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[Kirche von Unten]

Über die Geschichte der Braunschweiger Landessynode

Ein Kompendium von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf: Band 1 Band 2)



Über die Geschichte der Landessynode zur herzoglichen Zeit (1869-1916)

Die erste außerordentliche Landessynode November 1875
Die Trauungssynode


Quelle: Verhandlungen der durch die Landesfürstliche Verordnung vom 19./23. Oktober 1875 Nr. 77 berufene außerordentliche Landessynode o.J. o. O./ Wilhelm Rauls, Eheschließung und Trauung in der Geschichte der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig in: Jahrbuch für Niedersächsische Kirchengeschichte 1979, 97-125.

Quelle für das Dissidentengesetz: Protokolle und Verhandlungen der Landesversammlung Dezember 1872- April 1873 Protokoll 13 und 14; Anlage 39 der Commissionsbericht; der Gesetzesentwurf der Landesregierung Anlage 10 a, b und c; Anlage 53. Gesetzes und Verordnungs-Sammlung 19.11.1873 Gesetz die Verhältnisse der Dissidenten betreffend Braunschweig den 25. März 1873.

Kirchengesetz kirchliche Trauung

Die Einleitung zum Kirchengesetz über die neue kirchliche Trauordnung. Hier als Anlage 4 zu den Verhandlungen der außerordentlichen Landessynode 1875.

An acht Tagen Ende November/Anfang Dezember 1875 trat die Landessynode zu ihrer ersten außerordentlichen Sitzung in Braunschweig zusammen. Aber die Sitzung wurde bald unterbrochen. In der Stadt Braunschweig herrschte große Aufregung. Mit hochroten Plakaten war der spontane Besuch des Kronprinzen und seiner Frau am 25. November angekündigt worden. Großer Bahnhof, Diner im Schloss, danach Hoftheater, wo das Kronprinzenpaar „enthusiastisch begrüßt“ wurde, inzwischen hatten die Burschenschaften auf dem Steinweg ein Fackelspalier gebildet, durch das die kaiserliche Equipage zum Hotel Schrader fuhr, wo es übernachtete. Am nächsten Tag Museum, mittags Domführung durch Domprediger Thiele, denn an diesem Tag war die Synode ausgefallen, nachmittags Abfahrt. (nach den Berichten aus dem Braunschweiger Tageblatt 25. und 26. 10. 1875) Viel zu erzählen wie zivil der Kronprinz gewesen war und seine Frau so natürlich, und am nächsten Tag konnte die Synode im Haus der Landsversammlung mit dem zweiten Sitzungstag fortgesetzt werden.
Das Thema der außerordentlichen Synode hatte eine längere politische und eine noch längere agendarische Vorgeschichte.

Die politische Vorgeschichte
1875 war ein kritisches Jahr. Im Reich tobte der fälschlicherweise so genannte „Kulturkampf“. Er hatte seine Wurzeln in der Krise der katholischen Kirche, die Papst Pius IX populär und autoritär lösen wollte, aber die Kirche doch in immer größere Fragwürdigkeiten hineinstieß. Der Kirchenstaat war durch die politische Entwicklung Italiens äußerst gefährdet. Nach der Ausrufung des Königreiches Italiens 1861, durch das die verschiedenen Regionen Italiens geeint worden waren, wurde gegen den entschiedenen Protest des Papstes Rom zur Hauptstadt des Königreiches ausgerufen. Der Restvatikan wurde zwar durch eine französische Besatzung beschützt, aber am 20.9.1870 der Kirchenstaat aufgelöst und erst durch den Pakt Mussolinis mit dem Papst in den Lateranverträgen 1929 wiederhergestellt. Der Papst betrachtete sich so lange als „Gefangener des Vatikan oder im Vatikan“ Der seinerzeit vom Papst mit dem Bann belegte König Viktor Immanuel II eröffnete seine Residenz im Quirinal. In der katholischen Kirche wurde „die römische Frage“ diskutiert, ob die Struktur eines Kirchenstaates für die katholische Kirche überhaupt zwingend notwendig wäre. In Deutschland wurde seine Notwendigkeit bestritten. Es ist schade, dass in der gegenwärtigen interkonfessionellen Diskussion zwischen den christlichen Kirchen die Frage der Staatsverfassung der römisch-katholischen Kirche keine Rolle spielt.
Dieser sich lange anbahnenden Entwicklung der Auflösung des Kirchenstaates stemmte sich Pius IX. durch drei Maßnahmen entgegen: 1854 wurde das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Marias von ihm erlassen. Zahlreiche namhafte katholische Theologen hatten vor der Verkündung des Dogmas gewarnt. Aber das Dogma kam der populären Marienverehrung weit entgegen. 1864 erließ Pius IX den sog. Syllabus, eine Zusammenstellung von Strömungen der Gegenwart, die samt und sonders verurteilt wurden. Es kamen insgesamt 80 „Irrtümer“ zusammen, wie Kommunismus, Liberalismus, Materialismus, Naturalismus, Atheismus und viele andere mehr. Es wurden die leitenden Ideen des modernen Kulturlebens verdammt. Alle zusammengefasst hieß dies: die Aufklärung hatte für die katholische Kirche nicht stattgefunden. Sie verortete sich ins 17. Jahrhundert.
1869/70 beschloss das 1. Vatikanische Konzil das Dogma von der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes, nachdem die Kritiker unter den Kardinälen vor allem aus Deutschland abgereist waren. Damit wurden auch die 80 sog. „Irrtümer“ von 1864 ausdrücklich bestätigt. Mit dem Unfehlbarkeitsdogma beanspruchte der Papst die Jurisdiktionsgewalt über die katholische Kirche in der ganzen Welt, auch in Deutschland.
Mit der Unterwerfung der Gläubigen unter diese drei Dogmen hatte die katholische Kirche erneut ein autoritäres Regime errichtet, das sich seit dem Feudalismus überlebt hatte.
Nun ging die offiziöse katholische Kirche gegen die Widersacher und Kritiker mit Amtsenthebungen, z.B. gegen Prof. Döllinger vor. Freisinnige katholische Strömungen wären in Deutschland „vernichtet“ worden, resumiert Heussi (Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte 11. Aufl. Tübingen 1956 S. 445)
Die innerkatholische Entwicklung hatte Bismarck abwartend beobachtet. Es stand allerdings zu befürchten, dass durch Predigt, Schulaufsicht und über die katholischen Universitäten die illiberalen, undemokratischen Rückständigkeiten des Syllabus auch auf die deutsche Öffentlichkeit einen unheilvollen Einfluss üben könnten. Durch die katholische Zentrumspartei, die im Reichstag 1871 über 58 Sitze verfügte, waren auch innenpolitische Verwicklungen nicht ausgeschlossen.
Erst als katholische Pfarrer und Bischöfe im Sinne des Syllabus und der neuen Dogmen von der Kanzel zu agitieren begannen, beschloss der Reichstag mit seiner nationalliberalen Mehrheit 1871 die Einfügung des sog, „Kanzelparagrafen“ in das Strafgesetzbuch, wonach der Missbrauch der Predigt für politische Agitation nach § 1340a StrGB bestraft wurde. Der Kanzelparagraf wurde erst 1953 aufgehoben. (Als ich als Vikar 1962 anlässlich der SPIEGELaffäre von der Kanzel der St. Vincenzkirche in Schöningen undemokratische Verhältnisse in der Adenauerrepublik anprangerte, erklärte in der folgenden Kirchenvorstandssitzung ein Rechtsanwalt, ich hätte Glück, dass der Kanzelparagraf aufgehoben wäre.) Der Reichstag verbot den Jesuitenorden für das Gebiet des Deutschen Reiches und griff mit den Maigesetzen 1873 in das Besetzungsrecht der Bischöfe, die katholische Schulaufsicht und die Ausbildung der Theologiestudenten ein, die sich einem „Kulturexamen“ zu unterziehen hatten. Die evangelischen Studenten absolvierten ein derartiges Examen, die katholischen wurden vom Papst zum aktiven Widerstand aufgerufen. Am 13. Juli 1874 verübte ein katholischer Tischlergeselle ein Attentat auf Bismarck. Am 5.2.1875 erklärte Papst Pius IX die Maigesetze für nichtig und stellte ihre Befolgung unter Kirchenstrafe. Bismarck ließ daraufhin rigoros Pfarrer und Bischöfe mit Geldstrafen, Gefängnisstrafen und Amtsenthebungen belegen. 1877 war die Hälfte der Bischofssitze in Preußen in Folge von Amtsenthebungen unbesetzt.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre erließ der Braunschweigische Herzog Wilhelm am 19. November 1873 das Gesetz, die Verhältnisse der Dissidenten betreffend (GvU Nr. 62 1873 S. 289) und Kaiser Wilhelm am 6. Februar 1875 das Gesetz zur Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung (Reichsgesetzblatt Nr. 4 1875 S. 23). Beide Gesetze berührten die evangelische Kirche stark. Das Dissidentengesetz schuf im Herzogtum die gesetzliche Möglichkeit zum Kirchenaustritt und beendete damit erst 1873 die Zwangstaufe, und die Einführung der Zivilehe und von Standesämtern 1875 beendete den Zwang zur kirchlichen Trauung. Erst das Dissidentengesetz schuf die Voraussetzung für eine auf Freiwilligkeit beruhende Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde.

Die Aufhebung des Taufzwanges und die Möglichkeit des Kirchenaustrittes 1873
Verschiedene Gründe veranlassten die Landesversammlung im Frühjahr 1873, den seit Karl d. Gr. bestehenden, Jahrhunderte langen Taufzwang aufzuheben und einen Kirchenaustritt zu ermöglichen. Bisher war nur ein Übertritt in die katholische Kirche denkbar. Alle Braunschweiger waren entweder evangelisch oder in verschwindender Minderheit katholisch, einige auch jüdisch.
Vereinzelt waren nun Baptisten an die Pfarrer herangetreten, hatten ordnungsgemäß im Pfarramt die Geburt ihres Kindes angemeldet, sich aber geweigert, ihr Kind im Säuglingsalter taufen zu lassen. Das war für die Pfarrer eine neue Situation. Sie schmälerte ihre finanzielle Lage, denn ihnen entgingen die Taufgebühren, sie minderte auch ihren in geistlichen Fragen allein beherrschenden Anspruch im Dorfe. Ein Pfarrer hatte daraufhin das Kind baptistischer Eltern sogar mit dem Gendarm zur Taufe bringen lassen, so der Abgeordnete Schmid in der Debatte am 18.2.180073 in der Landesversammlung.

Eine weitere Gruppe drängte auf Änderung der vorhandenen Kirchenordnung. Die freireligiöse Gemeinde in Braunschweig hatte schon 1867 und erneut 1869 ein Gesuch an die Landesversammlung mit der Bitte um Gewährung von Religions- und Gewissensfreiheit eingereicht. Daraufhin beschloss die Landesversammlung, die Landesregierung möge ein Gesetz vorlegen, das den bisherigen Tauf- und Konfirmationszwang beseitige, ebenfalls den Schulzwang zur Teilnahme am Religionsunterricht für Kinder, die keiner anerkannten Religionsgemeinschaft angehören, die Eheschließung für nicht kirchlich gebundene Bürger durch einen bürgerlichen Akt ermögliche, das Begräbnis für solche Leute ordne und ein Zivilstandsregister einrichte. Es gab noch eine weitere praktische Schwierigkeit. Andere Länder hatten ein Dissidentengesetz bereits erlassen: Preußen 1847, Oldenburg und Sachsen-Altenburg 1851, Coburg-Gotha 1863, Sachsen-Weimar 1864, Bayern 1864, das Königreich Sachsen 1870. Dissidenten, die aus diesen Ländern in das Herzogtum Braunschweig verzogen, mussten sich bei Geburt ihrer Kinder wieder unter den Taufzwang beugen. Wenn sie es unterließen, machten sie sich gesetzlich strafbar. Auf die Unterlassung der Taufe bald nach der Geburt stand seit den Zeiten von Herzog August eine erhebliche Geldstrafe.
Schließlich hatte sich im öffentlichen Bewusstsein längst ein Lebensstil und eine Lebensweise abseits des Christentums etabliert. Nihilismus und Atheismus hatten die philosophischen Debatten bestimmt. Der Grundsatz der Religions- und Gewissensfreiheit gehörte zum schlichten Inventar der bürgerlichen Kultur.

Im Dezember 1872 legte daher Staatsminister W. Schulz den Entwurf für ein Dissidentengesetz vor, das die Führung eines Zivilstandsregisters bei den Amtsgerichten einführte, in das Geburten und Todesfälle eingetragen werden sollten und Eheschließungen von Dissidenten oder sog. Mischehen vor dem Richter ermöglichten. Mit vollendetem 14. Lebensjahr sollte ein Übertritt und mit der Volljährigkeit der Kirchenaustritt möglich sein (§ 16) und der Austrittswillige vier Wochen zuvor seine Absicht beim Pfarrer kundtun. Kinder konnten vom Besuch des Religionsunterrichtes befreit werden, „wenn die Eltern nachweisen, dass für deren Heranbildung durch zureichenden Unterricht anderweitig gesorgt ist.“ In einem weiteren Gesetz wurde eine unterlassene Taufe nicht mehr unter Strafe gestellt, aber die fehlende Anmeldung einer Geburt beim Gericht konnte mit Haft bis zu 14 Tagen geahndet werden. Damit wurde praktisch der staatliche Schutz für die Taufe beendet.

Die Kommission für Kirchen- und Schulsachen der Landesversammlung, die den Gesetzentwurf beriet, stimmte zwar dem Entwurf im Grundsatz zu, wollte aber neben zahlreichen kleineren Veränderungen die Eintragung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen auch von Dissidenten in die Kirchenbücher nicht aufgeben und den Kirchenaustritt erst bei Volljährigkeit gestatten. Die Kommission erhoffte sich, dass sich Dissidenten nur vorübergehend der Kirche entfremdeten, „aber in innerster Wurzel fortwährend mit derselben zusammenhängend zu betrachten“ wären (S. 5). Die kirchenfreundlichen Änderungen waren den Kommissionsmitgliedern Konsistorialrat Ernesti und Generalsuperintendent Kuhn aus Helmstedt zu verdanken. Die Landesversammlung folgte den Vorschlägen der Kommission.

In der Debatte der Landesversammlung am 15. und 18. Februar 1873 prallten die in der Landeskirche vorhandenen Gegensätze schroff aufeinander. Der Abgeordnete Wilhelm Brodkorb, ein überzeugter lutherischer Superintendent in Benzingerode, begrüßte zwar das Dissidentengesetz in Form der Regierungsvorlage „mit Freuden“ und die durchgreifende Trennung zwischen Dissidententum und lutherischer Kirche. Aber er zog daraus nicht die zwingenden Folgerungen, sondern wandte sich mit scharfen Worten gegen die Möglichkeit des Kirchenaustritts. Darin sähe er „die größten Gefahren für den Staat“ heraufziehen, diese neu geschaffene Möglichkeit würde „zur gänzlichen Ungebundenheit, Wildheit und Zügellosigkeit führen“. (S. 86) Folgerichtig sprach sich Brodkorb für die Beibehaltung des Taufzwanges aus. Seine Aufhebung bedeutete „einen Bruch mit einer tausendjährigen Vergangenheit, der Staat wolle fortan seinen Weg ohne den Staat gehen“. (S.90) Der Taufzwang wäre so nötig wie der Impfzwang und Schulzwang.

Der liberale Generalsuperintendent Kuhn von der Kommission verteidigte die Beibehaltung der Eintragung in die Kirchenbücher mit dem staatsfrommen Argument als Ausdruck „der Vereinigung von Staat und Kirche, wie sie im hiesigen Lande glücklicher Weise bisher bestanden habe“. (S. 78) Dass Dissidenten schließlich im Pfarramt die Geburt ihres Kindes registrieren lassen müssten, schüfe die Gelegenheit zur Missionstätigkeit. „Man trete ja doch durch Missionstätigkeit mit den Heiden in Verbindung, warum sollte man nicht in einer solchen mit den Dissidenten bleiben“. (ebd) Geheimrat Schulz sekundierte dem Abgeordneten Brodkorb: „ein Dissendenten-Gesetz sei für einen christlichen Staat keine erwünschte Aufgabe, derselbe werde nur mit Bedauern Mitglieder aus der Kirche scheiden sehen und nicht die Hoffnung aufgeben, dass die Abtrünnigen wieder zu derselben zurückkehren möchten,“ aber er betonte die Notwendigkeit des Gesetzes wegen des in der Landschaftsordnung verankerten Grundrechtes der Religions- und Gewissensfreiheit. Das Staatsministerium und die Landesversammlung stimmten sämtlichen Veränderungen zu, zumal sie davon ausgingen, dass ein nahe bevorstehendes Reichsgesetz zur Frage des Zivilstandes alle weiteren regionalen Gesetze gegenstandslos machen würde.
Für die ev. luth. Landeskirche war dieses Gesetz tatsächlich das Ende eines bisher unangefochtenen Alleinvertretungsanspruches. Mit diesem Gesetz begann in der Landeskirche das 20. Jahrhundert, das von den wachsenden Kirchenaustritten und der fortschreitenden Säkularisierung geprägt wurde.

Das Gesetz eröffnete darüber hinaus die von der Landeskirche als schmerzlich empfundene Möglichkeit einer Eheschließung ohne kirchliche Mitwirkung. Die vor Gericht geschlossene Ehe konnte bereits als Alternative zur kirchlichen Trauung verstanden werden.
Der Paragraf 6 des am 19.11.1873 veröffentlichten Gesetzes bestimmte, dass eine Ehe zwischen Dissidenten oder bekenntnisgemischte Ehen vor dem zuständigen Lokalrichter geschlossen werden. Nach dem Aufgebot „wird vor dem Gericht der Braut auf Grund der vorzulegenden Bescheinigung zur feierlichen Schließung der Ehe an dem vom Gericht zu bestimmenden Tage geschritten.“ § 7: Es erscheinen vor dem Gericht die Brautleute und vier Zeugen, sie haben die „feierliche Erklärung abzugeben, dass sie in die eheliche Verbindung willigen“, worauf der Richter erklärt, „dass sie nunmehr durch das Band der Ehe gesetzlich vereinigt seien.“ Es wurde ein Protokoll aufgesetzt. „Mit der Vollziehung dieses Protokolls beginnt die bürgerliche Gültigkeit der geschlossenen Ehe.“ Es konnte schon wie ein Hohn klingen, wenn der Gesetzestext fortfuhr: „Die Eintragung dieses Aktes erfolgt in das Kirchenbuch der Kirchengemeinde, der die Braut angehört.“
§ 11 bestimmte noch verschärfend, dass eine besondere religiöse Handlung nicht vorgenommen werden dürfe, bevor nachgewiesen worden sei, dass eine Heiratsurkunde von dem Personenstandsbeamten aufgenommen sei. Sonst drohe § 337 des Reichsstrafgesetzbuches. Die Eintragung ins Kirchenbuch sei kostenlos. (§ 13)
Das Dissidentengesetz regelte also durchaus mehr als nur den Austritt aus der evangelischen Landeskirche oder der römisch-katholischen Kirche. Die Vorstellung des Staatsministeriums vom christlichen Staat, der sich vom Christentum als einem wertestiftenden Damm umgeben fühlte, war mit diesem Dissidentengesetz unterhöhlt. Er glich einem dünnen Riss im Damm. Aber er war zwingend nötig und überfällig. Der Taufzwang war mit dem evangelischen Selbstverständnis nicht vereinbar.
Es mag für die kirchlichen Gremien demütigend gewesen sein, dass sie bei dieser Jahrhundertentscheidung nicht gefragt wurden. Die Landessynode konnte dieses Gesetz nur hinnehmen, noch nicht einmal zustimmend zur Kenntnis nehmen. Es blieb ihr nur die Mitwirkung durch das herzogliche Konsistorium, das jedoch gegenüber dem Staatsministerium nicht über den notwendigen kritischen Freiraum verfügte.

Die Kompromissregelung der Eintragung in die Kirchenbücher hatte nur knappe zwei Jahre Bestand und wurde zum Jahresanfang 1876 durch Reichsgesetz aufgehoben. Seither führten die Amtsgerichte Dissidentenregister.
Bis 1899 fanden jedoch an den folgenden zehn Amtsgerichtsbezirken Vechelde, Thedingshausen, Schöppenstedt, Harzburg, Gandersheim, Lutter a.B., Holzminden, Ottenstein, Hasselfelde und Walkenried überhaupt keine Eintragungen in das Dissidentenregister statt; im Zeitraum 1896-1899 bei den Amtsgerichten in Vorsfelde 50, Braunschweig 26, Stadtoldendorf 10, Wolfenbüttel 9, Schöningen 4, Greene und Riddagshausen je 2 und Blankenburg 1 Austritte statt. (Bericht über Zustände der Landeskirche 8. Landessynode 1900 Anlage 12 S. 64) Dabei ist die vergleichsweise hoher Zahl der Austritte im Amtsbezirk Vorsfelde eine Folge der Übertritte zur baptistischen Gemeinde.
In der Religionsstatistik für die Bevölkerung der Stadt Braunschweig schwankt der Anteil der Dissidenten 1880 von 0,4 % (315 Personen), 1890 von 1,0 % (1.035 Personen) und 1900 ( 0,6 % (732 Personen). Alle Befürchtungen einer „Austrittswelle“ waren im Herzogtum Braunschweig gegenstandslos. Erst im Jahre 1903 übertraf die Zahl der Austritte mit 160 erstmals die Zahl der Eintritte mit 118.

Die Einführung der Zivilehe durch Reichsgesetz
Die Reichsgesetzgebung Bismarcks war eine grundsätzliche Wende im Verständnis der Ehe und der kirchlichen Trauung. Bereits am 9. 3. 1874 hatte der preußische Landtag die Einrichtung von Standesämtern beschlossen. Am 6.2.1875 folgte der Reichstag für das Deutsche Reich, wonach Geburten, Eheschließungen und Begräbnisse nicht mehr bei den Pfarrämtern sondern „ausschließlich durch die vom Staat bestellten Standesbeamten mittels Eintragung in die dazu bestimmten Register“ beurkundet werden sollten (§ 1). Eine Ehe sollte in Zukunft „rechtsgültig nur vor dem Standesbeamten geschlossen werden“ (§ 41) und einer möglichen kirchlichen Trauung in jedem Fall vorausgehen. „Ein Geistlicher, welcher zu den religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung schreitet, bevor ihm nachgewiesen worden ist, dass die Ehe vor dem Standesbeamten geschlossen worden ist, wird mit Geldstrafe bis zu 300 Mark oder mit einer Gefängnisstrafe bis zu 3 Monaten bestraft (§ 67).“ Der Rechtsakt vollzog sich ziemlich nüchtern: § 52: „Die Eheschließung erfolgt in Gegenwart von zwei Zeugen durch die an die Verlobten einzeln und nacheinander gerichtete Frage des Standesbeamten: ob sie erklären wollen, dass sie die Ehe miteinander eingehen wollen, durch die bejahende Antwort der Verlobten und den hierauf erfolgten Ausspruch des Standesbeamten, dass er sie nunmehr kraft Gesetzes für rechtmäßig verbundene Eheleute erkläre.“
Auf besonderen Wunsch der kaiserlichen Familie wurde der § 82 angefügt, wonach die kirchliche Verpflichtung in Beziehung auf Taufe und Trauung durch das Gesetz nicht berührt würde. Man nannte ihn daher spöttisch den „Kaiserparagrafen“.

Das Gesetz zur Einführung der Zivilehe, das am 1. Januar 1876 wirksam wurde, bedeutete einen großen Schritt zur weiteren Trennung von Staat und Kirche. Es wurde daher vom liberalen Protestantenverein begrüßt, von der lutherisch-orthodoxen Seite hingegen scharf bekämpft.

Für die katholische Kirche, die sich in staatsrechtlichen Formen bewegte, bedeutete dieses Gesetz einen spürbaren unannehmbaren Machtverlust, den sie einfach ignorierte. Für die evangelische Kirche war die Lage völlig anders. Luther hatte in seinem „Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn“ 1529 die rechtliche und seelsorgerliche Seite des Trauaktes sauber getrennt. Der öffentliche und rechtliche Akt der Eheschließung wurde außerhalb der Kirche vollzogen und dort draußen die Ringe gewechselt und Hans und Grete zusammengesprochen, die Einsegnung der nunmehr verheirateten Brautleute fand im Kircheninnern statt.

Allerdings hatte sich die evangelische Kirche von dieser reformatorischen Einsicht weit entfernt und vor allem in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Ethik der Staatsordnungen entworfen und in der Pfarrerschaft populär gemacht, die die Ehe als Schöpfungsordnung Gottes verstand und der kirchlichen Trauung einen quasi staatsrechtlichen Umhang verlieh. Die Trauung würde in der Kirche vollzogen, hieß es, ein bis heute weithin übliches Missverständnis, aber kirchengeschichtlich und theologisch war dies falsch. Insofern wurde auch in der evangelischen Kirche die Einführung der Zivilstandsregister als bedauerlicher Machtverlust verstanden. Der Akt auf dem Standesamt bestand nach dem Gesetz von 1875 lediglich in Form einer Beurkundung. Eine zur kirchlichen Trauung bewusst inszenierte Alternative war im Reichsgesetz nicht geplant und vorgesehen

Da das Reichsgesetz am 1.1.1876 in Kraft trat, war der Termin der außerordentlichen Landessynode Ende November/ Anfang Dezember 1875 der letzt mögliche. Die Braunschweigische Landesregierung war die letzte, die ihre Gesetzgebung auf die neuen Verhältnisse im Reich umgestellt hatte. Das Gesetz machte Veränderungen in der bisher üblichen Trauordnung eigentlich nicht erforderlich, denn der Kirche blieb es freigestellt, bei der Traufrage wie bisher die Braut mit dem Mädchennamen anzusprechen. Das „Zusammensprechen“ der Brautleute hatte nunmehr keine rechtliche Wirkung.
Trotzdem berief das Staatsministerium eine außerordentliche Synode zum 25. November 1875 ein, um gegenüber dem Reich eine zustimmende Haltung zu demonstrieren.

Namen der gewählten und berufenen Synodalen der 1. außerordentlichen Synode 1875

01. Ahrens, Ackermann, Ostharingen, seit 1869.
02. Apfel, Hermann, Superintendent, Seesen, seit 1869.
03. Bode, Wilhelm, Handelsdirektor, Braunschweig seit 1869.
04. Bode, Albert, Kreisassessor, Holzminden, seit 1869, fehlt.
05. Brunke, Heinrich, Superintendent, Wolsdorf, seit 1872.
06. Caspari, Wilhelm, Oberbürgermeister, Braunschweig, seit 1869.
07. Dedekind, Theodor, Superintendent, Stadtoldendorf, seit 1872.
08. Eggeling, Otto, Pastor, Braunschweig neu.
09. Eimecke, Christoph Friedrich, Gemeindevorsteher, Watzum, seit 1869.
10. Freist, Friedrich, Superintendent. Timmerlah, seit 1869.
11. Gravenhorst, Karl Theodor, Schulrat, Braunschweig, seit 1869.
12. v. Heinemann, Ferdinand, Gymnasialdirektor, Wolfenbüttel, seit 1872.
13. Keil, Ökonom, Herrhausen, seit 1872.
14. Körner, Steinbruchbesitzer, Velpke, seit 1869.
15. Kuhn, August, Generalsuperintendent, Helmstedt, seit 1869.
16. Kühne, Staatsanwalt, Blankenburg, neu.
17. Kuntzen, Finanzrat a.D. Braunschweig, neu.
18. Lerche, Kreisdirektor, Gandersheim, seit 1869.
19. Lerche, Wilhelm, Pastor, Eitzum, seit 1872.
20. Münck, Theodor, Pastor, Cattenstedt, seit 1872.
21. Oesterreich, Johann Wilhelm, Landsyndikus, Braunschweig, seit 1869.
22. Preusse, Gastwirt, Bettmar, seit 1872.
23. Rohde, Carl, Pastor, Gr. Dahlum, neu.
24. Schäfer, Ackermann, Lauingen, seit 1872.
25. Schmid, Albert, Obergerichtspräsident, Wolfenbüttel, seit 1869, fehlt.
26. Skerl, August, Pastor, Braunschweig, seit 1869.
27. Steinmeyer, Wilhelm, Pastor, Braunschweig, seit 1872.
28. Stöter, Karl, Generalsuperintendent, Gandersheim, seit 1869.
29. Thiele, Heinrich, Domprediger, Braunschweig, seit 1872.
30. Ude, Staatsanwalt, Holzminden. seit 1872.
31. Vibrans, Bürgermeister, Calvörde, neu.
32. Wolff, Ludwig, Superintendent, Halle a.d.W. seit 1869.

Es waren seit 1872 die Abgeordneten Cruse, Guthe, Helmuth, Nehrkorn und Pfeifer verstorben. Für sie waren neu eingerückt: Pastor Eggeling, Staatsanwalt Kühne, Finanzrat a.D. Kuntzen, Pastor Rohde und Bürgermeister Vibrans.

Der Landesversammlung gehörten folgende acht Mitglieder der Landessynode an: Albert Bode, Wilhelm Bode, Caspari, Eimecke, Keil, Kuhn, Lerche (Gandersheim) und Schmid.

Von Seiten des Staatsministeriums nahmen regelmäßig Kultusminister Geheimrat Eduard Trieps als neuer Kirchenkommissar und Ministerialrat Grotrian sowie Hofrat Kybitz teil, vom Konsistorium die Konsistorialräte Abt Ernesti, Abt Sallentien und v. Schmidt- Phiseldeck.
Zur zweiten Sitzung am 27. November waren sogar der Vorsitzende des Staatsministeriums Geheimrat Schulz und Minister und Geheimrat Zimmermann erschienen und unterstrichen den enormen politischen Charakter der außerordentlichen Synode in der Erwartung, dass keine politisch schädliche Debatte den erwünschten solidarischen Eindruck mit dem politischen Berlin trübe. Wilhelm Schulz hatte die vorangegangenen Synoden als Minister und Kirchenkommissar mitgemacht und war 1874 Vorsitzender des Staatsministeriums geworden. Sein Nachfolger wurde Eduard Trieps (zu Eduard Trieps (1811-1884) Schmid Biog. Lex S. 614; Ulrich Meyer-Holz in Niedersächsische Juristen S. 181 ff ), der vorher seit 1863 Präsident des Wolfenbüttler Obergerichtes gewesen war. „Geleitet durch seine tiefe Religiösität habe er zusammen mit der Landeskirche sich besonders um die christliche Erziehung in der Schule bemüht“. (Meyer-Holz)

Zum Präsidium wurden wieder wie schon 1872 Caspari (27 Stimmen), Steinmeyer, inzwischen Generalsuperintendent, (25 Stimmen) und Schmid, inzwischen Obergerichtspräsident (25 Stimmen) dem Herzog präsentiert und wie schon 1872 Caspari und Steinmeyer vom Herzog gewählt.

Im Dom fand am 25. November ein Eröffnungsgottesdienst statt. Domprediger Heinrich Thiele ließ in der Predigt kritische Töne anklingen.

Termine und Themen

1. Sitzung 25.11.1875 Donnerstag.
Gelöbnis der fünf neuen Mitglieder, Wahl des Präsidenten und Stellvertreters, Einbringung der Vorlage eines Kirchengesetzes über die kirchliche Trauung.

Freitag Kronprinzenbesuch in der Stadt Braunschweig! Leider nicht am nächsten Tag in der Synode.

2. Sitzung 27.11.1875 Sonnabend.
Generalaussprache über die Vorlage des Kirchengesetzes mit 12 temperament- und gehaltvollen Beiträgen und einem Grundsatzreferat von Konsistorialrat Ernesti.

3. Sitzung 29.11.1875 Montag.
Fortsetzung der Generalaussprache und lange Erwiderung von Rohde auf Ernesti. Beginn der Aussprache über die einzelnen Abschnitte des Kirchengesetzes. § 1 mit fünf Änderungsanträgen und 15 Redebeiträgen.

4. Sitzung 30.11.1875 Dienstag.
Aussprache über § 3 des Kirchengesetzes (Zuständigkeit und Dimissoriale), § 4 (Aufgebot), § 5 (Verweigerung der kirchlichen Trauung).

5. Sitzung 1.12.1875 Mittwoch.
Fortsetzung der Aussprache über § 5 des Kirchengesetzes und Beginn der Aussprache über den Traugottesdienst.

6. Sitzung 2.12.1875 Donnerstag.
Fortsetzung der Aussprache über den Traugottesdienst, insbesondere über die Traufrage.

7. Sitzung 4.12.1875 Sonnabend.
2. Lesung des Kirchengesetzes.

8. Sitzung 6.12.1875 Montag.
Einstündige kurze Schlusssitzung am Nachmittag (15.00-16.00).
Eingang des nur teilweise zustimmenden Rekriptes des Herzogs; Schlussabstimmung: große Mehrheit, aber zwei Gegenstimmen.
Schlussansprache des Kirchenkommissars Trieps.

Die agendarische Vorgeschichte
Quelle: Erneuerte Kirchen-Ordnung Anton Ulrichs Braunschweig Erster Teil 1862 S. 75 ff.

Die geltende Ordnung der kirchlichen Trauung bis 1875
Die Landessynode trennte sich mit der a.o. Landessynode von der Trauordnung, wie sie in der Kirchenordnung von 1709, die noch 1862 erneut aufgelegt worden war, festgeschrieben war.

Die Kirchenordnung von 1709 regelte im 22. Kapitel verschiedene Voraussetzungen.) Die Braut musste über 15 Jahre und der Bräutigam über 18 Jahre alt sein, ein Witwer durfte erst nach einem halben Trauerjahr, eine Witwe nach einem ganzen Trauerjahr wieder heiraten. Stammte der Bräutigam aus einem anderen deutschen Land (Ausland), so hatte er glaubwürdige Zeugnisse von seiner Obrigkeit und den zuständigen Seelsorgern beizubringen. In der Regel fand die Trauung in der Kirche statt, der Adel hingegen hatte die besondere Erlaubnis, den Pastor kommen und die kirchliche Trauung bei sich zu Hause vornehmen zu lassen. Die Trauung sollte jeweils an einem Werktag um 12.00 vollzogen werden, in der Advents- und Passionszeit, sowie an Sonn- und Feiertagen sollten keine Trauungen stattfinden.

Der Trauung ging ein Gespräch der Brautleute beim Ortspastor voraus, das zunächst der Anmeldung und Terminabsprache diente. Wer einen Familienstand gründen wollte, musste zu seinem Ortspastor gehen, denn dieser „sprach die Brautleute zusammen“. Der Pastor betätigte sich nämlich als nicht zu umgehender Staatsdiener. Eine rechtlich gültige Ehe wurde von dem Pastor geschlossen und im Pfarramt ins Kirchenbuch, in das „Verzeichnis der Copulirten“ eingetragen. Die jungen Leute teilten also ihren Entschluss dem Pastor mit, denn die nahende Eheschließung wurde zweimal vorher im Gottesdienst bekannt gegeben. Dieses „Aufgebot“ war ein alter Zopf. Nachbarn und Dorfbewohnern sollte auf diese Weise Gelegenheit gegeben werden, Einwände gegen die geplante Eheschließung zu erheben, etwa im Falle verheimlichter schwerer Krankheiten, was aber, wenn überhaupt, selten vorkam. Es hatte den schönen Nebenzweck, dass sich das Dorf auf den Hochzeitstermin und die damit verbundenen Festivitäten einstellen konnte.

Der Pastor war bei der Anmeldung des Brautpaares in der höchst peinlichen Lage zu fragen, ob die Beiden schon miteinander Intimverkehr gehabt hätten. Das musste verneint werden, wenn die Braut nicht ärgerliche Unannehmlichkeiten am Hochzeitstage in Kauf nehmen wollte. War sie „keine Jungfrau“ mehr, so musste diese Tatsache am Brautkranz kenntlich sein, die Kirche war auch nicht wie üblich festlich geschmückt. Die Folge dieser vom seelsorgerlichen Standpunkt aus unsinnigen Frage war, dass der Pastor angelogen wurden. „Jahrhunderte lang seufzten die Pastoren, dass ihnen bei der Anmeldung des Aufgebotes unzutreffende Angaben gemacht würden“, stellte Wilhelm Rauls in seiner Untersuchung über die kirchliche Trauung fest. Diese Peinlichkeit dauerte bis in das 20. Jahrhundert. Sie war völlig wirklichkeitsfremd, denn der vor- und außereheliche Intimverkehr war gang und gäbe, und Verhütungsformen waren ebenfalls gebräuchlich.

Der Verlauf des Traugottesdienstes bis 1875
Die vom Pastor vorgenommene Trauung nahm folgenden Verlauf (Erneuerte Kirchen-Ordnung Anton Ulrichs Braunschweig 1862 2. Teil Kap. VIII S. 37 ff ): Braut und Bräutigam sowie Anverwandte traten getrennt rechts und links an die Seiten des Altars, „nach Gelegenheit“ konnte „etwas“ musiziert oder ein deutscher Psalm gesungen werden. Das war dann ein schöner Nebenverdienst für den Lehrer und seine Schüler.

Einleitend verlas der Pastor eine sehr lange Erklärung über den Sinn der bevorstehenden Trauhandlung. Sie bestand darin, ein letztes Mal Gelegenheit zu geben, ein mögliches Ehehindernis zu benennen, und Gott anzurufen, weil der „Satan als ein Feind Gottes dem heiligen Ehestande und christlichen Eheleuten zum höchsten entgegen ist“ (S. 38), außerdem wurde Gott gebeten, er möchte der Ehe einen guten Anfang verleihen, Kinder schenken, Gesundheit und langes Leben bescheren, und dass sie vor „des Satans giftigen, bösen Anschlägen (...) vor allem Leid und Ärgernis verwahret und behütet werden, damit sie glücklich anfangen, christlich fortfahren und seeliglich beschliessen mögen“. Dann fragte der Pastor die Umstehenden zum letzten Mal nach einem möglichen Ehehindernis. Das Vaterunser beschloss diesen ersten Teil.

Nun erst begann die eigentliche „Vertrauung“ mit der Frage an Bräutigam und Braut, die dazu ihren Platz gewechselt hatten und vor den Altar getreten waren. „Ihr stehet allhie und begehret gegenwärtige N zu nehmen zu eurer ehelichen Hausfrauen (bzw. zu eurem ehelichen Manne), mit ihr (ihm) nach Gottes Befehl und Willen zu leben, euch auch von ihr (ihm) nicht zu scheiden, es sei denn, dass euch scheide der Tod, ist solches noch eures Herzens Wille und Meinung, so bekennt es allhier vor Gottes Angesicht und in Gegenwart der Gemeinde und saget Ja.“ Den Ringwechsel nahmen die Brautleute untereinander vor, dann sprach der Pastor über die zusammengelegten Hände der Brautleute „Was Gott zusammen fügt, soll der Mensch nicht scheiden.“ Jetzt erfolgte der entscheidende Akt des Zusammensprechens: „Weil N. und N. sich untereinander zur Ehe begehren und solches allhie vor Gott und dieser christlichen Gemeinde bekennen, sich auch darauf untereinander die Hände und Trauringe gegeben haben, so spreche ich sie ehelich zusammen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Es fällt auf, dass das Zusammensprechen nicht in Form einer persönlichen Anrede erfolgte („spreche ich euch ehelich zusammen“), sondern in der dritten Person. Das betonte den objektiven Charakter der „Copulation“, des „actus copulationis“, wie die Überschrift zur Trauagende hieß (S. 37). Der Pastor war weniger Seelsorger, sondern Staatsbeamter.

In einem dritten Teil wurden dem frisch gebackenen Ehepaar vier biblische Lesungen vorgehalten als „vier Stücke aus Gottes Wort, so Eheleuten zu wissen vonnöthen seyn.“ Es sind teils bekannte Lesungen aus dem 1. Buch Mose, dass der Ehestand von Gott verordnet und eingesetzt wäre, aus dem Paulusbrief wie die Eheleute sich zueinander verhalten sollten, nämlich der Ehemann seine Frau lieben soll wie seinen eigenen Körper und die Frau ihrem Mann untertan sein soll, „denn der Mann ist des Weibes Haupt“. Vom „Kreuz“ des Ehestandes, handelte eine dritte Lesung, das darin bestand, dass die Frau mit Schmerzen entbinden und der Mann sein Brot essen sollte „im Schweiße seines Angesichtes“. Es sind Lesungen aus der Sündenfallgeschichte (1. Mose Kap. 3). Und schließlich einige Texte zum Trost über den Ehestand, dass Gott die Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen und gesegnet hat, aus dem Prediger Salomon: „Wer eine „Ehefrau findet, der findet was Gutes und schöpfet Segen vom Herrn“ und aus Psalm 128 „Du wirst dich nähren von deiner Hände Arbeit, wohl dir, du hast es gut. Dein Weib wird sein ein fruchtbarer Weinstock um dein Haus herum, und deine Kinder wie die Ölzweige um deinen Tisch her. Siehe, also wird gesegnet sein der Mann, der den Herrn fürchtet. Der Herr wird dich segnen aus Zion, dass du sehest das Glück Jerusalem dein Leben lang und sehest deiner Kinder Kinder Frieden über Israel“.
Nun legte der Pastor die Hände über die Eheleute und segnete sie. „Diesen Segen auch über diese angehende Eheleute von Gott zu erhalten, lasst uns miteinander beten: Vater unser“, wonach noch ein längeres Gebet erfolgt, das mit folgendem Segen beschlossen wird: „Der Gott Abraham, der Gott Isaak und der Gott Jakob sei mit euch, der füge euch zusammen und gebe seinen Segen reichlich über euch, Amen. Der Herr segne euch und behüte euch. Der Herr erleuchte sein Angesicht über euch und sei euch gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch Frieden. Amen.“

Die Auswahl der Lesungen folgt nach dem dogmatischen Muster von Gottesordnung und Geboten, von Folgen der Sünde und einem Segensstrom, wobei die Aussagen über das „Kreuz der Ehe“ nur eine halbe Seite beanspruchten, die über die Segensfülle dagegen zwei ganze Seiten. Die Zusage des Segens übertraf die Feststellung des „Kreuzes“ bei weitem. So sollte es jedenfalls beim Brautpaar ankommen.
Uns fällt heute die saftige Sprache der alten Lutherübersetzung auf und die Tatsache, dass überhaupt bei diesem Anlass auch von den Konflikten und Schwierigkeiten („Kreuz“) in einer Ehe gesprochen wurde. Es beschreibt den Ehealltag realistisch und vermeidet den Eindruck, als ob Ehe nur Sonnenschein und Frohsinn wäre.

Diese Trauhandlung war völlig auf das Brautpaar bezogen. Gemeinde und Familienangehörige wurden nicht in die Gebete einbezogen, Choräle wurden nicht gesungen, ein Organist war entbehrlich. Die Trauhandlung konnte auf das junge Paar wirken wie ein Wortschwall aus Ermahnungen, unverständlichen Lesungen und Gebeten.
Es fehlte vor allem eine Predigt, die sich persönlich an das Brautpaar oder an die anwesende Hochzeitsgesellschaft gewandt hätte. Weil dies als Manko empfunden wurde, kam man auf die weltfremde Idee, die Hochzeitgesellschaft zu einem Extragottesdienst wenige Tage nach der Trauung einzuladen. Da die Hochzeitgesellschaft jedoch in aller Regel noch nicht nüchtern war oder Erwachsene samt Kindern über Kirchenbänke gingen und randalierten, wurde das Angebot bald wieder eingestellt (siehe Rauls ebd. S. 110 mit drastischen Beispielen).

Diese kirchliche Trauhandlung war zugleich, was dem gottesdienstlichen Ablauf nicht anzumerken war, der vom Staat als einzig gültig anerkannte Rechtsakt. Weil der Pastor auch als Staatsdiener fungierte und die Mitte der Trauung das Zusammensprechen war, war die Kirche als Ort entbehrlich. Daher war es folgerichtig, dass sich der Trauakt aus dem Kirchengebäude in die Privathäuser verlegen konnte. Damit war aber eine Zweiklassentrauung etabliert, denn nur die Vermögenden, begüterte Bauern und reiche Bürger in den Städten konnten sich eine Haustrauung leisten und ausrichten. Für die Pastoren hingegen bot sich in diesem Falle die Gelegenheit zu einer zusätzlichen finanziellen Einnahme.

Einige Bestandteile dieses Gottesdienstablaufes haben sich bis heute erhalten, so z.B. einige Lesungen, die Traufrage und die Formel „was Gott zusammengefügt hat.“

Die Vorlagen des Staatsministeriums
Das Staatsministerium legte der Landessynode zwei Texte vor: das Kirchengesetz die kirchliche Trauung und das kirchliche Aufgebot betreffend und ein Trauungsformular (Anlage 4)
Das Kirchengesetzes enthielt 6 Paragrafen, wonach eine kirchliche Trauung erst nach der standesamtlichen vorgenommen werden durfte, allerdings „unmittelbar nach der bürgerlichen Eheschließung“ (§ 1). Es wurden die Bestandteile der kirchlichen Trauung (Lesung, Gelöbnis, Trauungsformel, Gebet und Segen) festgelegt (§ 2), die Zuständigkeit (§ 3), die Verkürzung des Aufgebots (4) und schließlich die Trauversagung geregelt. Außerdem wurde der Text einer neuen liturgischen Ordnung für eine kirchliche Trauung vorgelegt.
Der Synode lag aber auch eine Petition von 100 Pastoren vor, an der Trauordnung nichts zu ändern, sodass der Verlauf der Synodalsitzung offen erschien. Während des Gottesdienstes im Dom, der der Synodalsitzung im Gebäude des Landtages vorausging, hatte Domprediger Thiele in der Predigt kritische Töne gegen das Gesetzesvorhaben anklingen lassen.

Die Vorarbeit des Dompredigers Thiele mit der im Kirchenbuch veröffentlichten Trauordnung
Der Domprediger hatte eine erhebliche Vorarbeit für eine Reform der Trauordnung durch sein 1852 erschienenes Kirchenbuch geleistet, das er als 38 Jähriger veröffentlicht hatte. (Kirchenbuch S. 230 ff) Nun konnte er als 61 Jähriger erleben, ob seine damalige Arbeit in seiner Landeskirche auf fruchtbaren Boden gefallen war. Er hatte in diesem Kirchenbuch die Ordnung eines vollständigen Traugottesdienstes entworfen. Das Motiv der Trauung, nämlich die Gefährdungen der Ehe durch den Teufel zu vermeiden, hatte er gestrichen. Nicht die Abwehr des Bösen sondern die Vorstellung der Ehe als gottwohlgefälliger Stand, der auch von Jesus Christus durch seine Anwesenheit bei der Hochzeit zu Kana gebilligt und geehrt worden wäre, stand einladend im Vordergrund. Nach der Feststellung, dass kein Ehehindernis vorläge, folgten die Lesungen, die nicht mehr den Charakter der Ermahnung sondern den der Verkündigung von Gesetz und Evangelium hatten. Die Trauformel war sprachlich ein wenig erweitert. Die Ringe steckten sich die Eheleute nicht mehr gegenseitig an den Finger, sondern sie legten sie auf die Bibel, die ihnen der Domprediger entgegenhielt und von dort steckte sie der Pastor den Brautleuten auf die Hand. Da führte Thiele einen Ritus ein, der als magisch empfunden werden konnte. Auch die Segenshandlung führte Thiele üppiger aus. Zunächst legte er beide Hände auf das Brautpaar, danach auf den Bräutigam, dann auf die Braut. Am Ende gab Thiele noch einen seelsorgerlichen Rat. Er empfahl den Pastoren, jene, die „vor der Trauung in Unehren zusammen gekommen sind“, auf deutsch schon miteinander geschlafen hatten, sich bei einer Beichte mit ermahnenden Worten vorzunehmen und bei Zeichen der Bußfertigkeit zu trauen wie jeden andern auch. Das wäre besser, als strafende Worte bei der Traurede zu sprechen. Andernfalls wäre die Trauung zu verweigern. (ebd S. 236)
Es ist auffällig, dass von Thieles Kirchenbuch während der mehrtägigen Debatte keine Rede war und auch von den lutherisch - orthodoxen Synodalen nicht hervorgehoben wurde. Zu Anfang der Synode blieb offen, ob sich Thiele auf die Seite der grundsätzlich opponierenden Pastoren und gegen die staatliche Gesetzgebung stellen würde.

Die Verhandlungen in der Synode
Staatsminister Trieps beteuert in seiner Rede zur Eröffnung der Landessynode, dass dieses Gesetzesvorhaben nicht etwa eine Initiative der Landesregierung gewesen wäre. „Könnten wir lediglich die Zustände unseres Landes berücksichtigen, so würden wir uns schwerlich mit dieser Sonderung zu beschäftigen haben. Unsere eigenen Verhältnisse führen das Bedürfnis nicht herbei, in eine seit Jahrhunderten bestehende Sitte einzugreifen“. (Sb 1 S. 2). Daher verkenne die Kirchenregierung nicht „die dem kirchlichen Leben drohende Gefahr“, aber Trieps warb um Verständnis für die neue Situation. Staat und Kirche dienten ein und demselben höheren Herrn, daher sähe der Staat „mit Freuden das rechtlich verbundene Paar vor Gottes Altar treten, damit dem Bunde die religiöse Weihe“ zuteil werde. Die Kirche möge hingegen das Gebiet des Rechts „als eine Vorhalle des Tempels betrachten, in dessen innerem Heiligtum sie selbst waltet“. (ebd S. 3)
Damit sollten die oppositionellen Stimmen beschwichtigt werden. Aber die beiden streng lutherischen Abgeordneten Superintendent Ludwig Wolff aus Halle a.d.W. und Pastor Karl Rohde aus Gr. Dahlum meldeten sich in der zweitägigen Generaldebatte gleich zu Beginn und dann immer wieder zu Wort. Die kirchliche Trauung würde zu einer Einsegnung erniedrigt, widerspreche Luthers Auffassung und greife in das Bekenntnis ein, an dem die Synode nicht zu rütteln hätte. Beide befanden sich in einer Art von Glaubensnotstand und ihre zahlreichen Anträge liefen darauf hinaus, es beim alten Trauformular zu belassen. In der 6. Sitzung stöhnte Generalsuperintendent Steinmeyer, sämtliche Anträge dieses Abgeordneten lenkten mit bewundernswürdiger Zähigkeit auf das eine Ziel, „dass die Ehe in der Kirche geschlossen werde“. (Sb 6 S. 43) Handelsdirektor und Reichstagsabgeordneter Bode aus Braunschweig hingegen bekannte sich als Anhänger des Protestantenvereins, der die Einführung der Zivilehe begrüßt und die Reichsregierung insbesondere gegen den von Papst Pius IX radikal durchgezogenen, scharfen antimodernen Kurs unterstützt hatte. Gegen „starres, verbohrtes Festhalten an alten Anschauungen und Illusionen“ würde das Reich in kirchlicher Beziehung nicht in Richtung Orthodoxie“ fortschreiten. Er lobte das Ende der „erzwungenen Kirchlichkeit“, nur „freiwillige Kirchlichkeit, wie sie jetzt nach Erlass des Reichsgesetzes zu Tage treten werde“, habe einen Wert. (Sb 2 S. 7) Der Abgeordnete Ude hielt ein kleines Kolleg über die Normen im katholischen und evangelischen Kirchenrecht bezüglich der Ehe. (Sb 2 S. 12)
Konsistorialrat Ernesti, der theologische Kopf im Konsistorium, überzeugte mit einer von Beifall unterbrochenen Grundsatzrede die Mehrheit der Synode vom vorliegenden Entwurf
(Sb 2 S. 10 f), Geheimrat Trieps sprach grundsätzlich über das Verhältnis von Staat und Kirche und drängte auf unveränderte Annahme der Vorlage und warnte „vor dem Irrtum, als ob der Staat es dulden könne, dass sein Gebiet von der Kirche negirt oder ignorirt werde“. (Sb 3 S. 16)
Am Ende der gehaltvollen und temperamentvollen Grundsatzdebatte mit 12 Redebeiträgen und sogar persönlichen Erklärungen wurden alle Abänderungsanträge zum Grundsatzparagrafen des Kirchengesetzes abgelehnt.
Immer wieder sahen die rechtslutherischen Synodalen die christliche Ehe und vor allem deren Beginn in Gefahr. Superintendent Wolff beantragte eingangs der Spezialdiskussion, den § 1 folgendermaßen zu ändern: „Christliche Brautleute haben ihr eheliches Zusammenleben nicht zu beginnen, bevor sie ihre Ehe öffentlich vor Gott eingegangen und in Gottes Namen zu derselben verbunden sind“. Zur Vornahme der Trauung sei die Einwilligung der Eltern erforderlich. (Sb 3 S. 17) Auch wenn Kirchenkommissar Trieps sich für möglichst wenig Änderungen aussprach, fühlte er sich innerlich der lutherisch-orthodoxen Minderheit verbunden. „Warum ist die jetzige Lage zu beklagen?“ fragte er die Synode und antwortete: „Doch nur, weil die concentrirte Kraft, welche in dem kirchlich-staatlichen Acte verbunden gewesen, abgeschwächt werde durch Zerlegung der beiden Momente. Es müsse daher dem Staat und der Kirche gleichmäßig darin liegen, dass so viel wie möglich das Alte bleibe.“ (Sb 3 S. 20)

Die neue Trauordnung
Die nach acht Sitzungstagen gegen zwei Stimmen mit sehr großer Mehrheit verabschiedete neue Trauordnung unterschied sich von der alten radikal: die biblischen Lesungen wurden nunmehr an den Anfang gerückt und ersetzten die Ansprache über den Sinn der Trauung und die Anfrage nach einem Ehehindernis. Die Frage eines Ehehindernisses wurde, wenn überhaupt, nunmehr vom Standesamt erledigt; denn die zur Trauung in die Kirche kamen, waren ja bereits rechtsgültig verheiratet. Der Landesregierung war wichtig, dass diese Anerkennung auch in der liturgischen Ordnung benannt wurde. Überaschenderweise beantragte Domprediger Thiele solche Anerkennung schon in der Einleitung zu den Lesungen auszudrücken und schlug folgende Formulierung vor: „Geliebte in Christo! Ihr seid dahier erschienen, um euren Ehebund, den ihr vor der Obrigkeit auf Grund des Gesetzes rechtsgültig geschlossen habt, nun auch auf dem Grunde des göttlichen Wortes vor dem Angesicht Gottes und Seiner Kirche feierlich zu bekennen und mit allen hier gegenwärtigen Zeugen den Segen des Herrn zu erbitten“. (Sb 5 S. 34)
Dieser Antrag des Dompredigers fand vor allem staatlicherseits freudige Zustimmung, denn in der Regierungsvorlage fehlte ein derartiger Hinweis. Es erscheint mir fraglich, ob die Erwähnung der vorausgegangenen Eheschließung wirklich zwingend war. Vor allem aber war der Eindruck, dass die Eheleute erst in der Kirche „vor dem Angesicht Gottes“ stünden, höchst bedenklich. Ein Irrtum, der bis heute andauert. Natürlich waren Gegenwart und „Angesicht“ Gottes auch im Standesamt präsent. Die Reservierung des Kirchenraumes und die Anwesenheit eines Pastors im Talar für die Gegenwart Gottes war ein bedauerlicher Rückfall in römisch-katholische Denkweise. Bei den Lesungen war jene kurze über „das Kreuz der Ehe“ gestrichen worden und die saftigen Texte vom Segen ebenfalls. Auf die Lesungen folgt nicht etwa eine Predigt oder Ansprache an die Brautleute, sondern sofort die Traufrage.

Die Anrede der Braut
Dabei entstand eine längere Diskussion, ob die Braut mit ihrem Mädchennamen oder mit dem ihres Mannes angesprochen werden sollte. Der Entwurf des Konsistoriums sah den Mädchennamen vor, der Synodale Bode beantragte mit Erfolg, vor den Mädchennahmen das Wort „Frau“ einzufügen. Superintendent Wolff hatte zuvor beantragt, in die Trauformel das Wort „Hausfrau“ einzufügen, also: „Bist du gewillt, diese gegenwärtige N.N. auch vor Gott zu Deiner ehelichen Hausfrau zu nehmen..“ (Sb 6 S. 42). Aber Kirchenkommissar Trieps übergab der Synode für die 2. Lesung ein Formular, in dem das Wort „Frau“ bei der Traufrage nicht mehr vorkam. Geheimrat Trieps missverstand die Anrede „Frau“ als Gegensatz zum jungfräulichen Stande. Er begründete die Weglassung poetisch: „Wollte man sie mit „Frau“ anreden, so würde das nicht anders sein, als wenn man die Blüte eines warmen Herzens mit frostigem Reif überschütte“ (Sb 7 S. 57). Im übrigen könne er diese neue gedruckte Form dem Herzog zur Annahme empfehlen. (Sb 7 S. 58) Nun beantragte der Eitzumer Pastor Wilhelm Lerche, die Frau mit dem Namen des Mannes anzureden. (S. 57) Pastor Otto Eggeling pflichtete seinem Amtsbruder Lerche bei. „Eine Frau, die in echt jungfräulichem Bewusstsein vor den Altar träte, würde in der Anrede „Frau“ eine Verletzung ihrer jungfräulichen Würde nicht finden können.“ (ebd) Der Antrag Lerches wurde angenommen und in Zukunft die Braut mit dem Familiennamen des Mannes angeredet, allerdings ohne das Wort „Frau“.

Nach der Bejahung der Traufrage erfolgte wie bisher der gegenseitige Ringwechsel und das Wort „Was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden“. Hier hätte ein theologisches neues Nachdenken gut getan. Wie konnte die Kirche schlankweg behaupten, dass das Brautpaar „von Gott zusammengefügt“ wäre, obwohl es durchaus vorkam, dass gesellschaftliche und ökonomische Zwänge zu der ehelichen Verbindung geführt hatten? Es blieb auch bei einer „Erklärung“ des Pastors: „ ...so erkläre ich als verordneter Diener der christlichen Kirche euch beide in Christo verbunden vor Gott und segne eure Ehe in Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Die Worte „in Christo“ waren im Trauformular gesperrt gedruckt, damit sie auf keinen Fall ausgelassen würden, denn daran hing nun alles. Das „in Christo“ war der Ersatz für das auch rechtlich wirksame „Zusammensprechen“ der alten Trauordnung. Um allen Missverständnissen aus dem Wege zu gehen, wäre es besser gewesen, diese Art von Erklärung völlig wegzulassen und sofort mit dem Gebet über dem nun niederknieenden Brautpaar fortzufahren. Die Geste des Knieens nahm möglicherweise eine alte Sitte auf. In der Agende war sie bei diesem Anlass vorher nicht genannt worden. Leider war auch der ausgiebige „Segensstrom“ der alten Agende gestrichen und die mehrfache Handauflegung, die Thiele in seinem Kirchenbuch empfohlen hatte, nicht aufgenommen worden. Vaterunser und der aaronitische Segen beschlossen die Trauhandlung. Auch die Formulierung des Segens war um die Erwähnung der drei Erzväter gekürzt worden. Vor allem waren alle Hinweise auf die „Anschläge des Teufels“ auf die Ehe getilgt. Die liberale Handschrift dieser Trauordnung war unverkennbar.

Die acht Sitzungstage waren von einer intensivem gehaltvollen und profilierten Aussprache geprägt.
Am letzten Sitzungstag, dem Nikolaustag 1875, waren die Außentemperaturen bei heftigem Ostwind unter Null gesunken. Am folgenden Tag stand das Thermometer morgens in Braunschweig auf Minus 14 Grad, Wolfenbüttel versank unter Schneestürmen, in Schladen fiel die Temperatur auf 21 Grad Minus.

Das große Presseecho
Die Bevölkerung wurde über die Verhandlungen täglich und sehr ausführlich in den „Braunschweiger Anzeigen“ und im „Braunschweiger Tageblatt“ informiert, im Braunschweiger Tageblatt schon einen Tag später, der Bericht meist am Protokoll entlang. Es gab also in eineinhalb Wochen acht Protokolle, eine enorme Medienpräsenz der Synode. (Berichte im Braunschweiger Tageblatt am 26.11./ 28.11./ 30.11./ 1.12./ 2.12./ 3.12./ 5.12./ 8.12.) Ungewöhnlich war außerdem ein zweispaltiger, positiver Kommentar im Tageblatt in der Samstagausgabe, dem 4.12., unter der Überschrift „Einige Bemerkungen zu den Verhandlungen der außerordentlichen Landessynode“. Er berichtete von dem „großen Laienpublikum“ im Sitzungssaal, und sprach Dank und Anerkennung aus „aller aufrichtig liberal und tolerant zugleich gesinnter Elemente“. Ausführlich begründete er eine Bitte für die bevorstehende zweite Lesung, nämlich das kirchliche Aufgebot vor der Trauung fallen zu lassen, kirchliche Fürbitte könne der Pastor auch nach der Trauung halten, und als Anrede das „Du“ zu vermeiden und das Brautpaar zu siezen.

Sogar der sozialistische „Volksfreund“ konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. Die Ehe wäre nicht Sache des Staates und schon gar nicht der Kirche, sondern bestünde „in den tatsächlichen Verhältnissen“, nämlich „dass er für seine Frau sorgt, mit ihr zusammenlebt, dass sie kocht und wäscht, dass sie Kinder kriegen und dieselben erziehen. Das ist unsere Sache, die wir mit unsern Frauen ausmachen, und euch geht das den Teufel an“. (Vf 1.12.1875) Weil aber die kirchenfremden Arbeiter ihr förmliches Verhältnis zur Landeskirche nicht aufkündigten, fügte der Volksfreundredakteur leicht resigniert auch für diese Leser noch an: „Können wir es einmal nicht lassen, können wir uns gegen die übliche Gebühr vom Pastor den Segen geben lassen; wehe aber jedem Unberufenen, der sich sonst in unsere Verhältnisse einmischen will.“ (ebd)
Am Ende der Synodalsitzungen veröffentliche der Volksfreund noch folgendes bezeichnende satirische Gedicht „An die Männer der Braunschweigischen Landessynode“.
„Nun gackert hin und gackert her/ der Ehe Formel zu finden/ Ihr Herren habt heute die Macht nicht mehr/ zu lösen und zu binden// Wo Herz mit Herzen schließt den Bund/ da kann man euch entbehren/ wir wollen nicht aus Pfaffenmund/ da erst den Segen hören.// Komm her mein Kind und sei mein Weib/ Mein Weib fürs ganze Leben/ und dass als Mann ich treu dir bleib/ will ich die Hand dir geben// Das Wort, das Mann und Weib sich gibt/ das trotzt des Schicksals Schlägen/ Wo Mann und Frau nur treu sich liebt/ braucht man nicht Pfaffensegen“. (Vf 5.12. 1875) Das war eine deutliche antikirchliche Positionierung ohne Folgen. Etwa 95 % aller evangelischen Eheleute begehrten in der Braunschweiger Landeskirche unabhängig von ihrem sozialen Stand bis 1913 eine kirchliche Trauung.

Die Umsetzung
Diese Trauordnung wurde ohne Übergangsfristen vom 1. Januar 1876 an verbindlich. Ab wann sie sich in der Praxis eingebürgert hat, erscheint fraglich. Der Widerstand in der Pfarrerschaft war nicht gering. Noch 1879 zog Wilhelm Brodkorb, Superintendent in Benzigerode, vor der Inspektionssynode in Blankenburg ein krasses Resume. Ziel des Zivilstandgesetzes wäre „die Entschristlichung des Staates“. Vor allem beanstandete Brodkorb im Trauformular die unnötige Erwähnung der Rechtsgültigkeit der bürgerlichen Eheschließung und die Nennung der Braut mit dem Namen des Mannes. Es hätte beim alten Trauformular bleiben sollen. „Was kümmert denn die bürgerliche Eheschließung die Kirche?“ Dem Einwand, dass der Zwang zur kirchlichen Trauung abgeschafft würde, begegnete Brodkorb mit dem Argument, dass man auch nicht den Impfzwang und den Schulzwang aufhebe. „Das ist mir sonnenklar und steht mir felsenfest, dass das Civilstandsgesetz fallen muss und fallen wird.“

Ein scharfer antisemitischer Ausfall Brodkorbs
Brodkorb verband seinen Einspruch mit einem scharfen antisemitischen Ausfall, wobei er einen Artikel der Leipziger Kirchenzeitung vom 4.7.1879 S. 15 übernahm.
Das Gesetz wäre ein Ausdruck der „Herrschaft des Reformjudentums“, das Brodkorb ausdrücklich vom „echten Israelitentum“ unterschied. Im Reformjudentum balle sich eine Geldaristokratie zusammen, in Preußen gäbe es bereits 550 jüdische, aber nur 92 christliche Bankiers. (S. 5) Das Ziel dieser Geldaristokratie wäre nicht nur zügellose Konkurrenz und unbegrenztes Freibeutertum, sondern auch die christliche Kirche. Sie greife „mit beiden Händen nach der Krone des lebendigen Gottes, der in den christlichen Kirchen sein Wort verkündigt und seine Heilstatsachen offenbart, und dazu mußte nun, wie der ganze Kulturkampf, so an der Spitze desselben das Zivilstandsgesetz dienen, das so recht eigentlich darauf berechnet war, die christlichen Kirchen ihres ganzen Einflusses zu berauben.“ (S. 6)

Brodkorb zitierte aus einem Artikel der Leipziger Kirchenzeitung vom 11. und 18. Juli 1879 über einen „Kampf zwischen Judentum und Deutschtum“, in dem dem „Judentum“ unverhüllt eine furchtbare Vernichtung angedroht wurde. „Wir zählen nicht zu denen, welche die Anmaßungen des Judenthums als bereits erzielte Resultate, und den Kampf, dessen Ernst und Schwere wir keineswegs verkennen, als bereits zu Gunsten des Judenthums entschieden betrachten. Im Gegentheil glauben wir annehmen zu dürfen, daß die erträumte Weltherrschaft ihnen auch jetzt aufs neue entschlüpfen, und daß das Strafgericht, welches durch Titus über sie vollstreckt wurde, sehr weit hinter dem zurückbleiben dürfte, das sich heute gegen sie vorbereitet und vielfach muthwillig von ihnen heraufbeschworen wird.“. Das bedeute keineswegs, dass dem Germanentum vom Judentum nicht eine große und dringende Gefahr drohe. Die jüdische Presse betrachtete das Christentum als eine „dem Untergang geweihte und demselben mit starken Schritten entgegengehende Institution“. (S. 6)

Fünf Jahre nach ihrer Einführung richteten 107 Pastoren der Landeskirche an die Synode eine Petition, die Nennung der Braut mit dem Namen des Mannes doch wieder rückgängig zu machen. Darunter waren auch einige Superintendenten. Die Petition verwies auf die liturgische Praxis in den anderen Landeskirchen, in denen überall bei der kirchlichen Trauung die Braut noch mit ihrem Familiennamen angeredet würde. Das war ein gewichtiges Argument, denn tatsächlich war die Braunschweigische Landeskirche die einzige, die die Nennung des Familiennamens der Frau vermied.
Der Synodalausschuss wollte eine erneute Debatte in der Landeskirche vermeiden und empfahl der Landessynode, die Synode möge die Petition „für jetzt noch unberücksichtigt“ lassen. Nach einer erneuten Aussprache folgte die Landessynode mit sehr großer Mehrheit diesem Ausschussantrag. Dazu mochte auch die schonende Formulierung „für jetzt noch“ beigetragen haben, die eine erneute Vorlage der Petition an die Landessynode nicht ausschloss. (Verhandlungen der dritten ordentlichen Landessynode Sb 8 S. 41 ff).

Kirchliche Traustatistik 1880-1911
Im letzten Drittel des Jahrhunderts stieg in Folge der Bevölkerungszunahme die Zahl der Eheschließungen von 2.737 (1880) auf 3.953 (1900) und 4.022 (1913) erheblich an, und die Anzahl der evangelischen Eheschließungen im selben Zeitraum von 2.538 (92,7 %) auf 3.698 (93,5 %) und 3.606 (89,7 %). (nach Hoelscher S. 60) Besonders deutlich wurde dieser Anstieg in den Braunschweiger Stadtkirchen, so in der Katharinenkirche von 75 (1877) auf 110 (1884) und 164 (1893), in der Andreaskirche von 66 (1884) auf 104 (1904). Schon in der Synodalsitzung von 1875 hatte ein Synodaler um eine Verkürzung der Lesungen gebeten, weil sich die Anzahl der Brautpaare in einem Gottesdienst häuften und den Gottesdienst in die Länge zogen.

Kirchliche Trauungen „rein evangelischer Ehepaare“
  1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887
Stadt Bs 80,5 73,0 78,4 77,3 77,5 80,9 79,3 77,2
im übrigen Land 99,0 98,9 98,7 99,6 97,6 99,8 100,3 100,6
im ganzen Land 95,4 93,4 94,6 94,8 93,4 95,8 95,8 95,3
                 
  1888 1889 1890 1891 1900 1901 1902 1903
Stadt BS 79,1 82,8 80,0 79,0 85,1 87,0 88,7 87,2
im übrigen Land 99,4 99,7 99,6 99,6 100,5 98,8 99,1 99,3
im ganzen Land 94,3 95,6 94,6 94,5 96,5 95,0 96,5 96,2
                 
  1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911
Stadt BS 83,5 86,6 88,3 87,9 84,4 85,6 85,3 83,9
im übrigen Land 98,8 97,7 98,3 98,2 97,6 98,0 96,8 97,1
im ganzen Land 94,9 95,0 95,7 95,5 94,2 94,7 93,8 93,6
Quelle: eingehende Mitteilungen über die Zustände und Verhältnisse der Landeskirche in den Anlagen der jeweiligen Synodalprotokolle. Die Statistik stimmt mit den Angaben von Lucian Hoelscher überein.

Das Konsistorium führte in seinen Berichten über die Zustände in der Landeskirche verschiedene Statistiken, so auch über die kirchlichen Trauungen. Danach ließen sich von den Ehepaaren, in denen beide Partner evangelisch waren, in furchtbarem Statistikdeutsch sog. „rein evangelische Ehepaare“, zwischen 1880 und 1911 93% und 96 % auch kirchlich trauen. Die volkskirchliche Sitte blieb in der Landeskirche trotz mancher Befürchtungen erhalten. Aber in der Stadt Braunschweig war der Prozentsatz erheblich niedriger. Sein niedrigster Stand war Anfang der 80er Jahren 73% -77%, allerdings mit anwachsender Tendenz zum Jahrhundertbeginn, als der Prozentsatz der evangelischen Trauungen auf 83% bis 88 % anstieg. War das auch ein Zeichen von zunehmendem Wohlstand? Im selben Zeitraum verzichteten in der Landeskirche 5.300 evangelische Ehepaare auf eine kirchliche Trauung. Die Konsistorialstatistik listete auch die konfessionsverschiedenen Ehe auf. Dabei galt die evangelisch-reformierte wie die römisch-katholische Kirche als konfessionsverschieden. Eheschließungen zwischen evangelischen und dissidentischen Ehepaaren waren nicht aufgenommen worden. Die Zahl der konfessionsverschiedenen Ehen blieb zwischen 1880 und 1887 unter 200, danach wechselnd zwischen 208 und 267 Ehepaaren. Wenn der evangelische Ehepartner die Erziehung der Kinder in einer nicht evangelischen Religionsgemeinschaft zugesagt hatte, musste die Trauung verweigert werden. (Amtsblatt 1895 S. 28 f Nr. 116 Kirchengesetz wegen Ergänzung des Kirchengesetzes vom 8. December 1875 die kirchliche Trauung und das kirchliche Aufgebot betreffend)

Die Einführung der standesamtlichen Trauung 1875 war der größte Schritt zur Trennung von Staat und Kirche vor der Aufhebung des Summepiskopats 1918. Sie gab den Kirchenmitgliedern die Möglichkeit, über die Tatsache der Vornahme einer kirchlichen Trauung und über deren Zeitpunkt selber zu entscheiden, ohne ihre Kirchenmitgliedschaft in Frage zu stellen. Die Aufhebung der Zwangstrauung schuf einen Freiheits- und Entscheidungsraum, der von den Kirchenmitgliedern auch in Anspruch genommen wurde. Die volkskirchliche Sitte, dass Hochzeit und Trauung zusammengehören, blieb ungebrochen in Geltung. Sie löste sich nur sehr langsam aus der gesellschaftlichen zwanghaften Gewohnheit.



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Impressum  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Synode/, Stand: August 2020, dk