unbeträchtliches Maß an Demokratisierung in der Kirche wieder.
Bei den Pfarrern spielte die theologische Richtung (liberal oder orthodox) eine wichtige Rolle.
Für den ausgeschiedenen Kammerherrn Lüderssen wurde vom Prinzregenten der Kreisdirektor Sievers in die Synode berufen. Sievers wurde später Konsistorialpräsident.

Namen der gewählten und berufenen Synodalen der 9. Landesynode 1904/05

01. Albrecht, Heinrich, Vollmeier, Dölme, seit 1896.
02. Boehme, Carl, Pastor, Räbke, seit 1892.
03. Bohnsack, Gemeindevorsteher, Erzhausen, neu.
04. Brandes, Benno, Oberamtmann, Offleben, neu.
05. Dahl, Gymnasialdirektor, Braunschweig, neu.
06. Degering, Wilhelm, Pastor, Braunschweig, seit 1896.
07. v. Grone, Siegfried, Generalleutnant, Westerbrak, seit 1900.
08. Hauswaldt, Hermann, Kaufmann, Braunschweig, seit 1900.
09. Jeep, Rudolf, Superintendent, Holzminden, seit 1888.
10. Kellner, Robert, Superintendent, Blankenburg, seit 1900.
11. Kunze, Wilhelm, Oberamtsrichter, Salder, seit 1900.
12. Langerfeldt, Conrad, Kreisdirektor, Helmstedt, seit 1888.
13. Lerche, Rudolf, Generalsuperintendent, Braunschweig, seit 1900, erneut berufen.
14. Müller, Forstmeister, Seesen, seit 1892, im Dezember 1904 verstorben, dafür
      14. Dannenbaum, Erich, Kreisdirektor, Gandersheim, neu.
15. Nieß, Heinrich, Landwirt, kl. Sisbeck, neu.
16. Perl, Ernst, Pastor, Beierstedt, seit 1900.
17. Pillmann, Wilhelm, Pastor, Uehrde, seit 1900.
18. Rahlwes, Ferdinand, Pastor, Braunschweig, neu.
19. Retemeyer, Hugo, Oberbürgermeister, Braunschweig, seit 1900.
20. Roemer, Landwirt, Beddingen, seit 1900.
21. Rothe, Emil, Generalsuperintendent, Gandersheim, erneut berufen.
22. Röttger, Friedrich, Gemeindevorsteher, Dannhausen, seit 1896.
23. Schilling, Oberamtsrichter, Blankenburg, neu.
24. Schliephake, August, Ackermann, Uehrde, seit 1896.
25. Schulz, Wilhelm, Superintendent, Halle a.d.W., seit 1886.
26. Schumann, Otto, Superintendent, Timmerlah, seit 1892.
27. Sievers, Friedrich, Kreisdirektor, Holzminden, neu, berufen.
28. Struve, Hermann, Pastor, Greene, seit 1900.
29. v. Schwartz, Amtsrat Hessen, seit 1888, erneut berufen.
30. Willecke, Stadtrat, Königslutter, seit 1896.
31. Wollemann, Bruno, Superintendent, Ostharingen, seit 1896.
32. Zerbst, Carl, Pastor, Gebhardshagen, seit 1888.

Es waren ausgeschieden der Holzhändler Friedrich Blanke, Kl. Rüden, Landgerichtsrat Kulemann Braunschweig, Kammerherr Lüderssen, Gymnasialdirektor Müller, Blankenburg, Ackermann Müller, Watenstedt und Rentner Stichel, Querenhorst. Für sie kamen neu in die Synode Bohnsack, Brandes, Dahl, Nieß, Schilling, Sievers und als Nachwahl für den verstorbenen Pastor Pini Pastor Rahlwes, Braunschweig.

Der Landesversammlung gehörten die acht Synodalen Hauswaldt, Langerfeldt, Pillmann, Retemeyer, Roemer, Röttger, Schliephake und Struve an.

Auf der Regierungsbank nahmen Platz Kirchenregierungskommissar Kultusminister Trieps, Regierungsassessor Schultz, sowie vom Herzoglichen Konsistorium:
Konsistorialpräsident Spies, Oberkonsistorialrat Lieff und die Konsistorialräte Moldenhauer, Dettmer, Klaue.
Durch Zuruf wurden dem Prinz-Regenten die Synodalen Langerfeldt, Schumann und Hauswaldt präsentiert und Langerfeldt als Vorsitzender und Schumann als Stellvertreter bestimmt.
In den Synodalausschuss wurden auf Zuruf die Synodalen Degering, Kunze, Schumann, Rothe und Langerfeldt gewählt, als Stellvertreter Pillmann, Schilling, Hauswaldt, Wollemann und v. Grone.

Nach Einschätzung des ev. Gemeindeblattes hielten sich Liberale und Orthodoxe bei der Sitzverteilung die Waage.

Die Synode tagte nach ihrer Konstituierung und der Wahl der Ausschüsse im Dezember 1904 durchgehend an zwei Wochen im Februar/März 1905. Mit insgesamt 14 Sitzungen gehörte sie zu den kurzen ordentlichen Synoden, eine Erholungspause nach der anstrengenden Synode 1900/1901 und der a.o. Synode 1902. Es gab kein großes Thema, es war eine Normalsynode, vor allem über die kirchliche Lage, daher „Lagesynode“.

Termine und Themen

1. Sitzung 14.12.1904 Mittwoch.
Eröffnungsrede von Kirchenkommissar Trieps, Wahl des Präsidenten und des Synodalausschusses,
Gelöbnis von sechs neuen Synodalen, Bekanntgabe der Regierungsvorlagen.

2. Sitzung 15.12.1904 Donnerstag.
Elf Anträge der Synodalen Pillmann, Willeke, Hauswaldt, Schumann, Böhme.
Wahl von zwei Kommissionen: zur Beratung der „Mitteilungen“ die Synodalen Hauswaldt, Schilling, Böhme, Wollemann und Kellner; für alle übrigen Anträge in die zweite Kommission: Schumann, Pillmann, Röttger, Struve und Langerfeldt.

3. Sitzung 21.02.1905 Dienstag.
Gelöbnis von zwei neuen Synodalen,
Eingaben und Anträge der Kommissionen, von Verbänden und Vereinen.
Beratung des schriftlich vorliegenden, ausführlichen Bericht des Synodalausschusses
Beratung und Beschlussfassung eines Gesetzes betr. Errichtung eines Fonds aus den Erträgnissen des Verkaufs von Gesangbüchern.

4. Sitzung 22.02.1905 Mittwoch.
Einstimmige Annahme eines Antrages Struves betr. Toleranzgesetz im Reichstag.
Aussprache über die Grundzüge eines Plans zur Aufbesserung der Vermögenslage des Emeritierungsfonds durch Überweisung eines Teils der entbehrlichen Jahresüberschüsse der Landespfarrwitwenversorgungsanstalt. Rücküberweisung an die Kommission.

5. Sitzung 23.02.1905 Donnerstag.
Aussprache über verschiedene Schulgesangbuchausgaben mit und ohne Noten, gekürzt und ungekürzt sowie einer Kunstausgabe.

6. Sitzung 24.02.1905 Freitag.
Ausstattung und Einrichtung von Gesangbuchausgaben und eines Gesangbuchfonds; Möglichkeit der Gemeinden, schon jetzt das Gesangbuch in Gebrauch zu nehmen, Einführungstermine; Gesangbuchdruck.

7. Sitzung 28.02.1905 Dienstag.
Aussprache über die Eingehenden Mitteilungen,
Frage der Beteiligung der Landeskirche „an einer größeren Vereinigung der evangelischen Kirche überhaupt“, auch an einer Synodalvertretung. Zurückverweisung an die Kommission.
Frage der Beteiligung der Pfarrer bei einer Feuerbestattung.

8. Sitzung 1.3.1905 Mittwoch.
Fortsetzung der Aussprache über die Eingehenden Mitteilungen,
Persönliche Erklärung v. Grones zu Aussagen über das Bekenntnis „Auferstehung des Fleisches“; Können Kosten zur Veranstaltung der Krankenpflege auf dem Lande von der Kirchenkasse übernommen werden? Frage des Einzelkelches beim Abendmahl; Pressekritik an dem Beschluss gegen das Toleranzgesetz; Zusammentritt der Synode besser Mitte Mai; Anschaffung eines feuersicheren Aufbewahrungsraumes für das Archiv des Konsistoriums; Frage der Anzahl einer Vermehrung der Synodalen für die Stadt Braunschweig infolge des Bevölkerungszuwachses; Kirchenkommissar berichtet ausführlich über die landeskirchliche Finanzlage; Teilung von Kirchengemeinden in Lutter und im Solling; Frage der konfessionellen Zugehörigkeit der Privatpatronate;
Die Verhandlung wurde wegen vorgerückter Zeit abgebrochen.

9. Sitzung 2.3.1905 Donnerstag.
Fortsetzung der Aussprache über die Eingehenden Mitteilungen;
Frage der Privatpatronate; Einsichtnahme der Kommunalgemeinde in Bauvorhaben der Kirchengemeinde bezügl kommunaler Bezuschussung; Mitwirkung der Kirchenvorstände bei der Besetzung der Pfarrstelle; Abbruch der Verhandlungen wegen vorgerückter Stunde.

10. Sitzung 3.3.1905 Freitag.
Fortsetzung der Aussprache über die Eingehenden Mitteilungen.
Sehr ausführliche Aussprache über Mitwirkung der Kirchenvorstände bei der Besetzung der Pfarrstelle; bei der Abstimmung Stimmengleichheit und Wiederholung am folgenden Tag; Fortbildungskurse für Organisten.

11. Sitzung 7.3.1905 Dienstag.
Fortsetzung der Aussprache über die Eingehenden Mitteilungen
In namentlicher Abstimmung der Antrag auf Mitwirkung der Kirchenvorstände abgelehnt; Anschaffung von Gesangbüchern auf Kosten der Kirchenkassen; Frage der Gebühren bei kirchlichen Trauungen; Einbeziehung der Patronatstellen in die Einkommensreform; die Länge der Dauer der Vakanzen; Erhöhung des Wertes der Pfarrwohnung; Erleichterung bei der Übernahme des Pfarrinventars; Vertretungskosten sollten von der öffentlichen Kasse übernommen werden; Lange Debatte über Trennung der Konfirmationshandlung und Abendmahl; Verlegung der Konfirmation auf den Palmsonntag; „wegen vorgerückter Stunde abgebrochen“.

12. Sitzung 8.3.1905 Mittwoch.
Fortsetzung der Aussprache über die Eingehenden Mitteilungen.
Weitere ausgedehnte Aussprache über Trennung der Konfirmationshandlung vom Abendmahl;
standesamtliche Trauung auch am Sonntag ermöglichen; Verwendung von Beckengeldern auch für die kirchliche Arbeit der Gemeindepflege; Abführung der Kollekte für die Heidenmission nicht nur für die Leipziger Mission, sondern auch für den Allgemeinen protestantischen Missionsverein; Einführung von Familienstammbüchern bei kirchlichen Trauungen; Führung von Kirchenbüchern; die Verhandlungen wurden wegen der vorgerückten Zeit abgebrochen.

13. Sitzung 9.3.1905 Donnerstag.
Fortsetzung der Aussprache über die Eingehenden Mitteilungen.
Sehr ausführliche Erläuterungen von Kultusministers Trieps zur Frage der Erweiterung der Rechte des Kirchenvorstandes, „alles sehr schwierig“; einstimmige Annahme des Antrages, dem Kirchenausschuss „synodale Elemente“ an die Seite zu stellen;
Beratung des Kirchengesetzes über die Errichtung eines landeskirchlichen Fonds aus den Erträgnissen des Vertriebs des neuen Gesangbuches. Anstellung eines Studiendirektors am Predigerseminar. Wegen der vorgerückten Zeit wurde die Sitzung abgebrochen.

14. Sitzung 10.03.1905.
Fortsetzung der Beratung über eine Neuorganisation des Predigerseminars; Begrenzung des Ruheeinkommens der Pfarrer auf 5.000 M.; Antrag auf Errichtung einer Landeskirchenkasse und einer Besteuerung reicher Kirchenkassen; Bittschrift des Deutschen ev. Frauenbundes, Frauenpflichten und Rechte in den Gemeinden zu erweitern und Frauen zu kirchlichen Wahlen zuzulassen; Eingabe des Landeslehrervereins betr. Vergütung der Lehrer im Kirchendienst. Bittschrift des Vereins für Feuerbestattung; Zustimmung zum Gesangbuchfonds.
Dreimaliges „Hurra“ auf seine Königliche Hoheit den Prinzen Albrecht v. Preußen und Dank an den Vorsitzenden der Synode.

Hauptgegenstände und Hintergründe

Der Synode fehlte ein großes Generalthema. Insofern war es eine Routinesynode. Die liberale Berichterstattung bezeichnete daher die Verhandlungen der Synode als die langweiligste. Auf keiner Synode wurde aber so eingehend über den Bericht des Konsistoriums zur Lage der Landeskirche diskutiert. Der Bericht war auch sehr ausführlich geraten.

Der achte Lagebericht

Die „Eingehende Mitteilungen über die Zustände und Verhältnisse der Landeskirchen“ des Konsistoriums (Anlage 7) umfasste für die vier Jahre 1900-1903 (einschließlich) 91 Seiten und 5 Anlagen mit 34 Seiten. Es war der 8. und bisher umfassendste Lagebericht. Der erste Schwerpunkt dieses Lageberichtes war eine umfängliche Darstellung des Verhältnisses der Landeskirche zur Eisenacher Kirchenkonferenz, deren Beschlüsse aus dem Zeitraum wie schon früher mitgeteilt wurden. Besonders wurde die Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses geschildert. (siehe Amtsblatt 16. Dezember 1903) Der Prinzregent hatte am 27. Oktober 1903 die Zustimmung zu den Beschlüssen der Eisenacher Konferenz erteilt und den Beitritt der Landeskirche zum Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss ermöglicht. Die Landeskirche erhielt im 15-köpfigen Gremium mit Hessen zusammen einen Sitz. Oldenburg musste sich einen Sitz mit dem Großherzogtum Mecklenburg – Schwerin teilen. Zur Beruhigung der Lutheraner hieß es im Abschnitt 2: „Auf den Bekenntnisstand und die Verfassung der einzelnen Landeskirchen erstreckt sich die Tätigkeit des Ausschusses nicht“. (Anlage 7 S. 5)
In der ersten Kundgebung am 10. November 1903 hieß es leicht pathetisch, aber durchaus einleuchtend: „Es gibt gemeinsame Interessen - die wollen wir fördern; gemeinsame Güter – die wollen wir wahren; gemeinsame Not- der wollen wir wehren“. (ebd S. 8) Also eine Interessen- und Solidargemeinschaft, und wie der Ausschuss ausdrücklich feststellte „nicht eine neue kirchliche Oberbehörde“. (ebd) Das Konsistorium hatte diese Gründungsurkunde im Braunschweiger Anzeiger veröffentlichen lassen. Damit war ein alter und immer wieder vor die Synode gebrachte Wunsch der Liberalen nach einem engeren Zusammenschluss der Landeskirchen in einem kleinen Schritt vorangekommen und erfüllt worden.

Ein Motiv unter anderen für diesen Zusammenschluss der evangelischen Landeskirchen war der Zustand der katholischen Kirche und das mit Sorge beobachtete angebliche Vordringen des „Ultramontanismus“ in einer eher fortschrittsfeindlichen, kulturabgewandten, autoritären Form, durch und durch illiberal. Die starke Zentrumsfraktion im Reichstag sorgte für anhaltende Unruhe gerade in evangelischen Kreisen, die ja nicht über eine derartige politische Macht verfügten. Aktuell war die Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes, das zwar den Orden Jesu nach wie vor verbot, aber den Staatsregierungen den Aufenthalt der Ordensmitglieder in den Ländern gestattete. Für die Zentrumsfraktion war es nur ein erster Schritt, um das ganze Gesetz zu Fall zu bringen. Die Braunschweigische Landeskirche mochte dies nicht sonderlich berühren, denn das Braunschweiger Land war zu über 95 Prozent protestantisch, die katholische Kirche eine Minderheit, und trotzdem wurde in der 8. Landessynode der Antrag eingebracht, die Braunschweigische Staatsregierung zu bitten, dafür zu sorgen, dass im Bundesrat jener § 2 nicht zu Fall gebracht werde. Vergeblich. Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss sah sich aus diesem Anlass zu einer Kundgebung von April 1904 veranlasst, die als Anlage I den Mitteilungen angefügt worden war. Die Gesellschaft Jesu würde nun „Gelegenheit finden, auf dem Gebiet der Jugenderziehung, der Familienseelsorge und Beichte, sowie durch Einwirkung auf nach Stand, Amt und Besitz hervorragende Personen eine den Frieden und die Freiheit im Deutschen Volke gefährdende Tätigkeit auszuüben.“ (Anlage 7 S. 94) Der Kirchenausschuss warnte vor „den maßlosen, stets wachsenden ultramontanen Ansprüchen und dem Protestantismus feindlichen Bestrebungen, welche die auf Alleinherrschaft der römischen Kirche gerichteten Ziele auf jede Weise durchzusetzen suchen“. (ebd.) Der Graben zwischen der evangelischen und römisch-katholischen Kirche war damals abgrundtief. Es gab keine Brücken zum Liberalismus und der evangelischen Theologie um die Jahrhundertwende.

Ein anderer Schwerpunkt des konsistorialen Lageberichtes war die Situation in der Pfarrerschaft. Es gab 257 Pfarrstellen (die 21 Braunschweiger mit zugerechnet), von denen nur 10 vakant waren. Es waren in den letzten Jahren fünf neue Pfarrstellen gegründet worden, beachtlich, weitere wurden in Aussicht gestellt. (ebd S. 46) Der Nachwuchs war zufriedenstellend. 28 Kandidaten waren in einem Pfarramt eingestellt und 13 im Schuldienst, 37 hatten das 2. Examen bestanden, einige davon sollten 1904 angestellt werden. (ebd. S. 62) Das Gehalt betrug 2.400 M. – 6.000 M. 98 Pfarrer blieben unter dem Einkommen von 3.800 M jährlich. Aber es waren in der Landesversammlung gerade im finanziellen „Mittelbau“ Verbesserungen bereits beschlossen. Immer mehr Pfarrer ließen sich nun pensionieren und arbeiteten offenbar nicht mehr bis zum Umfallen wie ihre Väter. Am Jahresende 1899 gab es 31 Emeriti, 1903 34, obwohl die Zahl der Pensionierungen etwas zurückgegangen war. Der Emeritierungsfonds benötigte die vollen Zuschüsse aus der Klosterreinertragskasse. Die Finanzlage des Fonds sei nach wie vor ungünstig. (ebd. S. 53) Das lag auch an den Steigerungen der Ruhestandseinkommen.
Auch der älteren Pfarrerschaft ging es also besser. Die Versorgung der Pfarrwitwen war nicht ungünstig. Das Vermögen der frisch geschaffenen Pfarrwitwen-Versorgungsanstalt war auch dank der Einzahlungen aus den Pfarrstellen auf 2,5 Millionen gestiegen. Davon wurden 37 Pfarrwitwen eine Rente ausgezahlt. 43 Pfarrwitwen hingegen erhielten ihre Einnahmen noch aus den Pfarrämtern. (ebd S. 53) (Ich muss hier einem Irrtum vorbeugen. Mir kommt die Zahl von insgesamt 80 Pfarrwitwen relativ hoch vor. Es können die 43 Pfarrwitwen, die aus den Dotationen der Pfarrämtern unterhalten wurden, auch noch Zuschüsse aus der Pfarrwitwenversorgungsanstalt erhalten haben.)

Auf den Predigersynoden der Generalinspektionen beschäftigten sich die Pfarrer wie bisher wissenschaftlich mit schriftlichen Ausarbeitungen und Aussprachen mit exegetischen Themen wie den Unterschied zwischen dem synoptischen und johanneischen Jesusbild (1902 in Wolfenbüttel, Braunschweig und Blankenburg) oder der Beurteilung von Röm. 3,28 (1902 in Gandersheim und Holzminden), aber auch mit aktuellen Themen, z.B. der Beurteilung der modernen Bestrebungen der Stellung der Frau zum Manne und der wachsende Berufstätigkeit der Frauen verglichen mit dem biblischen Leitbild (1904 in Wolfenbüttel, Braunschweig, Blankenburg).

Auch die Situation in den Kirchengemeinden hatte sich im Großen und Ganzen verbessert. Die Landeskirche zählte 1900 433.633 Mitglieder. In den letzten vier Jahren waren 452 Katholiken zur evangelischen Kirche übergetreten, sehr viel mehr als sonst, und 45 Lutheraner zur katholischen Kirche. Die Amtsgerichte verzeichneten 477 Austritte, jedoch mehrheitlich nicht zu den Dissidenten, sondern zur aufblühenden apostolischen Kirche, und zwar in Wolfenbüttel 228 und in Braunschweig 168 Personen. (ebd. S. 85)

Die Anzahl der kirchlichen Begräbnisse war auf 60,5 % angestiegen, verglichen mit den Jahren 1892-95 von 52,3%, nicht unerheblich. Die kirchliche Begleitung bei Bestattungen fing an, sich einzubürgern. Das war auch ein erfreuliches Echo auf die neue, von der Synode 1886 beschlossene Begräbnisordnung.

Der Gottesdienstbesuch wurde eher als mager bezeichnet, dagegen war der Abendmahlsbesuch seit Jahren konstant geblieben, in den absoluten Zahlen sogar leicht gestiegen, nämlich von 115.439 (1900) auf 122.219 (1903) Teilnehmer. (ebd. S. 70 f)
Auch Stiftungen und Schenkungen sind ein gewisser Gradmesser für die Anerkennung gemeindlicher Arbeit. In den vergangenen vier Jahren waren insgesamt sieben neue Vermächtnisse und vier Schenkungen für die Kirchen errichtet worden, die vom Konsistorium verwaltet wurden. (ebd. S. 7)

Vier Gemeindepflegestationen, die vom Mutterhaus Marienstift mit Diakonissen versorgt wurden, waren in Schöppenstedt, Kl. Rhüden, Negenborn und Braunlage hinzugekommen, eine enorme Leistung von Gemeindediakonie bei den unsicheren Finanzverhältnissen. Kein Wunder, dass drei Gemeindepflegestationen aufgegeben werden mussten (Johannis, Braunschweig; Königslutter und Lauterberg, dazu die Kleinkinderschule in Königslutter und das Klarastift in Lauterberg. (ebd. S. 81)

Auch Kirchbau- und Turmsanierung sowie die Restaurierung der Kirchen schritten voran. 1.138 241 M. waren dazu aufgewandt worden, wovon die Kirchenkassen die Hälfte trugen. (ebd. S. 87) 24 Gemeinden hatten sich eine neue Orgel angeschafft, 33 Orgeln waren gründlich überholt worden. Elf Pfarrhäuser waren neu errichtet worden. Der Bericht listete die Aufwendungen für diesen Bausektor von 1872 bis 1903 auf: es waren 8.111 Millionen, von denen die Kirchenkassen ca 3,4 Millionen, die Kommunen 2,1 Millionen und der Staat 2,6 Millionen aufbrachten. In Mode waren auch die Kirchenheizungen gekommen. 28 Kirchen hatten sich eine Heizung, meist aus eigenen Mitteln angeschafft. (ebd. S. 88)
Die Visitationsdichte hielt auch in den vergangenen vier Jahren an. Es wurden 1900 26 Kirchengemeinden visitiert, 1901 26, 1902 21 und 1903 23 Kirchengemeinden. (Anl. 7 S. 33 f)

Als Ergebnis der vieltägigen Debatte wurden an den Prinzregenten insgesamt 19 Anträge und Bitten gerichtet. (Anlage 28) Es wäre wünschenswert, die Privatpatronate aufzuheben oder per Gesetz zu regeln, dass die Rechte eines Privatpatrons ruhen, wenn er nicht evangelisch ist. Es wirkte begreiflicherweise komisch, wenn ein Patron römisch-katholisch oder jüdisch war, und dann für die Bauunterhaltung der evangelischen Kirche zuständig war. Die Staatsregierung sollte angewiesen werden, standesamtliche Eheschließungen auch am Sonntag vorzunehmen, wenn eine kirchliche Trauung an demselben Tage vorgenommen werden sollte. Der Mietwert der Pfarrwohnungen sollte auf 400 M. angehoben werden. Es sollten die Mitgliederzahlen überprüft werden, um eine genauere Übersicht über die Wahlberechtigten zu erhalten. Es wurde auch das alte Klagelied nach staatlicher Mithilfe bei der Begrenzung der Belustigungen anlässlich der Konfirmation, richtiger: des Schulabschlusses angestimmt. Es wurden auch interne innergemeindliche Angelegenheiten vorgetragen, wie die Übernahme der Kosten für eine beschränkte Zahl von Gesangbüchern auf die Kirchenkasse, die Übernahme der durch das Bälgetreten (sonst funktionierte die Orgel nicht) entstehenden Kosten auf die Kirchenkasse. Sonst musste wohl der übende Lehrer oder Orgelschüler den bälgetretenden Jugendlichen entschädigen.
Es sollten Fortbildungskurse für Organisten eingerichtet werden. Die Kollekten für die Heidenmission sollten nicht nur an lutherische, sondern auch an andere Missionsgesellschaften abgeführt werden dürfen. In diesen Anträgen folgte die Synode im Wesentlichen den Anträgen der Kommission. (Anlage 15)
Es waren also die ganz kleinen Dinge und Bedürfnisse einer Kirchengemeinde, die während dieser Synode zur Sprache kamen. Aber sie betrafen oft und erreichten dadurch auch zustimmend oder ablehnend die Lage der Kirchengemeinden vor Ort.

Finanzielle Aufbesswerung des Emeritierungsfonds durch einen Griff in die Landes -Pfarrwitwen-Versorgungskasse.
Nach dem Eindruck der Staatsregierung war der frisch eingerichtete Emeritierungsfonds nicht prall genug gefüllt. Daher wurde der Synode „Grundzüge eines Plans zu einer Aufbesserung der Vermögenslage des Emeritierungsfonds durch Überweisung eines Teils der entbehrlichen Jahresüberschüsse des Lande-Pfarrwitwen-Versorgungsanstalt“ vorgelegt (Anlage 14) und auf 20 Seiten wortreich begründet.
Der eigentliche Vorgang war ein ganz einfacher: In der einen Kasse war nach dem Eindruck der Staatsregierung sehr viel Geld vorhanden, in der anderen Kasse angeblich zu wenig. Nun sollte eine Kasse der anderen aushelfen. Alle Finanzangelegenheiten wurden vom Finanzministerium besorgt. Die Vorlage gab also die Sicht des Finanzministeriums wieder. Tatsächlich ergaben die beigelegten Finanzübersichten, dass die Höhe des Reservefonds des Emeritierungsfonds zwar von 110.500 M (1897/98) auf 67.100 (1903/04) gesunken war (Anlage I. zu Anlage 14), aber das Kapitel des Emeritierungsfonds selber völlig unangetastet geblieben war. Um den Reservefonds aufzufüllen, hätte der Zuschuss aus der Klosterreinertragskasse von 33.000 M erhöht werden müssen. Bei der Einrichtung des Emeritierungsfonds war auch von höheren Zuschüssen die Rede gewesen. Bei der Summe von 33.000 M war von der niedrigsten Summe ausgegangen worden. Zu einer höheren Zuschusssumme war die Landesversammlung jedoch nicht bereit. Eine Umlage bei der Pfarrerschaft erschien „untunlich“, und so kam der Vorschlag, eine kompliziert errechnete Summe aus der prall gefüllten Pfarrwitwenversorgungskasse zu entnehmen und dazu die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen.
Die Kommission der Synode war mit dieser Regelung nur unter der Bedingung einverstanden, dass vorher ein bestimmter Betrag auch für Pfarrwaisenkinder abgezweigt und, wenn nicht benötigt, angesammelt würde. Außerdem sollten die Pfarrwitwen angemessen an der Steigerung der Vermögenslage der Pfarrwitwenkasse beteiligt werden. Die Synodalen wollten regelmäßig über die Höhe der betreffenden Fonds unterrichtet werden.

Die Verhandlungen in dieser Synode boten auch Szenen aus dem kirchlichen Alltag z. B. eingerissene Missstände beim Einführungsessen. Generalsuperintendent Wollemann trug dazu vor: „Es sind mir aus meiner Praxis Fälle bekannt, in welchen nicht nur die amtierenden Geistlichen und die Kirchenvorstände, sondern auch sämtliche Lehrer, sämtliche Gemeinderatsmitglieder und noch verschiedene andere Gäste, insgesamt bis zu 50 Personen eingeladen sind. Welchen Eindruck macht es, wenn der Geistliche, welcher eben umgezogen ist, und große Kosten dadurch gehabt hat, für ein solches Essen vielleicht 500 M. ausgeben muss? Denn es ist ja schließlich für den einzelnen Geistlichen ein eigenes Ding, wenn er sich dem herrschenden Brauch entzieht, in der Regel muss er ausessen, was ihm der Vorgänger eingebrockt hat“. (Sb 11 S. 161)
Dazu der Abgeordnete Böhme: „Ich möchte noch bemerken, dass es ebenso wünschenswert ist, wenn eine solche Einfachheit auch bei den aus Anlass der Predigersynoden von Seiten der Superintendenten, und bei den aus Anlasse der Visitationen von Seiten der visitierten Geistlichen veranstalteten Essen herrscht, und ich möchte die von dem Herrn Vorredner gegebene Anregung auch noch auf diese beiden Gelegenheiten erstrecken.“



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Impressum  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Synode/, Stand: August 2020, dk