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[Kirche von Unten]

Über die Geschichte der Braunschweiger Landessynode

Ein Kompendium von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf: Band 1 Band 2)



Über die Geschichte der Landessynode zur herzoglichen Zeit (1869-1916)

Die zehnte ordentliche Landessynode 1908/09
Die Kirchengemeindeordnungssynode (KGO)


Quelle: Verhandlungen der zehnten ordentlichen Landssynode.

Die zehnte ordentliche Landessynode war an Umfang der Vorlagen und an Dauer der Verhandlungstage die arbeitsintensivste aller bisherigen Synoden. Die 22 Sitzungstage - vom 16./17. Dezember 1908; 16. Februar bis 5. März 1909 und 11. Mai – 22. Mai 1909 - wurden zweimal unterbrochen, um die Verhandlungsbeiträge zu überarbeiten. Es ging um die erste Kirchengemeindeordnung in der Geschichte der Landeskirche. Bisher war nur von Kirche die Rede, jetzt von Kirchengemeinde. Bisher waren Kirchengemeinde und Kommunalgemeinde dieselbe Größe mit verschiedenen Aufträgen. Alle Bürger der Kommunalgemeinde waren zwangsläufig auch evangelische Christen. Das hatte sich seit 1873 geändert, als der Taufzwang und die Zwangsmitgliedschaft aller Dorf- und Stadtbewohner aufgehoben worden waren. Nun gab es in einem Ort Einwohner, die zwar Bürger, aber nicht Christen waren und sich zur Kirchengemeinde nicht zugehörig fühlten. Außerdem drängten die Kirchengemeinden auf viel mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den Kommunalbehörden. Ortsgemeinde und Kirchengemeinde trennten sich. Ein Jahrhundertunternehmen.

Die außenpolitische Lage wurde im Frühjahr 1909 bedrohlich. Die Braunschweiger Landeszeitung meldete unter der Überschrift „Sturmzeichen“: „Auch die Offiziösen bekennen jetzt, dass ein bewaffnetes Einschreiten gegen Serbien kaum noch zu vermeiden ist“. (BLZ 19.3.09) „Wir leben in einer Zeit politischer Gewitterschwüle“, so Noske vor dem Reichstag. (BLZ 20.3.09) „Die serbische Kriegsgefahr – serbisch-österreichische Grenzgefechte“. ( BLZ 23.3.1909) „Krieg oder Frieden?“ (BLZ 25.3.1909) Eine ähnliche Balkankrise, bei der Russland Serbien unterstützte und Österreich dem Deutschen Reich nahe stand, führte in den 1. Weltkrieg, unter anderem, weil die Aufrüstung im Deutschen Reich und in Frankreich sehr weit fortgeschritten war.

Vorgeschichte
Bei den Wahlen zur Landessynode im Dezember 1908 gab es mancherorts umkämpfte Entscheidungen zwischen Liberalen und Orthodoxen, die sich bisher in der Landessynode in etwa die Sitze teilten. Der liberale Oberamtsrichter Kunze aus Salder, seit 1900 in der Synode, wurde mit 84 Stimmen gewählt, sein Gegenkandidat erhielt jedoch beachtliche 56 Stimmen. Mühlenbesitzer Becker wurde mit 92:48 Stimmen für den ausgeschiedenen Landwirt Römer gewählt. Kirchenpatron und Großgrundbesitzer v. Grone, seit 1900 in der Synode, setzte sich nur knapp mit 29:24 Stimmen gegen den Landwirt Tack aus Kemnade durch. (Alle Wahlergebnisse sind der Akte LAW Syn 21 entnommen)
Andere wurden einstimmig wiedergewählt wie Hauswaldt, Retemeyer, Pillmann, Struve, Dannebaum, Kellner und Jeep. Insgesamt aber war für die Liberalen die Wahl enttäuschend verlaufen. Sie hatten drei Mandate verloren, zwei in Helmstedt und eines in Braunschweig-Land. Im Helmstedter Wahlkreis kandidierte erstmals der Vorsfelder Superintendent Meyer, der mit 46:40 Stimmen knapp die Wahl für sich entschied. Für Stadtrat Willeke kam Forstmeister Schomburg (48:38 Stimmen) in die Synode. In Braunschweig- Land gewann der orthodoxe Superintendent Gronau mit 32:23 Stimmen den Platz des Timmerlaher Superintendenten Otto Schumann.

Die Liberalen betitelten das Wahlergebnis als eine „Wahlniederlage“. (nach EGbl. 1908 S. 181 vom15.11.1908 „Eine Wahlniederlage“) Bei der lutherischen Rechten dagegen war man mit der Wahl „sehr wohl zufrieden“.
Der Herausgeber des liberalen Blattes v. Hanffstengl sah einen Grund für den Verlust der Liberalen darin, dass die Rechte in die Mitte gerückt war, jedenfalls keine extremen Positionen mehr wie früher vertrat. „Unsere heutige Orthodoxie ist nicht mehr das, was sie zur Zeit unserer Väter war. Damals hätte man einen Mann gesteinigt, der (wie Stöcker) die Paradiesgeschichte für eine Sage hielt, der (mit Seeberg) erklärte, „die alte Inspirationslehre ist auf der ganzen Linie gefallen“, der (mit Kaftan) öffentlich aussprach: „Die Lehre von den zwei Naturen in Jesus als solche hat keine Zukunft – ein klares Denken löst sie auf.“ (EGbl 1908 S. 182) In der Mitte hatte also die Orthodoxie liberale Positionen eingenommen. Die erwähnten Stöcker, Seeberg und Kaftan waren Theologieprofessoren, die der kirchlichen Rechten nahe standen.

Es war die erste Landessynode des neuen Herzog-Regenten Johann Albrecht v. Mecklenburg. Der preußische Herzog Regent Albrecht war am 13.9.1906 mit 69 Jahren auf seinem schlesischen Schloss in Kamenz verstorben und dort begraben. Er habe „wenig Verständnis für das heiße Ringen unserer Zeit auf kirchlichem Gebiet gehabt“, schrieb das Blatt der Liberalen, persönlich jedoch „ein warmes Empfinden für die religiöse Aufgabe der Kirche“. (Titelblatt in .EGbl 1906 S. 149 vom 23.9. Damit war die Kirchengewalt angeblich vakant, theoretisch nur, denn praktisch lag sie beim jeweiligen Kultusminister. Es folgte eine Zeit des regierenden Regentschaftsrates. Ab 1908 übernahm die Kirchengewalt der mecklenburgische Herzog Johann Albrecht. Faktisch ging die Arbeit im Herzoglichen Konsistorium und in den Ministerien weiter wie eh und je, und der anachronistische Hofstaat, den Johann Albrecht noch kräftig erweiterte, hatte keinen prägenden Einfluss auf den Ablauf der regionalem Kirchengeschichte. Jedoch auf die Zeremonie der Eröffnung der Synode, von der es im Protokoll heißt:

„Den vom Herzoglichen Oberhofmarschallamte ausgegebenen Anordnungen entsprechend begaben sich die Abgeordneten, nachdem sie zunächst der gottesdienstlichen Feier im Dome St. Blasii beigewohnt hatten (und hoffentlich nicht beigeschlafen D.K.), zur festgesetzten Stunde in das Herzogliche Schloss, wurden in den Thronsaal geleitet, woselbst sich auch die Mitglieder des Staatsministeriums und Konsistoriums, die gleichfalls dem Gottesdienste beigewohnt (!) hatten, einfanden und nahmen dem Throne gegenüber Aufstellung.
Nach kurzer Zeit erschien unter Vortritt der Ober-Hof und der Hofchargen Seine Hoheit der Herzog-Regent, schritt auf die Stufen des Thrones, nahm aus den Händen des Ministers Wolff die als Anlage 1 diesem Protokoll beigefügte Eröffnungsrede entgegen und verlas dieselbe.
Der Herr Minister Wolff erklärte sodann auf Befehl Seiner Hoheit die 20. ordentliche Landessynode für eröffnet.“ (Prot. 1 S. 2)
Der Vorsitzende des Synodalausschusses Kreisdirektor Langerfeldt brachte ein von allen Abgeordneten freudig aufgenommenes Hoch aus, danach „folgten die Abgeordneten der Einladung Seiner Hoheit zur Frühstückstafel“. (Sb 1 S. 3) Die Sitzung im Haus der Landesversammlung begann erst um 16 ¼ Uhr. So war er, der Mecklenburger. Nicht ohne Hintergedanken. Er musste die Synodalen für den monarchistischen Gedanken erwärmen, wie der Verlauf der Synode erweisen sollte.
Denn die 1901 noch viel umstrittene gottesdienstliche Fürbitte für „das ganze Herzogliche Haus Braunschweig“ wurde nun Kirchengesetz, und zwar auf Antrag des mecklenburgischen herzoglichen Regenten. (Anlage 16)

Namen der gewählten und berufenen Synodalen der 10. Landessynode 1908/09

01. Albrecht, Heinrich, Vollmeier, Dölme, seit 1896.
02. Becker, Wilhelm, Mühlenbesitzer, Sickte. neu.
03. Boden, Robert, Kreisdirektor, Blankenburg, neu, berufen.
04. Bohnsack, Hermann, Gemeindevorsteher, Erzhausen, seit 1904.
05. Brandes, Benno, Oberamtmann, Offleben, seit 1904.
06. Dahl, Gymnasialdirektor, Braunschweig, neu.
07. Dannenbaum, Erich, Kreisdirektor, Gandersheim, seit 1904.
08. Deecke, Karl, Amtsrat, Evessen, neu, berufen.
09. Degering, Wilhelm, Generalsuperintendent, Braunschweig, seit 1896, berufen.
10. Gerlich, Richard, Pastor, Braunschweig, neu.
11. Gronau, Carl, Superintendent, Lehre, neu.
12. v. Grone, Siegfried, Rittergutsbesitzer, Westerbrak, seit 1900.
13. Hauswaldt, Hermann, Kaufmann, Braunschweig, seit 1900.
14. Jeep, Rudolf, Superintendent, Holzminden, seit 1888.
15. Kellner, Robert, Superintendent, Benzingerode, seit 1900.
16. Kunze, Wilhelm, Oberamtsrichter, Salder, seit 1900.
17. Langerfeldt, Conrad, Kreisdirektor, Helmstedt, seit 1888.
18. Meyer, Werner, Superintendent, Vorsfelde, neu.
19. Nieß, Heinrich, Landwirt, Kl. Sisbeck, seit 1904.
20. Perl, Ernst, Pastor, Beierstedt, seit 1900.
21. Pillmann, Wilhelm, Pastor, Uehrde, seit 1900.
22. Rahlwes, Ferdinand, Pastor, Braunschweig, seit 1904
. 23. Retemeyer, Hugo, Oberbürgermeister, Braunschweig, seit 1900.
24. Rothe, Emil, Generalsuperintendent, Gandersheim, seit 1884, berufen.
25. Röttger, Friedrich, Gemeindevorsteher, Dannhausen, seit 1896.
26. Schilling, Oberamtsrichter, Blankenburg, seit 1904.
27. Schliephake, August, Ackermann, Uehrde, seit 1896.
28. Schomburg, Wilhelm, Forstmeister, Marienthal, neu.
29. Schulz, Wilhelm, Superintendent, Halle a.d.W., seit 1886.
30. Struve, Hermann, Pastor, Greene, seit 1900.
31. Wollemann, Bruno, Superintendent, Ostharingen, seit 1896.
32. Zerbst, Carl, Pastor, Gebhardshagen, seit 1888.

Es waren zunächst acht Synodale ausgeschieden: nach 20jähriger Synodentätigkeit Amtsrat v. Schwartz aus Hessen, nach 16 jähriger Tätigkeit die beiden Geistlichen Carl Böhme und Superintendent Schumann und nach 12jähriger Tätigkeit Stadtrat Willeke.
Der Braunschweiger Generalsuperintendent Lerche befand sich seit dem 1.1.1908 im Ruhestand. Sein Nachfolger im Amt des Stadtsuperintendenten (Generalsuperintendenten) wurde der Michaelispfarrer August Degering, der bereits seit 1896 Synodaler war. Er wurde jetzt berufen. (Degering verfüge als Schüler von Richard Rothe über eine „achtenswerte theologische Bildung,“ und gehöre zu den Liberalen (so EGbl 1908 S. 3) Kreisdirektor Sievers war Präsident des Konsistoriums geworden. Außerdem schied der Landwirt Roemer aus Beddingen aus. Forstmeister Müller aus Seesen, der auch schon drei Perioden lang Mitglied der Synode, war im Dezember 1904 verstorben, sein Nachfolger wurde Kreisdirektor Dannenbaum, Gandersheim.

Neu waren in der Synode Mühlenbesitzer Becker aus Sickte, Kreisdirektor Boden, Blankenburg, Amtsrat Deecke vom Gut in Evessen, Pastor Gerlich von der Braunschweiger Johanniskirche, Superintendent Gronau, Superintendent Meyer, Vorsfelde und Forstmeister Schomburg aus Marienthal.

Zum ersten Mal gab es in der Landessynode eine orthodoxe Mehrheit. Als „Positiv kirchliche“ zählte das Ev. Gemeindeblatt u.a. auf: Gronau, Meyer, Schomburg, Struve, Dannenbaum, Kellner, Jeep, v. Grone. (EGbl 1908 S. 184)

Da die Kirchengemeindeordnung einen bedeutenden Eingriff in die Kommunalverfassung bedeutete, die auch im Landtag behandelt wurde, war die Doppelmitgliedschaft in Landessynode und Landesversammlung besonders wichtig. Der Landesversammlung, die im Dezember 1908 mit dem 29. Landtag eine neue Sitzungsperiode begann, gehörten folgende sieben Synodale an: Becker, Bohnsack, Hauswaldt, Langerfeldt, Pillmann, Retemeyer, Struve. Langerfeldt wurde Präsident des Landtages und Retemeyer Vizepräsident.

Staatlicherseits nahmen an der Landessynodalsitzung erstmals Kultusminister Karl Wolff und Regierungsrat Albrecht teil. Kultusminister Dr. August Trieps war 1908 ausgeschieden.

Im Konsistorium war Spies zum 1.4.1906 als Präsident ausgeschieden und für ihn Kreisdirektor Friedrich Sievers ernannt worden. Sievers gehöre zur Kirchlichen Rechten, resumierte das Evangelische Gemeindeblatt, aber nicht zu den Extremen. (EGbl 1906 S. 81 vom 27.5.1906)
Vom Konsistorium nahmen außerdem Oberkonsistorialrat Lieff sowie die Konsistorialräte Moldenhauer, Dettmer und Witten teil.

Zum Präsidenten der Synode wurden dem Herzog-Regenten Langerfeldt, Zerbst und Dannenbaum präsentiert und Langerfeldt erneut zum Vorsitzenden und Zerbst wieder als Stellvertreter bestimmt.

Sitzplan

Sitzordnung der Mitglieder der 10. Landessynode
Becker Röttger Schliephake Brandes Pillmann Perl Retemeyer Degering Rahlwes Hauswaldt Dannenbaum
Bohnsack                   Boden
Dahl                   Deecke
Gerlich                   Meyer
Schilling                   Wollemann
Zerbst                   Gronau
Kunze                   Nieß
Kellner                   Albrecht
v.Grone     Protokoll           Rohde
Schulz                   Struve
Jeep   Vorsitzender               Schomburg
    Langerfedt Regierungstisch    
Presse     Wolff Sievers Lieff Moldenhauer Dettmer Witten    
Quelle Neuste Nachrichten 18.2.1909
Erläuterung: die vorwiegend rechten, lutherischen Synodalen saßen auf der rechten Seite und auf den ersten vier vorderen Plätzen links; dahinter und in der Mitte die mehr liberalen Synodalen.

Dem Synodalausschuss gehörten Degering, Kunze, Langerfeldt, Rothe, Wollemann an.
Stellvertretende Mitglieder waren Dannebaum, Hauswaldt, Pillmann, Schilling, Struve.

Erstmals wurde eine Kommission mit sieben Mitglieder gebildet, die die Vorlage der Kirchengemeindeordnung durcharbeiten sollten. Ihr gehörten Dannebaum, Jeep, Wollemann, Struve, Retemeyer, Rahlwes und Schliephake an.
Eine zweite Fünfer-Kommission sollte alle anderen Eingaben und Vorlagen bearbeiten. Ihr gehörten Boden, Kellner, Perl, Schilling und Gerlich an.

Die lutherische Gruppe hatte schon im Vorfeld ihre Wünsche zum Generalthema angemeldet: (Ev.luth. Wochenblätter 1908 S. 182 ff „Wünsche zur X. ordentlichen Landessynode) Die Organistengehälter, die 200 M betrugen, sollten erhöht werden; die Bezahlung entspreche nicht der Ehre der Kirche und der Hoheit kirchlicher Musik. Der Perikopenzwang sollte aufgelöst werden, z.B. sollten A.T.-Stellen mehr benutzt werden können, andere, wie die Speisung der 4 oder 5 Tausend, kämen zweimal vor. Die neue Gehaltsordnung sollte auch auf die Patronatsgeistlichen ausgedehnt werden. In diesen Wünschen trafen sie sich mit der liberalen Gruppe. Ein uneingeschränktes Gemeindewahlrecht dagegen lehnten sie ab.

Termine und Themen

1. Sitzung 16.12.1908 Mittwoch.
Nach einem Gottesdienst in Dom, bei dem erstmals Carl v. Schwartz die Predigt hielt, gab es eine feierliche Eröffnung der Landessynode durch den Herzog Regenten im Thronsaal des Schlosses; danach Frühstück am Hofe.
Sitzungsbeginn im Haus der Landesversammlung 4 ¾ Uhr.
Wahl des Präsidenten und Stellvertreters, Bekanntgabe der Eingänge und Vorlagen.
Wahl des Synodalausschusses.

2. Sitzung 17.12.1909 Donnerstag.
Bekanntgabe von selbständigen Eingängen; Anträge von elf Synodalen und Begründung;
Wahlen für zwei Kommissionen; Debatte über den Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Verhandlungen.

3. Sitzung 16.Februar 1909 Dienstag. Beginn: 10 ¼ Uhr; Schluss: ½ 2 Uhr
Erste Lesung des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung.

4. Sitzung 17. Februar 1909 Mittwoch.
Fortsetzung der 1. Lesung des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung.

5. Sitzung 18. Februar 1909 Donnerstag.
Fortsetzung der 1. Lesung des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung.

6. Sitzung 19. Februar 1909 Freitag. Beginn: 10 ¼ Uhr; Schluss: ½ 1 Uhr.
Fortsetzung der 1. Lesung des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung,
im Anschluss vertrauliche Sitzung.

7. Sitzung 23. Februar 1909 Dienstag.
Fortsetzung der 1. Lesung des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung.

8. Sitzung 24. Februar 1909 Mittwoch.
Gesetz Abänderung der Kirchengebete (Fürbitte für das ganze Haus Braunschweig) in Gegenwart der Minister v. Otto, Hartwieg und Wolff einstimmig und ohne Debatte beschlossen.
Fortsetzung der 1. Lesung des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung.

9. Sitzung 25. Februar 1909 Donnerstag.
Fortsetzung der 1. Lesung des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung.

10. Sitzung 26. Februar 1909 Freitag.
Annahme des Gesetzes der Kirchengemeindeordnung in erster Lesung.

11.Sitzung 2.März 1909 Dienstag.
Gesetz über eine militärkirchliche Dienstordnung.
Bericht des Synodalausschusses; Übersicht über die Einnahmen des Gesangbuchfonds.

12. Sitzung 3.März 1909 Mittwoch.
Bericht der 2. Kommission; Behandlung von Bittschriften.

13. Sitzung 4. März 1909 Donnerstag; Beginn: 10 ¼ Uhr ; Schluss 1 ½ Uhr („vorgerückte Stunde“)
2. Lesung des Gesetzes über die Kirchengemeindeordnung.

14. Sitzung 5. März 1909 Freitag.
Fortsetzung der 2. Lesung des Gesetzes über die Kirchengemeindeordnung und einstimmige Annahme.

15. Sitzung 11. Mai 1909 Dienstag.
Beratung über die Mitteilungen des Konsistoriums über die Zustände in der Landeskirche.

16. Sitzung 12. Mai 1909 Mittwoch.
Fortsetzung der Beratung über die Mitteilungen des Konsistoriums über die Zustände in der Landeskirche.

17. Sitzung 13.5. Mai 1909 Donnerstag.
Eingang der Rückäußerung der Kirchenregierung über das Gesetz der Kirchengemeindeordnung und 56 Änderungen;
Fortsetzung der Beratung über die Zustände der Landeskirche.

18. Sitzung 14.Mai 1909 Freitag.
Beratung der Rückäußerungen des Staatsministeriums;
Fortsetzung der Beratung über die Zustände der Landeskirche.

19. Sitzung 17. Mai 1909 Montag.
Namentliche Abstimmung über das Gesetz der Kirchengemeindeordnung; endgültige Annahme des Gesetzes mit einer Gegenstimme (Jeep).

20. Sitzung 18. Mai 1909 Dienstag Beginn 9.00; (nach BLZ noch eine Nachmittagssitzung ab 16.00 Uhr)
Fortsetzung der Beratung über die Mitteilungen des Konsistoriums über die Zustände in der Landeskirche.

21. Sitzung 21. Mai 1909 Freitag Beginn 10 ¼, Schluss: „vorgerückte Zeit“;
Fortsetzung der Beratung über die Mitteilungen des Konsistoriums über die Zustände in der Landeskirche und Beratung von Anträgen der Synodalen.

22. Sitzung 22. Mai 1909 Beginn 9 ¼.
Beratung von Anträgen der Synodalen; Der Antrag, auf den staatlichen Schutz des Gründonnerstag zu verzichten, wurde in namentlicher Abstimmung abgelehnt,
Behandlung von Bittschriften.
Zum Schluss ein dreimaliges Hoch des Präsidenten auf seine Hoheit den Herzog - Regenten, „dem die Landeskirche die Erfüllung des lang gehegten Wunsches nach einer neuen Kirchengemeindeordnung verdankt“. (BA 23.5.1909)

Die Presse
Das Staatsorgan Braunschweiger Anzeiger (BA) informierte die Öffentlichkeit wie bei allen vorhergehenden Synodaltagungen über die Verhandlungen vom Vortag wieder zuverlässig und schnell, indem er das in der Sitzung verlesene Protokoll in Auszügen abdruckte, also mit zahlreichen Wortbeiträgen. (Es erschienen Berichte in BA 17.12./ 28.12./ 17.2./ 18.2./ 19.2./ 20.2./ 25.2./ 26.2./ 27.2./ 28.2./ 4.3./ 5.3./ 6.3./ 12.5./ 13.5./ 14.5./15.5./ 18.5./ 19.5./ 22.5./ 23.5.1909.) Eine Besonderheit waren Annoncen mit der Angabe der Tagesordnung oft am Tag vor der Verhandlung.

Die Berichterstattung der Braunschweigischen Landeszeitung (BLZ) war genauso aktuell wie das Staatsorgan, manchmal sogar noch aktueller. Sie gab eine Morgen- und eine Abendausgabe heraus, sodass die Eröffnungsrede des Herzog-Regenten Johann Albrecht vom späten Vormittag schon in der Abendausgabe desselben 16. Dezembers zu lesen war. Auch die Verhandlung über das neue Fürbittgebet für das Haus Braunschweig erschien noch in der Abendausgabe des Verhandlungstages. Am nächsten Tag (BLZ 25.2.) war auf S. 1 ein kurzer Kommentar zu lesen. Die Aufnahme des Gebetes sei für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung eine Überraschung gewesen. Sie sei „ein Akt kirchenrechtlicher und politischer Artigkeit, eines gewissen höfischen Taktes.“ „Notwendig war diese Änderung keinesfalls, ihre Nützlichkeit wird durch die Zukunft bestimmt werden.“
(Berichte in der BLZ 16.12./ 17.12./ 18.12./ 17.2./ 18.2./ 19.2./20.2./ 24.2./ 25.2./ 26.2./ 27.2./ 28.2./ 3.3./ 4.3.)
Ein Artikel auf S.1 des Eröffnungstages (15.12.1908) unter der Überschrift „Ernste Worte“ charakterisiert den Standort der Landeszeitung. Darin wurden Äußerungen des Hannoverschen Pastor Grethen hervorgehoben, der die Überschätzung der Rolle der Fürsten kritisiert hatte ,,die oft sich häufenden kirchlichen Fürbitten und Danksagungen für fürstliche Persönlichkeiten, die der breiten Volksmasse kaum dem Namen nach bekannt sind“. Die Schulbücher seien voller „Hurrapatriotismus“. So einen wie Pastor Grethen wünschte sich die BLZ offenbar auch im Braunschweigischen.

Auch die Neuesten Nachrichten (NN) als drittes Lokalblatt versorgte seine Leser gleichfalls am nächsten Tag von den Verhandlungen in der Synode in Form einer Zusammenfassung des Protokolls. (NN 17.12./ 18.12./ 17.2./ 18.2./ 19.2./ 20.2./24.2./ 25.2./ 26.2./ 27.2./ 28.2./ 3.3./ 4.3./ 5.3./ 6.3./ 12.5./ 13.5./ 14.5./ 17.5.7 18.5./ 20.5./ 22.5./ 23.5.)
Am 18.2. erschien eine Redaktionsglosse auf Seite 1 „Hält unsre Landeskirche auf sich?“ Darin befürwortet sie die Einschränkung des Wahlrechtes auf solche Leute, „die der Kirche Ehre machen“. Am 18.2. brachten sie ein Schaubild vom Sitzplan der Landessynode. (Berichte in den NN 17.12./ 18.12./ 17.2./ 18.2./ 19.2.)
Die Kirchliche Presse konnte auf die Berichte in den Tagezeitungen Bezug nehmen, sich eine sachliche Berichterstattung sparen und mit Wertungen und Kommentierungen beginnen.

Im liberalen „Evangelischen Gemeindeblatt“, das in jenen Tagen sein 25 jähriges Erscheinungsjubiläum feierte, verfasste der Herausgeber Pastor v. Hanffstengel eine dreiteilige Rückschau über die Entstehung der Kirchengemeindeordnung. (EGbl. 10.1.1909 / 17.1.1909 S. 9/ 24.1.1909 S. 13. ) Es folgte ein Artikel über die Grundgedanken des Entwurfes (31.1.) und die Sonderrolle der Braunschweiger Stadtgemeinden (EGbl. 7.2.1909) und „allerlei Einzelheiten“. (EGbl. 14.2.1909) Nach der ersten Lesung erschien eine Zwischenbilanz (28.2. S. 33 f) und in den folgenden zwei Nummern die Fortsetzung der Verhandlung (EGbl. 7.2.1909 / 14.3.1909 S. 41), sowie ab S. 87 der Schluss der Verhandlungen. Der Herausgeber v. Hanffstengel war bis zur ersten Lesung selber im Sitzungssaal, danach musste er aus Krankheitsgründen nach Zeitungsberichten und Notizen anderer seine Berichte abfassen. Mit insgesamt 10 Artikeln über die 10. Landessynode waren die liberalen Leser außerordentlich gut informiert worden. In diesem Jahr 1909 beendete das Blatt sein Erscheinen, v. Hanffstengel hatte keinen Nachfolger für die Weiterführung des Blattes gefunden; es fusionierte mit dem Hannoverschen Blatt „Kirchliche Gegenwart“. (EGbl 26.9.1909 S. 153 ff „Zum Abschied“)

Die ev.-luth. Wochenblätter berichteten kaum über den Sitzungsverlauf, sondern polemisierten gegen bestimmte Positionen und bedauerten schließlich den ganzen Ablauf. „Alles in allem genommen müssen wir bekennen, dass wir – milde ausgedrückt – mit sehr gemischten Gefühlen der ganzen Sache gegenüberstehen und wenn nicht in viel nachdrücklicher Weise als bis jetzt die Rechte der organisierten Kirche und der Geistlichkeit gewahrt werden, so können wir nur anstimmen den süß schmerzlichen Ton: Es wäre so schön gewesen, es hatte nicht sollen sein“. (nach EGbl 1909 S. 35 ) Nach der zweiten Lesung empfahlen die Wochenblätter, der Regent sollte besser die Vorlage zurückziehen. Mit dieser Meinung blieb der Herausgeber aber weit rechts von den lutherisch-orthodoxen Synodalen, die ja mit einer Ausnahme dem Gesetz zustimmten. Immerhin fand während der Synode ein polemischer Diskurs zwischen den beiden Blättern statt und beleuchtete Positionen, die sich rechts und links von der Mitte des theologischen Spektrums befanden.

Hauptgegenstände und Hintergründe

Die Kirchengemeindeordnung

Die Vorgeschichte
In einem ausgiebigen Erörterungsprozess entstand die Kirchengemeindeordnung. Erstmals rückte die Kirchengemeinde in den Mittelpunkt der Gesetzgebung. Immer wieder hatte die Landessynode auf mehr Selbständigkeit und einen größeren Wirkungskreis der Kirchengemeinden gedrängt, so auf der 6. Landessynode am 19. April 1893, also vor 15 Jahren. Am 4. Mai 1897 wiederholte sie diesen Beschluss. Da die Kirchenregierung immer noch nicht reagierte, verfasste der Abgeordnete Kulemann im Mai 1901 ein ausführliches Siebenpunkteprogramm. (siehe Begründung des Gesetzes Anlage 12 S.37 ff)

Nun endlich lag den Synodalen im Dezember 1907 ein konsistorialer Entwurf mit einer ausführlichen, gehaltvollen Begründung vor, (Anlage 12) der von einer auf sieben Personen erweiterten Synodenkommission im Januar 1908 durchgearbeitet und schriftlich auf 49 Seiten mit 126 Abänderungsanträgen den Synodalen zur ersten Lesung am 16. Februar 1908 vorgelegt wurde. (Anlage 15) Für die zweite Lesung lag den Synodalen der stark abgeänderte neue Entwurf gedruckt vor, (Anlage 19) sowie weitere Abänderungsanträge der Kommission zu 22 Paragrafen, (Anlage 20) sowie eine Reihe weiterer Anträge dieser Kommission während der 2. Lesung. (Anlage 21) Die in der zweiten Lesung geänderte Kirchengemeindeordnung hatten die Synodalen als Anlage 27 in den Händen. Auf diese Lesung erwiderte das Staatsministerium mit 53 Änderungswünschen, (Anlage 29) denen sich die Synode schließlich fügte, weil sich nur drei als inhaltlich kontrovers herausstellten. Vorsitzender und Sprecher der synodalen Kommission war der Braunschweiger Oberbürgermeister Retemeyer, der äußerst geschickt die entgegengesetzten Wünsche von Synode und Regierung schließlich zu einem einvernehmlichen Ergebnis führte.

Die Vorlage der Kirchenregierung
Der Regent hatte die Bedeutung der Synode in seiner Eröffnungsrede im Thronsaal des Schlosses hervorgehoben. Die neue Kirchengemeindeordnung sei „auf weitgehende Selbstverwaltung der Kirchengemeinden gegründet“. Mit dieser Vorlage werde den Kirchengemeinden hinsichtlich ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstverwaltung ein großes Vertrauen entgegengebracht“. (Anlage 1 ) Darauf hatten die Synodalen lange genug gewartet.

Die Vorlage war ein Paragrafenwerk von 97 Paragrafen, das in 28 Kapitel gegliedert war. Wie so oft war auch hier ein Kernstück mehr in einem Nebensatz versteckt. § 5 bestimmte, dass die Kirchengemeinde verpflichtet sei, „für Erhaltung und Beschaffung der Mittel zur Befriedigung ihrer kirchlichen Bedürfnisse zu sorgen, soweit diese nicht aus dem Kirchenvermögen oder durch Leistungen, welche auf besondere Rechtsgründen beruhen, zu decken sind; die in dieser Beziehung bestehenden Verpflichtungen der Ortsgemeinden werden aufgehoben“. (Anlage 12 S. 5) Bisher mussten die Kommunalgemeinden für die Defizite der Kirchengemeinden aufkommen, und das traf für die meisten Kirchengemeinden zu. Die wenigsten hatten so hohe Einkünfte, dass sie Pfarrer, Kirche und Pfarrhaus unterhalten konnten. Das angehängte Sätzchen „die in dieser Beziehung bestehenden Verpflichtungen der Ortsgemeinden werden aufgehoben“ bedeutete eine Wende in einer Jahrhunderte alten Tradition und hätte eine deutlichere Hervorhebung verdient, vor allem die Frage erörtern müssen, ob sich die Kommunalgemeinden durch eine Pauschale aus dieser Verpflichtung lösen. Eben diese Frage jedoch sollte im Hintergrund bleiben, und daher wurde auch eine Hervorhebung dieses epochalen Vorganges vermieden. Er bedeutete tatsächlich die Trennung von Staat und Kirche auf kommunaler Ebene. Den Kirchengemeinden wurde dafür das Recht der Erhebung einer Ortskirchensteuer gestattet, die bis zu 5 Prozent der Einkommenssteuer betragen konnte. (Anlage 12 § 70) Diese Ortskirchensteuer wurde in der Kirchenkasse vereinnahmt, für die ein ein - bis dreijähriger Voranschlag aufgestellt werden musste. (§ 61 S. 20)

Die Selbstständigkeit der Kirchengemeinde gründete auf einer zweiten Säule. Sie erhielt den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes. (§ 6: „Die Kirchengemeinden sind Körperschaften des öffentlichen Rechtes und haben innerhalb der durch das Gesetz festgestellten Schranken ihre Angelegenheiten selbständig zu verwalten“) Das war die größte Machtabgabe des Konsistoriums. Bedeutete § 5 die Unabhängigkeit der Kirchengemeinde von der Kommunalgemeinde, so brachte der § 6 eine gewisse Unabhängigkeit der Kirchengemeinde von der konsistorialen Oberbehörde.

Für diese völlig neue Form der Verantwortlichkeit der Kirchengemeinde wurde das bisherige Selbstverwaltungsorgan des Kirchenvorstandes nicht für ausreichend gehalten. Organe der Kirchengemeinde wurden nun die Kirchengemeindeversammlung von 8-24 Mitgliedern je nach Größe (Kapitel IX § 12) und der Kirchenvorstand (Kapitel X) von 4 – 6 Mitgliedern (§ 46), der aus der Kirchengemeindeversammlung gewählt wurde. Der Kirchenvorstand war sozusagen der die Finanzen und Mitarbeiter verwaltende und beaufsichtigende, geschäftsführende Vorstand, der die Kirchengemeinde auch bei Visitationen und Feierlichkeiten vertrat. Das war ein völlig neues Verständnis des Amtes eines Pfarrers, der erhebliche Kompetenzen nun an den Kirchenvorstand abgeben sollte. Wie würde sich dies in der Praxis gestalten?

Außerordentlich weitreichend war der knapp gehaltene § 80, der die Verwaltung und Beaufsichtigung des Friedhofswesens am Ort bündig dem Kirchenvorstand unterstellte, wobei die Verpflichtung der Kommunalgemeinde zur Beschaffung und Unterhaltung von Begräbnisplätzen „im bisherigen Umfang“ bestehen blieb. (Amtsblatt 1910 S. 84)

Die Sonderstellung der Kirchengemeinden der Stadt Braunschweig
Die Stadtkirchen Braunschweigs nahmen gegenüber den Land- und Stadtgemeinden traditionell eine Sonderstellung ein und die Kirchengemeindeordnung wäre ein Anlass gewesen, diese Sonderrolle zu beenden. Die Braunschweiger Stadtpfarrer waren seit je her einkommensmäßig besser gestellt, obwohl sie keine Pfründen zu verwalten hatten. Die Stadtgemeinden konnten ihre Pfarrer selber wählen. Die Finanzen der Kirchengemeinden wurden von einer zentralen Kasse verwaltet, außerdem verfügten sie über finanzstarke Stiftungen. Dieser Sonderstatus blieb unangetastet. (Kap. XXIV §§ 92 ff)
Die Gliederung von Kirchenversammlung und Kirchenvorstand wurde in Braunschweig nicht durchgeführt. Die Kirchenvorstände waren 8 - 24 Mitglieder stark. Die übergemeindlichen Organe der Selbstverwaltung waren der Stadtkirchenausschuss und die Stadtsynode (geändert in Stadtkirchenrat). (§ 92 3.und 4.) Den Vorsitz im Stadtkirchenausschuss hatte der Oberbürgermeister inne. Der Stadtkirchenausschuss verwaltete die Gemeindekirchenkasse und konnte durch Beschluss des Stadtkirchenrates eine Ortskirchensteuer erheben. Die Stadt Braunschweig erhob schon seit langem eine Ortskirchensteuer.

Die Debatte in der Landessynode
Die Synodalen verzichteten zu Beginn der Aussprache am 16. Februar 1909 auf eine Generalaussprache über das ganze Gesetzeswerk. Dabei hätte das grundsätzliche Einverständnis aller Synodalgruppen ein wichtiges Signal für die Landesversammlung und in die Gemeinden sein können. Stattdessen stürzten sich die Synodalen sofort in die Aussprache über die 126 Abänderungsanträge ihrer Synodalkommission und verloren sich dabei in Detailfragen.
Dabei blieben die Umrisse der neuen Kirchengemeindeordnung (Unabhängigkeit von der Kommunalbehörde, Erhebung von Ortskirchensteuern, öffentliche Körperschaftscharakter, zweifache Selbstverwaltungsorgane) unbestritten.
Zu den Änderungsvorschlägen der synodalen Kommission, die in der Debatte angenommen wurden, gehörten die Umbenennung von Kirchengemeindeversammlung in Kirchengemeinderat und die Erhöhung des aktiven Wahlalters von 25 Jahre auf 30 Jahre, erstaunlicherweise auch mit den liberalen Stimmen ohne Debatte. Die Vorlage hatte die Wahlberechtigung ausdrücklich nicht von sittlichen Kategorien abhängig gemacht. Diese wurden von der orthodoxen Mehrheit der Kommission in die Vorlage eingeführt. Wahlberechtigt sollten demnach nur die sein, die „weder durch unehrenhaften Lebenswandel noch durch tatsächlich bekundete Verachtung der Religion oder der Kirche öffentliches, durch nachhaltige Besserung nicht wieder gehobenes Ärgernis gegeben haben“. (Anlage 15 Antrag 16 S. 8) Auch die Kriterien für den Kandidaten wurden höher geschraubt: Nicht aufgestellt werden sollten Kandidaten die „durch beharrliches Fernhaltung vom Gottesdienst und von der Teilnahme an den Sakramenten ihre kirchliche Gemeinschaft zu bestätigen aufgehört haben.“ (Anlage 15 S. 9) Da lag viel lustvoller Diskussionsstoff in der Luft.

Zum Sprecher der orthodoxen Mehrheit avancierte im Laufe der Verhandlungen der Synodale Wilhelm Schulz. Schulz war Jahrgang 1836, also 73 Jahre alt und hatte als Alterspräsident die Wahl des Präsidiums geleitet. Er war mit 42 Jahren Pfarrer in Halle a.d.W. und von dieser Pfarrstelle aus 1884 zum Superintendenten ernannt worden. Er war damals einer der Dienstältesten unter den Superintendenten. In dieses Amt wurden seinerzeit vom Kirchenregiment nur zuverlässige orthodoxe Lutheraner berufen. Für seine Dienstauffassung sprach, dass er sich erst mit 84 Jahren 1920 pensionieren ließ und für seine Vitalität, dass er 92 Jahre alt wurde. Über seiner Vita lag ein gewisser Glanz, denn sein Vater war jener Staatsminister Schulz, der in den Synodenanfängen als Kultusminister und Kirchenkommissar fungiert hatte und später Vorsitzender Staatsminister geworden war.

Schulz lieferte sich gleich zu Beginn der Aussprache in der 3. Sitzung ein Wortgefecht mit Konsistorialrat Moldenhauer über die Definition der Kirchenmitglieder. Wie sollte man mit jenen Unierten verfahren, die aus anderen Landeskirchen in die Braunschweigische Landeskirche umgezogen waren und sich dauerhaft niedergelassen hatten? Sie wurden nach § 8 Mitglieder ihrer Kirchengemeinde, sofern sie nicht schriftlich erklärten, dass sie dem lutherischen Bekenntnis nicht angehörten. Durch diese Bestimmung werde der Landeskirche „der Grund und Boden unter den Füßen fortgezogen“, fauchte Schulz. „Ein Zusammenwerfen zweier verschiedener Landeskirchen sei nicht ratsam.“ (Sb 3 S. 15) Schulz nahm damit die in der Synode häufiger diskutierte Frage eines Zusammengehens von lutherischen und unierten Landeskirchen auf, die in der Eisenacher Kirchenkonferenz längst ihren Anfang genommen hatte. Er sei ja mit der Vorlage im Großen und Ganzen einverstanden, aber ihm sei es darum zu tun, „das Konfessionelle mehr hervorzuheben“. (Sb 3 S. 17)

Eine liberale Handschrift dagegen wünschte sich Richard Gerlich, Pfarrer an der Braunschweiger Johanniskirche. Er kritisierte die Einschränkung des passiven Wahlrechtes, die die orthodoxe Mehrheit der Kommission vorgeschlagen hatte. Für einen Posten im Gemeindekirchenrat sollten nur Gemeindemitglieder kandidieren dürfen, die auch fleißig zum Gottesdienst und Abendmahl gingen, „mit Ausnahme solcher, die durch beharrliche Fernhaltung vom Gottesdienste und von der Teilnahme an den Sakramenten ihrer kirchliche Gemeinschaft zu betätigen aufgehört haben“ (Anlage 15 S. 9). Gerlich schlug als allgemeinere Formulierung, die sich „vom kirchlichen Leben der Gemeinde“ fernhielten vor. Man finde in gebildeten Kreisen bisweilen Bedenken gegen die lutherische Auffassung der Abendmahlsfeier. Trotzdem sei es wünschenswert, solche Männer, die im übrigen gute Christen sein können, heranzuziehen zu der Leitung und Verwaltung der Kirche. Gerlich sprach aus der Erfahrung der kirchlichen Praxis in der Stadt Braunschweig.

Gerlichs Antrag löste eine Debatte mit 17 Wortmeldungen aus (Sb 4 S. 24 ff), einen „Sturm“, (so der Abgeordnete Hauswaldt, der ebenfalls aus Braunschweig stammte, Sb 4 S. 25), an dem sich vor allem die lutherische Fraktion beteiligte. „Gerade in den Landgemeinden würde großer Wert darauf gelegt, dass das Sakrament in diese Bestimmung mit aufgenommen werde“, (Sb 4 S. 26) erklärte „der Ackermann“ Schliephake aus Uerde, aber das war die Sicht des Großgrundbesitzers. Die Formulierung setzte sich auch in der zweiten Lesung durch und wurde Bestandteil der endgültigen Kirchengemeindeordnung. (Amtsblatt 1910 S. 59) Mit den grundlegenden Strukturänderungen der Kirchengemeindeordnung hatte diese Debatte nichts zu tun, aber viel mit der Angst, es könnten „kirchenfeindliche Elemente in dem Gemeindekirchenrat das Übergewicht kriegen“. (Sb 4 S. 30)

Eine ähnliche Diskussion entzündete sich an der Frage, ob der Sonntag ein Wahltag sein dürfte. Die Regierungsvorlage überließ Wahlort und Wahltermin der Entscheidung des Kirchenvorstandes. (Anlage 12 S. 10 § 23) Die Kommission schlug den Zusatz vor: „Sonn- und Festtage sind ausgeschlossen“. (Anlage 15 S. 14 Antrag 36) Das löste wieder eine Diskussion mit 15 Redebeiträgen aus. Da die Bevölkerung jedoch bis Sonnabend einschließlich arbeitete, blieb der Sonntag als Wahltag allein übrig. Aber der Abgeordnete Struve befürchtete, dass sich am Sonntagnachmittag im Wahllokal, das meist die Gastwirtschaft sei, „gerade diejenigen Elemente sich besonders zahlreich beteiligen, die man am wenigsten gern an der Wahlurne sähe“. (Sb 5 S. 38) Struve war Pastor in Greene. Generalsuperintendent Rothe verwies auf das Nächstliegende, die Wahl in der Kirche abhalten zu lassen. Die Debatte war zwar lebhaft, aber ging an Grundfragen vorbei. Der Antrag wurde angenommen und Gesetz. (Amtsblatt 1910 S. 64 § 23: „Zeit und Ort der Wahlen werden vom Kirchenvorstand bestimmt. Sonn und Festtage sind ausgeschlossen“)

Soll in Zukunft der Pfarrer wie bisher auch Kirchenrechnungsführer sein? Die Regierungsvorlage sah vor, dass die Rechnungsführung durch den Pfarrer besorgt wird, aber auf Beschluss des Kirchengemeinderates auch einem besonderen Rechnungsführer übertragen werden konnte. (§ 64 Anlage 12 S. 21). Die Kommission schlug den umgekehrten Weg vor. Die Regel sollte die Anstellung eines Rechnungsführers sein, auf Beschluss des Kirchengemeinderrates konnte es auch der Pfarrer sein. Der Gedanke der Kommission war dabei, den Pfarrer von Verwaltungsaufgaben zu Gunsten der Seelsorge zu entlasten. So wurde es beschlossen und Gesetz. (Amtsblatt 1910 S. 78)

Einschneidend war die Umwandlung der bisherigen Parochialsteuer in eine Kirchensteuer. Bisher wurde die Parochialsteuer von der Kommunalgemeinde erhoben und auf Antrag der Kirchengemeinden die Defizite in der Kirchenkasse behoben. Nun wurde statt der Parochialsteuer durch die Kommunalgemeinde ein Zuschlag zur Einkommensteuer erhoben, der vierteljährlich vollständig an die Kirchenkasse abgeführt werden sollte. Diese Parochialsteuer wurde von allen Bürgern erhoben, auch von Juden, Dissidenten und Katholiken, aber offenbar nicht anteilmäßig an diese abgeführt. Dieser unhaltbare Zustand wurde nunmehr beendet. Die Parochialsteuer wurde nicht nur von der Einkommensteuer, sondern auch von der Grund- und Gewerbesteuer erhoben. Die Regierungsvorlage schlug vor, die Grund- und Gewerbesteuer kirchensteuerfrei zu machen, ein problematisches Zugeständnis an die damalige prosperierende Wirtschaft. In der Debatte waren es jedoch gerade die Kreisdirektoren Dannenbaum, Gandersheim und Boden, Blankenburg, die für eine Einbeziehung dieser Steuer in die Kirchensteuer stritten, wie es auch die Synodalkommission beantragt hatte. Die Höhe der Kirchensteuer wurde auf 5 % festgelegt. Im Falle eines höheren Prozentsatzes mussten die Genehmigungen der Kreis- und Konsistorialbehörde eingeholt werden.

Die umfangreichsten Veränderungen betrafen die Sonderbestimmungen für die Stadt Braunschweig. Aus einem einzigen Paragrafen der Regierungsvorlage waren durch die Synodalkommission 27 neue Paragrafen (§ 92 - § 127) geworden. Da der Braunschweiger Oberbürgermeister Retemeyer den Vorsitz in der Synodalkommission hatte, waren die Veränderungen praxisnah und reformorientiert.
In der 19. Sitzung am 17. Mai stimmten 28 Synodale von 29 anwesenden in namentlicher Abstimmung für die Annahme der Kirchengemeindeordnung (die Abgeordneten Schliephake und Zerbst fehlten, (Sb 19 S. 237) der Synodale Jeep stimmte dagegen. Er hatte schon früher die Vorlage als ein „radikales Gesetz“ bezeichnet (Sb 18 S.224) und lehnte eine stufenweise Einführung der Kirchengemeindeordnung ab. Im Übrigen habe sich die Stimmung im Lande inzwischen gewandelt, das Gesetz stieße auf erhebliche Ablehnung. Diese Möglichkeit einer zeitlich abgestuften Einführung war von der Kirchenregierung selber in den § 1 eingefügt worden, nachdem der Synodale Schulz darauf hingewiesen hatte, dass mehrere Kirchengemeinden ihre Bauverpflichtungen nur dann einlösen könnten, wenn die Grund- und Gewerbesteuer weiterhin Grundlage der Erhebung der Kirchensteuer bleibe. ( § 1 letzter Satz: „Insbesondere ist es zulässig, das Inkrafttreten dieses Kirchengesetztes für einzelne Kirchengemeinden auf einen späteren Zeitpunkt festzusetzen“. Amtsblatt 1910 S. 56) Einige Synodale berichteten von einem zustimmenden Echo in ihren Gemeinden. Es herrsche allgemeine Freude über das Gesetz (Kunze), (Sb 18 S. 226) überall werde das Gesetz mit Freuden begrüßt (Becker). Tatsächlich aber hatte es eine Pressekampagne der Rechten gegeben, die schon nach der 1. Lesung behauptet hatten „Sie (die Ergebnisse der 1. Lesung) sind so traurig, dass man nicht von einer Verbesserung sondern von einer Verböserung des jetzigen Zustandes reden kann“. Die Kirchenregierung sollte den Entwurf besser zurückziehen. (nach EGbl 14.3. 1909 S.41) Die lutherischen Mitglieder der Synode ließen sich von ihrer eigenen Presse nicht abhalten, dem Gesetz ihre Zustimmung zu geben.

Die Kirchengemeindeordnung vom 11. Juni 1909 wurde im August 1910 im Amtsblatt veröffentlicht (Amtsblatt 1910 S. 55 ff Nr. 1417) und zum 1. April 1912 in Kraft gesetzt. Im Dezember 1911 wurden die Wahlen zu den Kirchengemeinderäten durchgeführt (Amtsblatt 21. Juni 1911 S. 71 Nr. 1487 Das Inkrafttreten der Kirchengemeindeordnung vom 11. Juni 1909 betreffend und Nr. 1488 S. 73 f Ausführung der Kirchengemeindeordnung betreffend und Nr. 1515 S. 132 Zeit der Wahlen der Kirchengemeinderäte betreffend) und bald danach die Kirchenvorstände gewählt. In den Gottesdiensten am 1. Advent 1911 wurde eine Ansprache des Konsistoriums an die Gemeinden verlesen. (Amtsblatt 1911 S. 154 Nr. 1527)

Der 9. Lagebericht des Konsistoriums
Es war der erste Bericht unter dem Konsistorialpräsidenten Sievers, der sein Amt ein Jahr vorher angetreten hatte. Die „Eingehenden Mitteilungen über die Zustände und Verhältnisse der Landeskirche“ (Anlage 10) umfassten 61 Seiten und hatten dieses Mal keinerlei Anlagen. Es war der bisher kürzeste Bericht, wohl erklärlich aus der überaus umfangreichen Vorlage zur Kirchengemeindeordnung.
Von den Beschlüssen der deutschen evangelischen Kirchenkonferenz wurde die ausnahmsweise Benutzung des Einzelkelches beim Abendmahl und die Stellung der evangelischen Kirche zu den Gemeinschaftsbewegungen hervorgehoben. Diesen sollte u.a. durch Bemühung um Nebengottesdienste entgegengewirkt werden.
Die Landeskirche hatte nach der Volkszählung von 1905 452. 025 Mitglieder (Anlage 10 S. 50). Sie verteilten sich folgendermaßen auf die Inspektionen:
Braunschweig mit Landbezirk: 123.459;
Langelsheim: 24.476;
Gandersheim-Greene: 21.513;
Holzminden-Bevern: 21.511;
Helmstedt- Wolsdorf: 20.130;
Blankenburg: 19.893;
Stadtoldendorf: 18.132;
Vorsfelde-Calvörde: 17.406;
Wolfenbüttel: 17.021;
es folgten die Inspektionen Lehre, Timmerlah, Ahlum, Börssum, Thiede, Königslutter, Schöningen mit ca 10.500 – 14.700 Mitgliedern,
und Wahle, Bruchmachtersen, Schöppenstedt, Lichtenberg, Jerxheim, Halle a.d.W, Hasselfelde, Walkenried zwischen 6.000 und 9.800 Mitgliedern.

Diese Mitglieder sammelten sich in über 300 Kirchengemeinden und 259 Pfarrstellen. Von diesen waren 69 Patronatstellen und Gemeindewahlstellen.
Die Gemeinden wurden nach wie vor regelmäßig visitiert: 1904 27 Kirchengemeinden, 1905: 27; 1906: 26; 1907: 24 Kirchengemeinden. (Anlage 10 S. 10) 46 Pfarrstellen waren in den letzten vier Jahren neu besetzt worden, 14 Pfarrer waren in den Ruhestand gegangen, darunter einige auf „fetten“ Pfarrpfründen, die ein entsprechend hohes Ruheeinkommen erhielten; Semmenstedt mit einem Ruheeinkommen von 6.099 M., Wolsdorf mit 6.736 M., Gr. Winnigstedt mit 6.920 M., Querum 7.103 M., Söllingen 7.520 M. (Anlage 10 S. 21) Das war sehr weit über dem Durchschnitt des mittleren Einkommens der meisten aktiven Pfarrer. Das Anfangsgehalt betrug 2.400 M.
Die Nachwuchsfrage war günstig. Von 58 Kandidaten hatten 40 das theologische Hauptexamen bereits bestanden, einige waren noch 1908 in einem Pfarramt und sieben insgesamt in den vergangenen vier Jahren in den Schuldienst eingestellt worden. Einen Studiendirektor, wie von der vorhergehende Synode beantragt war, hatte die Behörde nicht genehmigt, aber die Pfarrstelle in Atzum war mit einem Lehrauftrag am Predigerseminar verbunden worden. (Anlage 10 S. 28)
In Folge der wachsenden Bevölkerung wuchs auch die Zahl der Kirchengemeinden. Zwei neue Kirchengemeinden (Bündheim und Ackenhausen) waren gebildet worden.
Die Predigersynoden beschäftigten sich erneut mit theologischen Fragen, aber auch mit der Praxis des Konfirmandenunterrichtes und der Verwendbarkeit des Landeskatechismus, (Wolfenbüttel, Braunschweig, Blankenburg 1908), oder mit der modernen Frauenbewegung „mit besonderer Berücksichtigung ihrer Ziele auf kirchlichem Gebiet“ (Helmstedt). (Anlage 10 S. 30 f)
Die Inspektionssynoden 1905 beschäftigten sich mit der Männerarbeit, der Zweckmäßigkeit einer Kirchenchronikführung, und was man tun könne, um die Missstände bei den Konfirmationsfeiern abzustellen. (Anlage 10 S. 11)

Aus der vieltägigen Debatte gingen 18 Anträge und Anregungen hervor, (Anlage 18) darunter folgende: in der Vermehrung der Pfarrstellen fortzufahren und mit den schlecht zahlenden Patronen in Verhandlung zu treten, ob sie in eine Einschränkung ihrer Patronatrechte einwilligen. In sämtlichen Kirchengemeinden sollten Konfirmandenzimmer eingerichtet werden. „Die Synode steht auf dem grundsätzlichen Standpunkte, dass auch die Pfarrer dadurch wirtschaftlich frei und unabhängig gestellt werden müssen, dass ihnen ihre Bezüge allmonatlich im voraus gezahlt werden.“ (Anlage 18 S. 3) Der Gründonnerstag sollte als kirchlicher Feiertag erhalten bleiben, auch wenn „der polizeiliche Zwang für die äußere Heilighaltung“ des Tages beseitigt wird, Pfarrvakanzen sollten schneller beendet werden und die Pfarrvakanzgelder nicht in die Konsistorialkasse sondern in den Emeritierungsfonds fließen.
Das waren kleine Verbesserungen an zahlreichen Arbeitsstellen in der Landeskirche, die vorgetragen wurden.

Nun doch Fürbitte für das Braunschweigische Herzogshaus
Es war eine ganz besondere Sitzung, die achte am 24. Februar 1909. Die Debatte um die Kirchengemeindeordnung vom Vortag war unterbrochen worden. Es waren der leitende Staatsminister v. Otto und der Wirkliche Geheime Rat Minister Hartwieg sowie das Konsistorium mit fünf Mitgliedern erschienen. Also: „großer Bahnhof“. Tagesordnungspunkt eins war dem Wortlaut nach unverdächtig: „Entwurf eines Kirchengesetzes, Abänderung der Kirchengebete betr.“ Dahinter verbarg sich das politisch hochbrisante Thema der Fürbitte für einen Braunschweiger Herzog, den es irgendwo zwar gab, der aber nicht in Braunschweig regierte. Die Landessynode hatte 1901 nach langer Debatte daher eine Fürbitte für den Herzog von Cumberland abgelehnt. und zwar mit der Begründung, dass derselbe zwar erbberechtigter Landesherr wäre, aber eben nicht politisch durchsetzbarer Regent. Diese vom Synodalen Kulemann ausgearbeitete Begründung hatte seinerzeit böse Folgen für ihn gehabt. Er war aus dem Braunschweiger Staatsdienst entlassen worden, wie auch Oberlandesgerichtspräsident Dedekind, der dazu ein Gegengutachten geschrieben hatte. Eine solche Fürbitte war unter der damaligen preußischen Regentschaft von Prinz Albrecht in der Braunschweiger Landeskirche nicht möglich gewesen.

Die Regentschaft hatte inzwischen gewechselt. Der Mecklenburger Herzog Regent Albrecht war offenbar nicht so empfindlich und hatte sich gleich zu Beginn seiner Regentschaft mit den Welfen in Hannover arrangiert. Er fühlte sich auch nur als Platzhalter für einen möglichen Braunschweiger Welfenherzog. (dazu Klaus Erich Pollmann in: Jark/Schildt, Die Landesgeschichte S. 829) Von ihm kam die Anregung, „das Herzogliche Haus Braunschweig in allen seinen Gliedern“ in die sonntägliche Fürbitte mit aufzunehmen. (Anlage 16) Dazu waren Änderungen in 24 Gebeten notwendig gewesen. Der Synodale Schilling begründete das Gesetz. Die hohe Kirchenregierung habe der Landessynode eine Vorlage zugehen lassen, nach der „in den zu gottesdienstlichem Gebrauche bestimmten Kirchengebeten (...) überall da, wo Fürbitte oder Dank für den Regenten des Herzogtums zum Ausdruck gelangt, im Anschluss daran des Herzoglichen Hauses Braunschweig in allen seinen Gliedern in Fürbitte bzw. Danksagung gedacht werden soll.“ (Sb 8 S. 69) Die Situation sei völlig anders als 1901. Damals sollte mit der Fürbitte ein Rechtsanspruch ausgedrückt werden, der jedoch durch das Regentschaftsgesetz beseitigt worden war. „Jetzt soll freiwillig unter Beiseitesetzung des Streits um die dem Landesherrn als solchem zukommenden Rechte auf Anregung der Kirchenregierung selbst durch die Kirchengesetzgebung eine Einrichtung getroffen werden, welche den Wünschen und dem Pietätsgefühl weiter Kreise der Kirchenangehörigen entspricht, sich an alte Traditionen anschließt und als Maßregel der Versöhnung zu begrüßen ist“. Die letzte Bemerkung deutet an, als ob es eine Stimmung der Unversöhnlichkeit zwischen den Welfen und den Braunschweigern gegeben habe.

Für einen Augenblick mag man auch kurz darüber erschrecken, dass sich die Kirche nicht mehr frei genug fühlte, für wen sie beten darf. Das lag indes an der längst hingenommenen Politisierung der Gebetskultur, die seit Herzog Karl I. in die Gottesdienste Einzug gehalten hatte. Die von ihm herausgegebenen Gesangbücher strotzten von abstoßenden, ausschweifenden Gebeten eben für alle Glieder, aber auch alle Prinzen und Prinzessinnen.
Nunmehr sollte in den Braunschweiger Stadt- und Dorfkirchen für beide gebetet werden, zuerst für den amtierenden Herzog Regenten und dann für die politische Reserve.
Schilling beendete seine knappe Begründung leicht salbungsvoll mit dem Gesangbuchvers „Der ewigreiche Gott woll (...) edlen Frieden geben“ Meine Herren! Ich empfehle Ihnen die Vorlage zur einstimmigen debattenlose Annahme“. (Sb 8 S. 71) Einen Kulemann oder einen anderen aufrechten Liberalen, der die Frage aufwarf, ob die Kirche nicht gleichermaßen, wenn schon für zwei Arten von Regierenden, für einen weiteren demokratischen Aufschwung im Lande beten solle, gab es nicht. Auch nicht, was es für die politische Kultur einer Kirche und einer Gesellschaft bedeutete, wenn derart massiv für die Monarchie gebetet werden sollte. Gerade im Braunschweiger Herzogtum ging alle politische Gewalt von den Staatsministerien aus. Der ganze Hofstaat war eine anachronistische Fassade ohne jede politische Bedeutung, es sei denn für die Kitschspalten der Regionalpresse mit ihrer Berichterstattung vom Hofe oder einem Galaessen für die Synodalen.

Die Rede von Schilling, die eine Debatte möglichst vermeiden wollte, war nicht zu übertreffen. Das stellte sich jedoch als Irrtum heraus. Denn nun nahm noch der Korreferent, der Superintendent von Halle a.d.W., Schulz, das Wort. Das Fehlen einer solchen Fürbitte hätte „uns nicht zur Ruhe kommen lassen – es war ein ungestilltes Sehnen der Herzen in weiten Kreisen. Wir harrten, warteten, hofften, hungerten, und hungernde Herzen sind gefährlich für den Staat und die Kirche.
Und nun ist der Tag gekommen, wo dies Sehnen durch die Vorlage der hohen Kirchenregierung gestillt wird. Es ist ein großer Tag in der Geschichte der Landessynode, - ein großer Tag im Leben des braunschweigischen Volkes, und ich darf es ihnen wohl verraten, dass mein Herz im tiefsten Grunde bewegt ist, dass es mir vergönnt ist, diesen Tag zu erleben.
Wenn nun die alte Fürbitte der Kirchenordnung Anton Ulrichs vom Jahre 1709 durch unsere Gotteshäuser laut wird, wird es uns sein, als atmeten wir wieder Alt-Braunschweigische Luft, Erdgeruch der Braunschweigischen Scholle, als fehle nun keiner mehr, den wir im Gebet mitnehmen vor Gottes Thron.
So stehe nun diese Vorlage der Kirchenregierung vor der Synode als eine Gabe und ein Geschenk des hohen Regenten, seiner Hoheit des Herzogs Johann Albrecht an das Braunschweigische Volk – ein weiteres und größtes Zeichen, ich darf wohl sagen, einer Liebe, die helle Augen gibt für das, was einem Volke not ist, und wonach es verlangt...“

Der 72 jährige Superintendent Wilhelm Schulz sprach für die älteren Pastorenjahrgänge, die die Zeiten von Herzog Wilhelm verklärten. Je größer die Entfernung vom Braunschweiger Schloss, um so größer wuchs die Braunschweigbegeisterung, so in Calvörde und in Thedinghausen und in Blankenburg und eben auch an der Weser, wo Halle lag.
Nach dem Synodalen Schulz sprach nur noch kurz der Kirchenkommissar und Minister Karl Wolff, der die Billigung der maßgebenden Stellen im Reich und die einstimmige Zustimmung des Konsistoriums und des Staatsministerium erwähnte, und damit für ein einstimmiges Votum der Synode warb, das dann umgehend erfolgte.

Wenn tatsächlich der Redebeitrag von Superintendent Schulz eine allgemeine Stimmung in der Braunschweiger Bevölkerung wiedergeben sollte, kann man sich die fünf Jahre später überschäumende Begeisterung dieser Bevölkerungsgruppen vorstellen, als im Herbst 1913 der Welfe Ernst August und die Preußin Victoria Luise als junges Herzogspaar in die Landeshauptstadt einzogen. Für Schulz gewiss eine Gebetserhörung.
Aber auch der liberale, aus Bremen gebürtige Nichtbraunschweiger v. Hanffstengel mochte nicht, wie er es im Gemeindeblatt beschrieb, „leugnen, dass für mich die Verhandlung über das Kirchengebet „für das gesamte Haus Braunschweig mit allen seinen Gliedern“ etwas Ergreifendes hatte.“ (EGbl 7.3.1909 S. 37)
In einer Kirchenverordnung vom April 1909 wurden sämtliche Gebete, die nunmehr verändert werden mussten, den Pfarrern im Amtsblatt bekannt gemacht und deren Verwendung vom Gottesdienst am 25. April 1909 an angeordnet. (Amtsblatt 1909 S. 21 Nr. 1326)

Die Umsetzung der Kirchengemeindeordnung
Das Konsistorium gab den Inspektionssynoden im Jahre 1911 unter anderem die Frage zum Bearbeiten: „Welches sind die Aufgaben, die nach Inkrafttreten der neuen Kirchengemeindeordnung den Kirchenvorständen und Kirchengemeinderäten obliegen?“ Diese Inspektionssynoden wurden alle mit einer Ausnahme von Konsistorialpräsidenten Sievers und von Konsistorialrat Moldenhauer oder Konsistorialrat Dettmer besucht und Fragen beantwortet. (Sievers besuchte zwischen Juni und Oktober 1911 insgesamt 23 Inspektionssynoden, nur in der Salzdahlumer fehlte er. LAW S 1346) Auf allen Inspektionssynoden wurden zum Thema Referate, gelegentlich sogar Korreferate gehalten. Der Übergang von der alten zu der neuen Kirchenverfassung sei durch diese Aussprachen nicht unerheblich erleichtert worden, resumierte das Konsistorium bündig. (Verhandlungen der 11. Landessynode In Eingehende Mitteilung über die Zustände... Anlage 9 S. 22)
Bei der Inspektionssynode von Stadtoldendorf fragte Pastor Eißfeldt, wie er es mit der Mitgliedschaft und beim Abendmahl mit den zahlreichen reformierten Eisenbahnbeamten auf der Strecke Holzminden-Kreiensen halten solle, die vorübergehend in seiner Gemeinde wohnten. Sievers erklärte ihm, in den Gottesdiensten habe er sie als Glieder der Landeskirche zu behandeln und „besonders darf auf die Teilnahme am heiligen Abendmahl kein entscheidendes Gewicht gelegt werden, da nun einmal manche, auch kirchlich gesinnte, sich aus besonderen Gründen vom Abendmahl fernhalten.“ (LAW S 1346, Protokoll der Inspektionssynode Stadtoldendorf vom 16.8.1911 o.S.) Die Inspektionssynode Barum forderte in einem Aufruf die Gemeindemitglieder auf, die durch die Kirchengemeindeordnung geschaffene Unabhängigkeit durch lebendiges Interesse an der Kirche anzuerkennen. (LAW S 1346 gedrucktes Protokoll der Verhandlung der Inspektionssynode vom 3.10.1911 S. 14 f)



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Impressum  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Synode/, Stand: August 2020, dk