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[Kirche von Unten]

Über die Geschichte der Braunschweiger Landessynode

Ein Kompendium von Dietrich Kuessner

(Download des Buches als pdf: Band 1 Band 2)



Über die Geschichte der Landessynode zur herzoglichen Zeit (1869-1916)

Die erste ordentliche Landessynode 1872
Die Einstiegssynode oder Die Kirchenvorstandssynode


Quelle: Verhandlungen der durch landesfürstliche Verordnung Nr. 52 vom 10. October 1872 berufene ersten ordentlichen Landessynode eröffnet am 24. October und geschlossen am 26. November 1872.

Seit dem Ende der konstituierenden Synode im Herbst 1869 waren drei Jahre vergangen. Das Staatsministerium hatte erst im Sommer 1871 das Gesetz über die Landessynode veröffentlicht (veröffentlicht in GvU 1871 Nr. 34 vom 20. Juni 1871 S. 145 ff) und sich mit dem attraktiven Vorhaben der Aufhebung der Stolgebühren beschäftigt. (GvU 1871 Nr. 33 vom 20. Juni 1871 S. 133 ff))
Ab Sommer 1872 lief das mehrstufige Wahlverfahren zur ersten ordentlichen Landessynode.

Die Vorgeschichte
Zwischen dem 15. und 25. August 1872 hatten die Kirchenvorstände die Wahlmänner gewählt und vom 15.-25. September die Wahlmänner die Abgeordneten der Landessynode. (GvU Nr. 40 vom 30. Juli 1872 S, 199 ff) Die stockkonservative Kreuzzeitung kommentierte das Wahlergebnis „als Symptom der im hiesigen Lande herrschenden Fäulnis“, (zitiert nach Braunschweiger Zeitung 17.11.1872), was so viel bedeutete, dass die Liberalen einen hohen Sieg errungen hatten. „Die pietistische Partei mit ihrer von einem Angstschrei begleiteten Candidatenliste habe ein glänzendes Fiasko erlebt.“ (ebd)
Am 24. Oktober 1872 trat erstmals die Landessynode zusammen. Es war das bedeutsamste Ereignis in der bisherigen Geschichte der Landeskirche im 19. Jahrhundert. Das rechtlich ungeklärte Verhältnis der Landessynode gegenüber dem Konsistorium und vor allem gegenüber dem Staatsministerium hatte in der konstituierenden (Vor)synode zu kritischen Situationen geführt und musste sich nun im praktischen Synodenalltag weiter klären. Welche tatsächliche Machtstellung die Landessynode einnehmen würde, würde sich erst in der Synodalarbeit entscheiden.
Die Landeskirche verfügte über keine geeigneten Räume für derlei Veranstaltungen. Der Verfassungsentwurf von 1851 hatte als Sitzungsort noch Wolfenbüttel vorgesehen (§ 47 „Die Landessynode versammelt sich in jedem sechsten Jahr zu Wolfenbüttel auf Berufung des Landesfürsten“ Entwurf einer Verfassungsurkunde für die evangelisch-lutherische Kirche des Herzogthums Braunschweig. Braunschweig 1850 S. 42) Das hätte eine größere Selbstständigkeit gegenüber der Staatsgewalt signalisiert. Die Landeshauptstadt und dort der Plenarsaal der Landesversammlung gegenüber der Martinikirche am Eiermarkt in Braunschweig vermittelte dagegen den Eindruck einer engeren Verbindung zu den Staatsorganen. Es war kein Zufall, dass das Verhältnis von Staat und Kirche, von Landessynode zum Staatsministerium sehr bald Gegenstand einer kontroversen Debatte wurde.

Die Namen der gewählten und berufenen Synodalen der 1. ordentlichen Landessynode 1872

01. Ahrens, Ackermann, Ostharingen, seit 1869.
02. Apfel, Hermann, Superintendent, Seesen, seit 1869.
03. Bode, Wilhelm, Handelsdirektor, Braunschweig seit 1869.
04. Bode, Albert, Kreisassessor, Holzminden, seit 1869.
05. Brunke, Heinrich, Superintendent, Wolsdorf, neu.
06. Caspari, Heinrich Oberbürgermeister, Braunschweig, seit 1869.
07. Cruse, Adolph, Kreisdirektor, Helmstedt, seit 1869.
08. Dedekind, Theodor, Superintendent, Stadtoldendorf, neu.
09. Eimecke, Christoph Friedrich, Gemeindevorsteher, Watzum, seit 1869.
10. Freist, Friedrich, Superintendent, Timmerlah, seit 1869.
11. Gravenhorst, Karl Theodor, Schulrat, Braunschweig, seit 1869, berufen.
12. Guthe, Karl, Superintendent, Königslutter, seit 1869.
13. v. Heinemann, Ferdinand, Gymnasialdirektor, Wolfenbüttel, neu.
14. Helmuth, Kreisdirektor, Blankenburg, neu.
15. Keil, Ökonom, Herrhausen, neu.
16. Körner, Steinbruchbesitzer, Velpke, seit 1869.
17. Kuhn, August, Generalsuperintendent, Helmstedt, seit 1869.
18. Lerche, Kreisdirektor, Gandersheim, seit 1869.
19. Lerche, Wilhelm, Pastor, Eitzum, neu.
20. Münck, Theodor, Pastor, Cattenstedt, neu.
21. Nehrkorn, Oberamtmann, Braunschweig, neu.
22. Oesterreich, Johann Wilhelm, Landsyndikus, Braunschweig, seit 1869, berufen.
23. Pfeifer, Friedrich, Generalsuperintendent, Braunschweig, seit 1869.
24. Preusse, Gastwirt und Bürgermeister, Bettmar, neu.
25. Schäfer, Ackermann, Lauingen, neu.
26. Schmid, Albert, Obergerichtsrat, Wolfenbüttel, seit 1869.
27. Skerl, August, Pastor, Braunschweig, seit 1869.
28. Steinmeyer, Wilhelm, Pastor, Braunschweig, neu.
29. Stöter, Karl, Generalsuperintendent, Gandersheim, seit 1869.
30. Thiele, Heinrich, Domprediger, Braunschweig, neu, berufen.
31. Ude, Staatsanwalt, Holzminden, neu.
32. Wolff, Ludwig, Superintendent, Halle a.d.W. seit 1869.

Die Synode setzte sich aus 18 Laien und 14 Geistlichen zusammen, viele kannten sich bereits von der konstituierenden (Vor)synode, dreizehn waren neu, darunter Domprediger Thiele, der dieses Mal seine Berufung nicht ausgeschlagen hatte.
Unter den geistlichen Synodalen herrschte das kirchenleitende Amt vor: drei Generalsuperintendenten, sechs Superintendenten, der Hof- und Domprediger, aber nur vier Gemeindepfarrer gehörten zum geistlichen Teil. Der Berufsstand der Laien gliederte sich in sieben Kommunalbeamte, vier Juristen, je zwei Lehrer und Ackermänner, je ein Ökonom, Steinbruchbesitzer und Gastwirt. Das mittlere und gehobene Bürgertum repräsentierte die Gesamtkirche. Es entsprach der Zusammensetzung derer, die sich noch zur Kirche dazugehörig fühlten.

Die kirchenpolitische Gruppierung klärte sich bei der namentlichen Abstimmung eines typischen Antrages von Domprediger Thiele zur Geschäftsordnung, es sollte jede erste Sitzung mit einer Bibellesung beginnen. Der Antrag wurde mit 21: 9 Stimmen in namentlicher Abstimmung abgelehnt. (Verhandlungen Protokoll 4 S. 16) Die Braunschweiger Zeitung kommentierte das Ergebnis: „Bibellese und Gebet gehören nicht in eine zur Erledigung von Geschäften berufene Versammlung, deren Mitglieder Diäten beziehen“. (Braunschweiger Zeitung 17.11.1872)
Die neun befürwortenden Stimmen kamen allesamt von geistlichen Abgeordneten. Für den Antrag stimmten die Abgeordneten: Brunke, Dedekind, Freist, Guthe, Thiele, Münk, Kuhn, Steinmeyer, Wolff, jedoch nicht die anderen geistlichen Abgeordneten. Sämtliche Nichtordinierten lehnten den Antrag ab. Wenn dieses Stimmenverhältnis die kirchenpolitischen Fraktionen bezeichnete, dann überwog der liberale Teil den konfessionell-orthodoxen bei weitem. Dieses Stimmenverhältnis veränderte sich erst nach 30 Jahren leicht zu Gunsten der Lutheraner.

Wie wichtig die doppelte Zugehörigkeit, sowohl zur Landessynode wie auch zur Landesversammlung war, hatte die Nachgeschichte der konstituierenden Synode gezeigt. Der Landesversammlung gehörten folgende neun Synodale an: Wilhelm Bode, Braunschweig, Albert Bode, Holzminden, Oberbürgermeister Heinrich Caspari, Braunschweig, Keil, Generalsuperintendent A. Kuhn, Gemeindevorsteher Körner, Kreisdirektor Lerche, Obergerichtsrat Adolf Schmid.
Außerdem waren als gewählte Geistliche Konsistorialvizepräsident Ernesti und Superintendent Brodkorb Mitglieder der Landesversammlung.

Das Staatsministerium war mit dem größtmöglichen repräsentativen Aufgebot anwesend, nämlich dem Staatsminister v. Campe und den Ministern Zimmermann und Schulz. Schulz fungierte gegenüber der Synode als Kirchenkommissar und griff immer wieder in die Debatte ein.
Die Minister waren nicht nur zur Eröffnung erschienen, sondern beobachteten den Verlauf der Synode fast bis zur letzten Sitzung, wie sich diese neue Institution entwickeln würde.
Als Mitglieder des Konsistoriums nahmen Obergerichtsvizepräsident Dr. Henke, die Konsistorialräte Hille, Ernesti und Stausebach und Obergerichtsrat Grotrian teil. Henke war seit1863 lediglich der pro forma Präsident der Konsistorialbehörde, beteiligte sich nicht an der dortigen Arbeit, er wohnte auch nicht in Wolfenbüttel, sondern in Braunschweig. Er „fungierte“ nur als solcher. (so Vitus Dettmer in Das Konsistorium in Wolfenbüttel. Ein Beitrag zur braunschweigischen Kirchen und Kirchenverfassungsgeschichte Braunschweig 1922 S. 117 )

Zu Präsidenten der Synode wurden dem Herzog die Abgeordneten Caspari (28 Stimmen), Schmid (26 Stimmen) und Steinmeyer (19 Stimmen) präsentiert und Oberbürgermeister Caspari wie schon bei der konstituierenden Synode als Präsident bestimmt. Statt für den Kandidaten mit den weiteren meisten Stimmen, den Wolfenbüttler Obergerichtsrat Schmid, entschied sich der Herzog für den Gemeindepfarrer Steinmeyer von der Braunschweiger Martinikirche als Vizepräsidenten. Er wünschte im Präsidium nicht zwei weltliche Abgeordnete, sondern ein ausgewogenes Verhältnis von nichtgeistlichen und geistlichen Mitgliedern, sowie von Liberalen und Orthodoxen, denn Pfarrer Steinmeyer gehörte zu den Lutheranern.

In der 6. Sitzung wurden in den wichtigen Synodalausschuss, der die Synode über das Ende der Synodalsitzung gegenüber dem Staatsministerium vertrat, Oberbürgermeister Caspari, Obergerichtsrat Schmid, Pastor Skerl, Superintendent Apfel, Kreisdirektor Cruse gewählt, wobei es offenbar eine Kampfabstimmung gab, weil Skerlund Apfel erst im zweiten Wahlgang gewählt worden waren.

Das Kultusministerium lehnte zunächst die Bildung einer Kommission zur Durchberatung des Entwurfes des Hauptgottesdienstes ab und stimmte erst zu, als vorgeschlagen wurde, das Konsistorium an der Beratung zu beteiligen.
Dieser liturgischen Kommission gehörten Thiele, Gymnasialdirektor v. Heinemann, Pastor Lerche, Generalsuperintendent Stöter und Pastor Skerl an.

An insgesamt 20 Sitzungstagen von drei bis vierstündiger Dauer absolvierte die Landessynode vom 24.10. – 26.11.1872 ein enormes Arbeitsprogramm.

Der Eröffnungsgottesdienst
Vor Beginn der Tagung versammelten sich die Abgeordneten im Dom zum Eröffnungsgottesdienst, den Domprediger und Abgeordneter Thiele hielt. Der Domprediger erinnerte in seiner Predigt an das Augsburger Bekenntnis. Das lutherische Bekenntnis und die evangelische Lehre zu schützen, die Verfassung zu kräftigen und den wahren Glauben zu verbreiten, sei Hauptaufgabe der Synode, (nach Braunschweiger Zeitung 25.10.1872) Das war keine Ermunterung zur Kirchenreform, auch keine Ansage, was in den Umbruchzeiten die besondere Aufgabe der Landeskirche sei, sondern eher ein konservatives Erinnern an vergangene Zeiten. Für die von Thiele beschriebene Aufgabe gab es bereits Organe der Landeskirche.

Termine und Themen

1. Sitzungstag 24.10.1872 Donnerstag.
Ansprache des Regierungskommissars Geheimrat Schulz/ Gelöbnis der Mitglieder/ Wahl des Vorsitzenden und des Stellvertreters; Bericht der Einweisungskommission; Festsetzung der Reihenfolge der Tagesordnung.

2. Sitzungstag 25.10.1872 Freitag Beginn 10 ¼ Schluss 11 ½.
Bekanntgabe der Eingänge: Vorlagen für die Einrichtung einer Inspektionssynode/ der Visitationsordnung/ der Revision des Kirchenvorstandsgesetzes/ Eingabe eines Entwurfes einer Ordnung des Hauptgottesdienstes an Sonn- und Feiertagen;
Wahl einer dreiköpfigen Kommission zur Vorprüfung einer Geschäftsordnung.

3. Sitzungstag 31.10.1872 Donnerstag.
Beratung einer Geschäftsordnung der Landessynode.

4. Sitzungstag 1.11.1872 Freitag.
Fortsetzung der Beratung einer Geschäftsordnung der Landessynode.

5. Sitzungstag 2.11.1872 Sonnabend.
Fortsetzung der Beratung einer Geschäftsordnung/ Beratung eines Gesetzes einer Revision des Kirchenvorstandsgesetzes von 1851 (Eingang des Gesetzes).

6. Sitzungstag 5.11.1872 Dienstag.
Wahl des Synodalausschusses/ heftige Aussprache über das Gesetz der Revision des Kirchenvorstandsgesetzes vor allem § 1 Abschaffung der Vorschlagslisten des Kirchenvorstandes.

7. Sitzungstag 6.11.1872 Mittwoch.
Beratung eines Gesetzes zur Revision des Kirchenvorstandsgesetzes vom 30.11.1851,
Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Landessynode zur Landesversammlung.

8. Sitzungstag 7.11.1872 Donnerstag Beginn: 10 ¼ Schluss 2 Uhr.
Fortsetzung der Beratung eines Gesetzes zur Revision des Kirchenvorstandsgesetzes vom 30.11.1851.

9. Sitzungstag 8. 11.1872 Freitag Beginn 1o ¼ Schluss 2 Uhr.
Fortsetzung der Beratung eines Gesetzes zur Revision des Kirchenvorstandsgesetzes vom 30.11.1851,
Beratung eines Gesetzes zur Einrichtung von Inspektionssynoden.

10. Sitzungstag 9.11.1872 Sonnabend.
Fortsetzung der Beratung eines Gesetzes zur Einrichtung von Inspektionssynoden.

11. Sitzungstag 11.11.1872 Montag.
Beratung einer Kirchenvisitationsordnung/ Wahl von zwei zusätzliche Mitgliedern zur liturgischen Kommission zur Vorprüfung des Gesetzes über die Gottesdienstordnung.

12. Sitzungstag 14.11.1872 Donnerstag.
Beschlussfassung über die Kirchenvisitationsordnung.

13. Sitzungstag 15.11.1872 Freitag Schluss 2 Uhr.
ausführliche Debatte über den erstmals vorgelegten Bericht des Konsistoriums über die Zustände der Landeskirche und zahlreiche Anträge aus dem Plenum.

14. Sitzungstag 16. 11.1872 Sonnabend.
Fortsetzung der Aussprache über die Zustände der Landeskirche.

15.Sitzungstag 19. 11.1872 Dienstag.
Fortsetzung der Aussprache über die Zustände der Landeskirche.

16. Sitzungstag 20. 11.1872 Mittwoch.
Fortsetzung der Aussprache über die Zustände der Landeskirche.

17. Sitzungstag 21.11.1872 Donnerstag.
2. Lesung des Gesetzes zur Revision Kirchenvorstandsgesetzes von 1851.

18. Sitzungstag 22.11.1872 Freitag.
2. Lesung des Gesetzes über die Inspektionssynode.

19. Sitzungstag 23.11.1872 Sonnabend Beginn 10 ¼; Schluss 12 ½.
Beratung über einen 2. Jahrgang Perikopen.

20. Sitzungstag 26.11.1872.
Wahl einer liturgischen Kommission zur Prüfung eines Entwurfes der Gottesdienstordnung/
Schlusswort des Kirchenkommissars Minister Schulz.

Hauptgegenstände und Hintergründe

Es ist auffällig, dass auf der Tagesordnung nicht die Beratung einer Verfassung stand, für die es bereits seit Jahren einen durchformulierten Entwurf gab. Die Synode wandte sich stattdessen den inneren Zuständen der Landeskirche zu.

Die Synode beschloss zunächst eine Geschäftsordnung, dann in zwei Lesungen ein neues Kirchenvorstandsgesetz, weiterhin die Einrichtung von Inspektionssynoden als mittlere Ebene zwischen Gemeinde und Synoden und eine Visitationsordnung. Alle drei Vorhaben gingen auf Anregungen der Vorsynode von 1869 zurück, und für sie legte die Kirchenregierung je einen Entwurf zur Beratung vor. Nach den ersten Lesungen fand die Aussprache über den erstmals vom Herzoglichen Konsistorium erstatteten Lagebericht der Landeskirche statt.

Die Revisison des Kirchenvorstandsgesetzes
Die Reform des Kirchenvorstandsgesetzes war ein Auftrag der konstituierenden Synode 1869 gewesen. Die Vorlage des Staatsministeriums revidierte vor allem den Wahlvorga0ng und die Kriterien für das aktive und passive Wahlrecht. (Anlage 8 §§ 1-3) Es war unangenehm aufgefallen, dass nach dem Gesetz von 1851 der Kirchenvorstand zwar doppelt so viele Kandidaten aufzustellen hatte, wie gewählt werden mussten, aber meist sich selber aufstellte. Es gab also keinen Wechsel in den Kirchenvorständen. Nunmehr bestimmte der § 1: „Die Wahl der Kirchenverordneten geschieht durch die Stimmberechtigten der Kirchengemeinde“. Jeder Wahlberechtigte von 25 Jahren konnte jeden Wahlberechtigten von 30 Jahren wählen. (Anlage 8 § 3 S. 4). Am Wahltag erschienen die Wähler nunmehr vor dem Wahlausschuss meist in der Kirche (§ 6), nannten laut die Namen derer, die sie wählen wollten, und diese wurden zu Protokoll genommen (§ 8). Nach dem alten Gesetz wurde von den Kandidaten erwartet, dass „deren Lebenswandel nicht nur überhaupt unbescholten ist, sondern dass sie sich auch durch ihre Teilnehme am öffentlichen Gottesdienst als der evangelischen Kirche zugethane Männer bewiesen haben.“ (§ 9) Der Gottesdienstbesuch der Männer war traditionell kümmerlich, so wurde realistischerweise dieses Kriterium fallen gelassen und es hieß nun, es sollten Männer „von gutem Ruf, bewährtem christlichen Sinn, kirchlicher Einsicht und Erfahrung“ sein.“ (§ 3).
Nach Beendigung des Wahlvorgangs wurde ein Verzeichnis sämtlicher von den Wählern Benannten in der Reihenfolge der Stimmzahl angefertigt, und das war nun oft eine lange Liste, weil ja jeder jeden aufstellen und wählen konnte, und aus dieser Reihenfolge wurde die Zahl der erforderlichen Kirchenvorsteher entnommen. Das Ergebnis der Wahl wurde umgehend bekannt gegeben.
Jeder Wahlberechtigte hatte die Möglichkeit, die Wahl anzufechten, was vor allem damit begründet wurde, dass der Kirchenvorstand ein Instrument in der Hand haben sollte, um, „das Eindringen bedenklicher Elemente“ zu verhindern. (Anlage 8 S. 2).

Diese Vorlage des Staatsministeriums wurde an fünf Tagen gründlich diskutiert. In der erster Lesung gab es 133 Wortmeldungen und es wurden über 20 Änderungsanträge gestellt, in zweiter Lesung noch mal 13.
Bei der Diskussion um den § 1 der Vorlage, der das Vorschlagrecht des Kirchenvorstandes abschaffte, prallten die Reformgegner (Wolff, Guthe, Lerche - Eitzum) auf die liberale Mehrheit. Die Synodenrechte befürchtete einen Einbruch kirchenfremder sozialdemokratischer Gruppen in die Kirchenvorstände. Pastor Münck,, Cattenstedt erinnerte daran, „wie die Socialdemokratie, deren kirchenfeindliche Gesinnung der Versammlung bekannt sei, besonders an Orten, wo die arbeitende Bevölkerung vorherrschend sei, immer mehr Terrain gewönne..die allgemeine Wahlfreiheit führe leicht auf Bahnen, wo sie mit der Socialdemokratie zusammentreffe“ (Sb 6 S. 32) und in einem weiteren Redebeitrag, „für die Harzgemeinden, in denen die Socialdemokratie bereits Wurzel gefasst habe, seien nur Nachteile zu befürchten.“ (Sb 6 S. 33)
Die Braunschweiger Zeitung spießte das Votum von Münck folgendermaßen auf: „Der Abgeordnete Münck witterte sofort Socialdemokraten, die sich in die Kirchenvorstände drängen, um die Kirche zu untergraben und einen Strich durch das corpus bonorum zu machen... die Socialdemokraten, als solche, möchten schwerlich ihr Gefechtsfeld in die Kirchenvorstände verlegen, am allerwenigsten, wenn sie etwa auch Dissidententen sein sollten.“ (BZ 19.11.1872 )
Die liberalen Befürworter erinnerten dagegen an die mit dem bisherigen Kirchenvorstandsrecht verbundenen Missstände. Es gebe viel zu wenig Personenwechsel in den Kirchenvorständen, weil sich die Kirchenvorsteher immer selber vorschlagen würden. Die ursprünglich gewählten Kirchenvorsteher seien heute noch im Vorstand, monierte Bürgermeister Eimecke aus Watzum, also seit 20 Jahren. Daraus resultiere das Desinteresse an den Kirchenvorstandwahlen. (Sb 6 S. 32). In den Kirchenvorständen entwickle sich ein „Corporationsgeist, der alle neuen Elemente und oft gerade die Intelligenz, wie es lange Zeit in Blankenburg geschehen sei, aus seiner Mitte fern halte“. (Sb 6 S. 34)
Der „ärgste Feind der Kirche, der Indifferentismus“ werde durch eine Belebung der Kirchenvorstände bekämpft, hoffte der Abgeordnete Ude. (Sb 6 S. 33)
Der Abgeordnete Schmid stellte fest, dass bis auf eine Ausnahme alle Geistlichen gegen die Vorlage gesprochen hätten. Er hoffe geradezu, dass Sozialdemokraten in den Kirchenvorstand aufgenommen würden. Ein Kirchenvorstand solle auf die brennendste Frage der Zeit sein Augenmerk richten, nämlich das Verhältnis zwischen Arbeitsgebern und Arbeitsnehmern. Ein Kirchenvorstand könne so „den Klassenkrieg bekämpfen und die Arbeiter von den abschüssigen Bahnen der Socialdemokratie zurückzuführen helfen“ (Sb 7 S. 42) Der § 1 der Vorlage wurde unverändert mit Mehrheit angenommen.
Die Synode änderte den schwächsten Punkt der Vorlage, nämlich die Öffentlichkeit des Abstimmungsvorganges. Sie stimmte dem Abänderungsantrag des Synodalen Skerl zu: „Die Wahl erfolgt bei persönlicher Anwesenheit der Wahlberechtigten durch verschlossene geschriebene Stimmzettel, auf welchen so viele Personen benannt sind, als Kirchenverordnete gewählt werden sollen“ (Protokoll 8 S. 35). Der Antrag erhielt später eine andere, geringfügig veränderte Fassung (Protokoll 17 S. 73).
Eine längere Debatte gab es bei den Kriterien des Wählers. Stimmberechtigt sollten alle 25 Jahre alten, selbständigen Hausväter sein, es sei denn, sie hätten durch unehrenhaften Lebenswandel, tatsächlich bekundete Verachtung der Religion oder der Kirche öffentliches Ärgernis gegeben (§ 2). Erfolgreich beantragte der Synodale Körner, „selbständige Hausväter“ durch „männliche Mitglieder der Kirchengemeinde“ zu ersetzen und so den Kreis der Wahlberechtigten auch auf die unverheiratetem Mitglieder der Kirchengemeinde auszudehnen (Sb 17 S. 72 f), was jedoch durch einen umgehend neuen Antrag des Kreisdirektors Lerche eingeschränkt wurde, der vom Wähler erwartete, dass er einen eigenen Haushalt führe oder in selbständigen Verhältnissen lebe. Aber Körners weitergehender Antrag setzte sich in der Synode durch, eine erhebliche Verbesserung gegenüber der Vorlage.

Die Paragrafen 7-17 des bisherigen Kirchenvorstandgesetzes von 1851 waren entfallen. Die Kommission empfahl, das veränderte Gesetz der Landesversammlung zur Genehmigung vorzulegen, denn das Kirchenvorstandsgesetz von 1851 war ein Staatsgesetz, das – so die Kommission – nicht einfach durch die Landessynode hätte geändert werden können. Für diesen Antrag machten sich erstaunlicherweise die Liberalen Schmid und Oesterreich stark, von denen man annehmen konnte, dass sie für die Autonomie der Landeskirche in internen Angelegenheiten eintreten würden Der Erzlutheraner Wolff, der aus anderen Gründen als die Liberalen für die Autonomie der Landeskirche eintrat, reagierte verärgert. Wenn die Landessynode in die Stellung einer beratenden Versammlung zurückgedrängt werde, werde er in Zukunft kein Mandat mehr annehmen. (Sb 7 S. 43) Aber die Zustimmung von Schmid war durchsichtig. Über die liberale Mehrheit in der Landesversammlung konnte er, zumal als Vizepräsident des Landtages, noch liberale Verbesserungen in das Gesetz einbringen.
Gegen den Kommissionsantrag und eine Behandlung in der Landesversammlung argumentierte der Kirchenkommissar Geheimrat Schulz. Die „rein kirchlichen Angelegenheiten“ von den gemischt kirchlich/staatlichen Angelegenheiten zu unterscheiden, „sei eine schwer zu lösenden Aufgabe“. Eine klare Unterscheidung würde sich „nach und nach von selbst machen“. (Sb 7 S. 43) Auch das Staatsministerium hatte nach unerfreulichen Erfahrungen in der Landesversammlung eher die Absicht, die Landesversammlung zu umgehen. Die Unschärfe bei der Trennung von geistlichen und staatlichen Angelegenheiten schuf für das Staatsministerium außerdem die Möglichkeit, auch in rein geistliche Fragen der Landessynode hineinzureden. Sogar der Staatsminister v. Campe griff in die Debatte ein. Die Erweiterung des Wahlrechtes „gehöre doch wohl zur Verfassung der Kirche, worüber nach dem gedachten Gesetz allein die Kirchenregierung mit der Landessynode unter Ausschluss der Landesversammlung zu bestimmen habe“. (Sb 7 S. 46) Die Synode lehnte eine Beteiligung der Landesversammlung mehrheitlich ab.

Neudefinition einer Kirchengemeinde
Eine weitere wichtige Anfrage des Abgeordneten Skerl betraf das neue Verständnis von Kirchengemeinde. Früher sei die Kirchengemeinde mit der politischen Gemeinde zusammengefallen Durch die dissidentischen Bestrebungen war diese Einheit nicht mehr gegeben. Es sei – so Skerl – erforderlich, den Begriff der kirchlichen Gemeinde näher festzustellen und über Eintritt und Austritt bestimmte Vorschriften zu erlassen. In § 1 war der Begriff „Kirchengemeinde“ verwendet, was Skerl zu seiner Frage veranlasste. (Sb 6 S. 35) Hinter dieser Fragte steckte die Beobachtung, dass es Jahrhunderte lang nur eine zwangschristianisierte, weil zwangsgetaufte Bevölkerung vor Ort gab, was das Taufverständnis und den Kirchenbegriff völlig entstellte. Erst nach der Beendigung des Taufzwanges durch die Landesversammlung im Jahre 1873 und die Zulassung eines Kirchenaustritts konnte man von einer allmählichen Bildung von Kirchengemeinden sprechen. Denn die Freiwilligkeit gehört zum festen Grundsatz einer Kirchengemeindebildung. (veröffentlicht in GuV 1873 Nr. 51 S. 251 ff)

Das Gesetz zur Einricnhtung von Inspekltionssynoden

Die Vorlage des Konsistoriums
Schon bei der konstituierenden Synode 1869 war die Installation von Inspektionssynoden in das neue Verfassungsgefüge diskutiert, damals zwar abgelehnt, aber die Kirchenregierung um eine Vorlage für diese Synode gebeten worden. Die Begründung der Vorlage war kurz. Die Einrichtung von „förmlichen Kreissynoden mit Disziplinarbefugnis“, wie sie die unierte rheinische Kirche kannte, lehnte die Kirchenregierung ab, weil sie die Landeskirche dafür zu klein hielt. (Anlage 6 S. 1) Sie betrachtete das Gesetz als „Vervollständigung“ der synodalen Einrichtungen, eine „Mittelstufe“ zwischen Kirchenvorstand und Landessynode. Die Vorlage hatte 12 Paragrafen. Sie sollte im Wechsel mit den Predigersynoden alle zwei Jahre am Ort der Superintendentur zusammentreten (§ 1), sie sollte alle Geistlichen der Inspektion und eben so viele Mitglieder aus den Kirchenvorständen umfassen (§ 2), vier Wochen vorher vom Superintendenten einberufen und von ihm die Verhandlungen geleitet und geschlossen werden (§ 6). Gegenstand der Verhandlungen sollte die kirchlichen und sittlichen Zustände der Inspektion sein und Anträge und Beschwerden über das Konsistorium an die Landessynode gestellt werden können. (§ 4) Die Inspektionssynode sollte einen stellvertretenden Vorsitzenden und einen Schriftführer wählen, die zusammen einen Inspektionssynodalausschuss bilden sollten. Das war der Struktur der Landesynode nachgebildet. (§ 7) Schließlich wurden die Transportkosten den kommunalen Gemeindekassen auferlegt. Jene Städte, die wie Helmstedt, Blankenburg und Holzminden eine Stadtinspektion bildeten, sollten sich einer benachbarten Inspektion anschließen, also Helmstedt z.B. an die Inspektion Wolsdorf.

Die Diskussion im Plenum
Die Vorlage wurde an eineinhalb Tagen diskutiert und verändert. Der Paragraf 1 löste eine Grundsatzdebatte über den Charakter der Inspektionssynode aus. Der Abgeordnete Schmid lehnte eine Synode ohne deutliche Befugnisse wie in der rheinischen Kirche ab. Die konfessionellen Lutheraner dagegen befürworteten das Gesetz. Domprediger Thiele war überrascht, dass nun gerade Liberale die Einrichtung einer Inspektionssynode ablehnten. (Sb 9 S 67 f) Konsistorialrat Ernesti warb für die Vorlage. „Besprechung über Einrichtung der Kirchen, über Lehre, Gegenstände des Cultus und der Disziplin, Austausch über gemachte Erfahrungen von Seiten der Laien und Geistlichen über Katechismusübungen, Begutachtung von Vorlagen des Kirchenregiments, Beantwortung von Anfragen desselben, ferner gegenseitige Belehrung und Erbauung, sowie Belebung des kirchlichen Interesses böten ein reiches Feld der Betätigung.“ (Sb 9 S. 70)
Auf Antrag des Abgeordneten Oesterreich wurde die Wirkungsmöglichkeit der Inspektionssynode dadurch erweitert, dass sich die Synode nicht nur über das Konsistorium an die Landessynode, sondern auch direkt an das Staatsministerium wenden konnte. Der parlamentserfahrene Oesterreich durchschaute auch die Nutzlosigkeit eines Inspektionssynodalausschusses und beantragte die Streichung der §§ 7 und 8, was ohne Debatte angenommen wurde. Dagegen wurden die Sitzungen für Patrone, Kirchenverordnete, Lehrer der Inspektion und Mitglieder der Landessynode geöffnet (§ 5 Anlage 20 S. 3). Die dem Herzog vorgelegten elf Änderungen bezogen sich auf jeden einzelnen Paragrafen, (ebd ) wurden von ihm genehmigt und das ganze, veränderte Gesetz am letzten Sitzungstag angenommen.
Es wurde im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht (GuV N.51 1873 S. 251 ff) und umgesetzt. 1873 und 1875 fanden in allen Inspektionen Synoden statt, insgesamt 28 pro Jahr. (2. ordentliche Synode Anlage 5 a S. 6)

Die Visitationsordnung
Eine Revision der Visitationsordnung, wie sie die Kirchenordnung von Anton Ulrich (1709) vorsah, war längst fällig. Die Visitationspraxis war in der Landeskirche seit Jahrzehnten eingeschlafen. In anderen Landeskirchen, in Preußen, Hannover, Sachsen, Oldenburg u.a. war sie seit den 50er Jahren wieder aufgenommen. (Begründung der Vorlage in Anlage 7 S. 9-16) Das Konsistorium begründete seine Vorlage außerdem mit dem entlarvenden Argument, es müsse besser über die Zustände in den Kirchengemeinden informiert werden, um selber über die Zustände in der Landeskirche der Landessynode berichten zu können.

Die Vorlage des Konsistoriums
Die Vorlage des Konsistoriums (Anlage 7 S. 1-8) vermied den Eindruck, dass Visitation Kontrolle bedeute, sondern nannte als Zweck „die nähere Untersuchung über den kirchlichen und religiös sittlichen Zustand der einzelnen Gemeinden“, auch über Amts- und Lebensführung des Pfarrers und der kirchlichen Mitarbeiter, vor allem aber „die kräftige Anregung des kirchlichen Lebens“ und die Schaffung eines Bewusstseins einer Verbindung mit der Gesamtkirche (§ 1). ( Anlage 7 S. 2 ff) Die Visitation sollte alle vier Jahre vom Superintendenten vorgenommen werden. Die Beteiligung eines weltlichen Vertreters, z.B. des Kreisdirektors, sollte in Zukunft entfallen. (§§ 2+3), aber der Kirchenpatron und der Vorstand der politischen Gemeinde zum Visitationstag eingeladen werden. (§ 4) Die Visitation sollte an einem Sonntag Vormittag mit Gottesdienst und anschließender Konfirmandenstunde stattfinden. Der Visitator richtete nach der Katechese an die Gemeinde eine kurze Ansprache und erteilte den Schlusssegen (§ 6). Bei einem Rundgang nach dem Gottesdienst wurde der bauliche Zustand der Kirche und die Umgebung der Kirche begutachtet. (§ 7) Für die Visitation wurde ein Fragebogen entworfen, den der Pfarrer eine Woche vor der Visitation zusammen mit einem Gemeindebericht (Parochialbericht) dem Superintendenten einzureichen hatte. Fragebogen und Parochialbericht wurden im Pfarrhaus vom Superintendenten mit dem Kirchenvorstand und Opfermann besprochen. Dabei konnten auch Wünsche und Anträge, auch Beschwerden über den Prediger und Opfermann vorgetragen werden. (§ 8) Unmittelbar nach der Visitation teilte der Superintendent dem Pfarrer in einem Gespräch seinen Eindruck über den Ablauf der Visitation „unumwunden“ mit. (§ 9) Schließlich wurde der Zustand der Pfarrregistratur und der Kirchenbücher besichtigt und die Protokolle des Kirchenvorstands vorgelegt. (§10) Abschließend berichtete der Visitator an das Konsistorium (§ 12). Außerdem war für besondere Ausnahmefälle auch eine außerordentliche Kirchenvisitation vorgesehen (§ 14). Die Schlussartikel regelten die Kosten einer Visitation und stellten das Unterlassen einer Visitation unter eine Geldstrafe. Die vorgeschlagene Strafbestimmung sei „durch eine mehr als hundertjährige Erfahrung motiviert“, hieß es in der Begründung zu § 22 ( Anlage 7 S. 15), ein Hinweis, dass die Visitation nicht mehr durchgeführt worden waren.

Diskussion über die Vorlage
Diese Vorlage wurde einen Tag lang ausführlich diskutiert. Vor allem die Geistlichen der Synode debattierten, ob am Visitationstag eine Konfirmandenstunde oder ob diese nicht besser an einem andern Tag in der Schule gehalten werden sollte, und wenn doch am Sonntag, ob am Vormittag nach dem Gottesdienst oder am Nachmittag in einem Nebengottesdienst. Nach längerer Debatte blieb es bei dem Entwurf, wonach der Ortspfarrer am Vormittag eine Predigt und „Katechisation“, danach der Visitator eine Religionsprüfung vornahm, worauf sich eine Ansprache an die Gemeinde und der von ihm erteilte Schlusssegen anschloss. (§ 6) Die Frage, ob auch der Lehrer zum Kreis der Visitierten gehören solle, weitete sich durch den Abgeordneten Schmid zu einer Grundsatzdebatte über das Verhältnis des Lehrers zum Pfarramt aus. Die Stellung des Lehrers habe sich gegen früher wesentlich geändert, erklärte Schmid, die Lehrer seien Staatsbeamte und brauchten an einer Visitation überhaupt nicht teilzunehmen. (Sb 11 S. 86) Dem widersprach der Generalsuperintendent Kuhn. Die Lehrer seien Kirchendiener und dem Geistlichen untergeordnet. Geheimrat Schulz pflichtete bei. Es läge nicht in der „hier herrschenden Anschauung, die Lehrer als Staatsbeamte anzusehen, sondern auch als Kirchendiener“. (ebd.) Aber Schmid beharrte auf einem von der Lehrerschaft längst immer wieder geforderten Standpunkt. „Das Schulwesen sei eine Gemeindeangelegenheit (...) die Schule werde von der politischen Gemeinde unterhalten, und habe die Kirche nur noch insofern Interesse an derselben, als sie den Religionsunterricht zu überwachen habe.“ (ebd) Schmid zog schließlich seinen Antrag, die Lehrer aus dem Visitationsprozess auszunehmen, wegen seiner hoffungslosen Minderheitenposition in der Synode bei dieser Frage zurück.
Auf Antrag von Superintendent Wolff wurde auch der Friedhof in die Visitation eingeschlossen. Die im Entwurf vorgesehene sehr lange Zeit der Aufbewahrung der Visitationsakten in der Superintendentur, die mit weiteren Visitationsakten gesammelt zum Jahresende an das Konsistorium geschickt werden sollten, wurde auf Antrag von Wolff auf vier Wochen verkürzt. Das Konsistorium sollte mit einen „besonderen Bescheid“ auf die Visitationsakte reagieren. (Sb 11 S. 88). Das war eine bedeutende Änderung der Vorlage.
Das Debattenergebnis, das Änderungen bei elf Paragrafen der Vorlage vorsah, wurde dem Herzog übermittelt (Anlage 16), der seinerseits einige Zusätze verfügte (Anlage 23),woraufhin die Synode dem Entwurf einer Kirchenvisitationsordnung zustimmte. (GuV 1873 Nr. 4 S. 61 ff) Das Gesetz hatte eine nachhaltige Wirkung. Es entsprach in den Grundzügen den späteren Visitationsordnungen.

Der erste Lagebericht
Erst jetzt diskutierte die Synode an folgenden vier Tagen den erstmals erstellten Bericht des Konsistoriums von 21 Seiten über den Zustand der Landeskirche. Der Bericht war in 14 Kapitel eingeteilt und beschrieb zunächst das Verhältnis zum Staat, zur Gesamtkirche und zu den anderen Konfessionen. Sie habe die so folgenreichen Ereignisse der letzten Jahre, gemeint waren der deutsch-französischen Krieg und die Reichsgründung 1871, teilnehmend mitgefeiert und sich dem Staat in Treue gegen den ihr befohlenen göttlichen Dienst als treue Dienerin zu erweisen gesucht. Diese knappe Beschreibung ihres Verhältnisses zum Staat verband die Teilnahme an der aktuellen Situation mit der Grundeinstellung, dem Staat zu dienen, „um die Grundlagen seiner Wohlfahrt zu befestigen“. Die Einfügung der Treue gegenüber dem geistlichen Dienstauftrag konnte von den Rechten als notwendige Einschränkung der Treue gegenüber dem Staat oder von den Liberalen als eine überhöhende Ergänzung des Staatsdienstes missverstanden werden. Das Verhältnis zur katholischen Kirche war vom Staatsministerium nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung neu geordnet und neue Kirchen und Schulen eingerichtet worden. Das wäre nicht zu beklagen, sondern als Aufforderung „zu desto energischerer Entfaltung der eigenen inneren Lebenskräfte“ zu verstehen. Eher ratlos wirkte dagegen das Verhältnis zu Baptisten und Dissidenten. Es bestand nämlich Taufzwang für alle geborenen Kinder, dem sich die baptistischen Eltern durch Austrittserklärung zu entziehen suchten, während die dissidentischen Eltern ihre Kinder gar nicht erst zur Taufe anmeldeten, was eine Strafe nach sich zog. Die Austritts- und Übertrittserklärungen der Baptisten hätten keine rechtliche Wirkung und sollten übergangen werden. Sie wären nach wie vor als Mitglieder ihrer Gemeinden anzusehen, stellte das Konsistorium fest. Gegenüber dissidentischen Eltern hingegen musste es bei der Klage bleiben, dass bei fortgesetztem Versäumnis die Strafe nicht wiederholt werden könnte. Eine kluge und zurückhaltende Entscheidung traf das Konsistorium gegenüber einer möglichen kirchlichen Trauung erklärter Dissidenten. Für den Fall, dass sie diese überhaupt wünschten, wurde die Entscheidung nicht von oben verfügt, sondern dem Pfarrer überlassen.
Im Jahrhunderte lang unangefochten protestantischen Gerüst des Herzogtums wurden Risse sichtbar, die sich in der Folgezeit vergrößerten.

In der Landeskirche gab es 260 Pfarrämter, von denen 21 unbesetzt blieben, weil es dort keine Pfarrhäuser gab und die Pfarrstelle kein ausreichendes Einkommen garantierte. Die Einkommensverhältnisse der Pfarrer schwankten erheblich, nämlich zwischen 700 und mehr als 2.100 Mark pro Jahr. Das bedeutete im Verhältnis zu früheren Zeiten eine Verbesserung, denn seit 1836 war das Einkommen von 400 M auf 450 (1859), auf 600 (1868) und 700 (1871) angehoben worden. Das Einkommen eines Pfarramtes bestand aus Einkünften aus dem Landbesitz der örtlichen Kirchengemeinde. Da dieser Landbesitz unterschiedlich groß war, unterschieden sich auch die Einkommen der jeweiligen Pfarrstelleninhaber. Im Bericht des Konsistoriums wurde kritisiert, dass die Verteilung des Einkommens auf die Pfarrstellen in vielen Fällen in auffallendem Missverhältnis zu den pfarramtlichen Anforderungen stünde. Es war verständlich, dass Pfarrer auf geringer dotierten Stellen in besser dotierte strebten. Die Möglichkeiten dazu waren jedoch beschränkt, denn die Pfarrstellen wurden nur in etwa zehn ländlichen Kirchengemeinden auch vom Kirchenvorstand besetzt, alle anderen waren abhängig von Privatpatronen oder vom Herzog als Patron. Der Bericht von 1872 erwähnte mehr als 100 Privatpatrone.

Ein Landpfarrer war also tagsüber ganz erheblich damit beschäftigt, sein monatliches Einkommen einzutreiben, außerdem seinen Pfarrgarten für zusätzliche tägliche Nahrung und zur Entlastung des Einkommens zu bearbeiten und zu pflegen. Er hatte auch von Amts wegen die Kirchenkasse der Kirchengemeinde zu führen. Mehrfach lobte das Konsistorium in seinem Bericht die Tätigkeit der Pfarrer, dass in nicht wenigen Gemeinden eine gesegnete seelsorgerische Wirksamkeit des geistlichen Amtes bestünde (Anlage 5 S. 8), die pastorale Tätigkeit der Geistlichen wäre „in vielen Gemeinden nicht nur eine treue, sondern auch eine in anerkennendem Maße wirksame“ (ebd S. 15). Auch die Situation in den Kirchengemeinden war keineswegs katastrophal. In gewissen Bereichen der Landeskirche würde „der öffentliche Gottesdienst fleißig besucht, die Feier des Abendmahls zahlreich begangen, die Hausandacht geübt, die Seelsorge der Geistlichen wert geachtet und bei den wichtigsten Momenten des Lebens, sowie bei Begräbnissen der Verstorbenen die Teilnahme und der Segen der Kirche begehrt.“ (ebd. S. 15)

Trotzdem verschwieg das Konsistorium nicht die Unkirchlichkeit in vielen Gemeinden. Es dürfte nicht verschwiegen werden, „dass in vielen, städtischen wie ländlichen Gemeinden das kirchliche Leben in beklagenswerter Weise daniederliegt, und dass auch der Aufschwung, den die großen Ereignisse der letzten Jahre von dem deutschen Volke so sichtbar zu erkennende gnädige Führung Gottes demselben geben zu wollen schien, im Allgemeinen kein so kräftiger und nachhaltiger gewesen ist, wie dieses gewünscht werden musste und gehofft werden durfte.“ (ebd) Die Hoffnung, der Sieg im deutsch-französischen Krieg, vor allem die siegreiche Schlacht von Sedan, die theologisch so selbstverständlich wie leichtsinnig als Fügung Gottes interpretiert wurde, könnte mit einem innerkirchlicher Aufschwung verknüpft werden, hatte schon ein Jahr später nach eigenem Eingeständnis getrogen. Es war keine biblische Hoffnung, sondern ein Vertrauen „auf Rosse und Reiter“, was schon die alttestamentlichen Propheten verworfen hatten. Trotzdem halte ich das Urteil von der „flächendeckenden Unkirchklichkeit“ in der braunschweiger Landeskirche, wie sie Rolffs in seiner Darstellung der niedersächsischen Kirchengeschichte äußerte und später von Hans Walter Krumwiede übernommen worden ist, für grob und in seiner Verallgemeinerung für übertrieben. (Hans Walter Krumwiede vor der Landessynode 1984 in seinem Vortag „Zur Wirkungsgeschichte des christlichen Glaubens im Bereich der Braunschweiger Landeskirche“: „Wir besitzen eine sehr instruktive Karte der Kirchlichkeit Niedersachsens aus dem Jahre 1938 mit dem statistischen Nachweis einer aktiven Kirchlichkeit bis hin zu einer durch Gewohnheit stabilisierten Unkirchlichkeit. Für Braunschweig und Oldenburg gilt flächendeckende Unkirchlichkeit“, KURIER 1984 S. 2)

Im Berichtsraum der letzten zwanzig Jahre, also zwischen 1852 und 1872 waren in der Landeskirche 30 Kirchen abgerissen und neu gebaut und 55 gründlich restauriert worden. In die Kirchen wurden 116 Orgeln neu eingebaut und 58 vorhandene restauriert. (Anlage III zu Anlage 5 II.Kirchen-Orgeln) Es hatte offenbar einen erheblicher Nachholbedarf an Kirchenbaupflege gegeben. Weit mehr als die Hälfte der Gesamtkosten von 616.643 M. wurden dabei von den Kirchengemeinden und weitere knapp 200.000 aus den kommunalen Gemeindekassen aufgebracht; nur ca 67.000 M wurde von der Landesregierung aus der Klosterreinertragskasse zugeschossen. Viele Kirchengemeinden auch auf dem Lande befanden sich offenkundig in einer finanziell günstigen Lage. Trotz der hohen Aufwendungen für den Kirchbau auf dem Lande war das Kapitalvermögen der Kirchengemeinden des Landes seit 1851 von 402.878 M auf 483.994 M gestiegen. (Übersicht der jährlichen Gesammt-Einnahme und Ausgabe sowie des Vermögensbestandes der sämmtlichen lutherischen Kirchen und Capellen im Herzogthum Braunschweig mit Ausnahme der Kirchen in der Stadt Braunschweig Anlage IV zu Anlage 5)

Der Bericht erwähnte verschiedene Missstände: es fehlte eine verbindliche Gottesdienstordnung, wodurch „nicht wohl zu verhütende liturgische Willkür eingetreten“ wäre (S. 6), das Gesangbuch müsste ergänzt werden, zumal bereits ein Entwurf von 150 „Kernliedern“ eines evangelischen Kirchengesangbuches herausgegeben worden wäre (S. 6), die Abkündigung der Verlobten am Sonntag vor der Trauung nähme in den Gottesdiensten viel zu viel Zeit in Anspruch, Begräbnisfeiern würden durch unangemeldete Reden unbefugter Teilnehmer am Grabe gestört, für den Konfirmandenunterricht fehlte es an geeigneten Räumlichkeiten, er fand in der Regel im Pfarrhaus statt (S. 5) (nicht in der Schule), dem Lehrermangel an den ländlichen Gemeindeschulen müsste durch Einkommensverbesserungen abgeholfen werden.

Debatte über den Kommissionsbericht

Die viertägige Debatte mündete in 16 Ersuchen an die Kirchenregierung (Anlage 18). Sie möge u.a. die Bestrebungen einer gemeinsamen evangelischen Kirche in Deutschland unterstützen, die Kreisdirektoren vom Amt eines kirchlichen Visitators entbinden, die Entscheidung über eine Konfirmation auch schon mit 13einhalb Jahren den Superintendenten überlassen, das Aufgebot der Verlobten nicht mehr durch Abkündigung in der Kirche, sondern durch Anschlag an die Kirchentür genehmigen, die Aufhebung von Patronaten anstreben, für Anerkennung des theologischen Examens auch in anderen Ländern sorgen, einen für Kirchbauten zuständigen Beamten einstellen, ein Gesetz über die Pensionierung der Pfarrer vorbereiten, das Einkommen der Hilfsprediger aufbessern, schließlich den Kirchenvorständen eine größere Selbständigkeit einräumen.
Das war eine lange Wunschliste. Die Synode erinnerte auch in weiteren Synodalsitzungen an sie, und das Staatsministerium gab dem Drängen auch in vielen Punkten nach.

Die zweite Perikopenreihe
Der Landessynode lag eine Vorlage zur völligen Neugestaltung des sonntäglichen Hauptgottesdienstes mit einer ausführlichen Begründung vor. Die Synode wählte einen Ausschuss, der prüfen sollte, „welche Teile dieser Vorlage gedruckt werden sollten und in welcher Weise dieselbe zu beraten sei.“ (Pr. 3, 8). In den Ausschuss wurden die Abgeordneten Thiele, Ude und Skerl gewählt. Zu dieser gottesdienstlichen Vorlage gehörte auch eine weitere, die neben der ersten, im Gebrauch befindlichen Perikopenreihe nunmehr eine zweite mit erläuternden Bemerkungen enthielt. (Anlage 13) Die Evangelien der alten Perikopenreihe bestimmten das Gesicht des Sonntags. Ihnen war eine Epistellesung oder an wenigen Sonntagen eine Lesung aus dem Alten Testament zugeordnet. Diese zweite Lesereihe sollte keineswegs die alte ersetzen, diese konnte sich auf eine Jahrhunderte alte Tradition berufen, sondern es sollten noch weitere biblische Lesungen gelesen und gepredigt werden. Die Gefahr bei nur einer Predigtreihe sei groß, „sich in einem engen Kreise und in gewohnten Gleisen zu bewegen“ (Anlage 13 S. 13) Außerdem sei die Bibel inzwischen „mehr und mehr ein unbekanntes Buch“ (ebd).
Schon vor 1848 hatten die evangelischen Landeskirchen in Baden, Sachsen, Württemberg, Nassau, Rheinpreußen und Hamburg eine solche zweite Lese- und Predigtreihe eingeführt. (die Bemerkungen verwiesen auf das Buch von E. Ranke Kritische Zusammenstellung der innerhalb der evangelischen Kirche Deutschlands eingeführten Perikopenreihe Berlin 1859 Anlage 13 S. 13)

In diesem Jahr 1848 hatte auch das Herzogliche Konsistorium den Braunschweiger Pfarrern einen zweiten Jahrgang Perikopen zum freien Gebrauch und zur Erprobung bereits zugestellt und um Rückantwort gebeten. Eine große Anzahl von Pfarrern wünschten die Einführung einer zweiten Perikopenreihe und diese sollte im Landesgesangbuch abgedruckt werden. Die Vorlage für die Landessynode konnte also auf eine längere Vorgeschichte zurücksehen.
Bei der vorgeschlagenen neuen Perikopenreihe fallen uns heute die drei Marientage auf: Mariä Reinigung, Maria Verkündigung, Mariä Heimsuchung. Zu allen drei Marienfesttagen waren alttestamentliche Lesungen vorgesehen: Luk. 2,22 ff (Reinigung), Luk 1,26 ff ( Verkündigung) und Luk 1,39 ff (Heimsuchung). Ansonsten waren a.t. Lesungen mit Ausnahme der vier Adventssonntage kaum vorgesehen. Es überwogen bei weitem die Briefe des Paulus und die anderen n.t. Briefe.
Die Synode stimmte der Vorlage ohne Debatte zu. Der Dreierausschuss empfahl weiterhin die Einsetzung einer liturgischen Kommission zur Bearbeitung der Ordnung des Hauptgottesdienstes, in den die Abgeordneten v. Heinemann, Lerche (Eitzum), Skerl, Stöter und Thiele gewählt wurden. Er sollte zusammen mit einem Konsistoriumsmitglied die Vorlage bearbeiten. Außerdem empfahl er, Zug um Zug und nicht auf einmal das gesamte Agendenwerk zu bearbeiten. Dieses dauerte insgesamt über 20 Jahre. 1895 erschien die neue Agende im Druck und blieb bis 1963 in Geltung.

Kirchenkommissar Schulz bemerkte in seiner Schlussansprache, er sehe „mit Befriedigung“ auf diese erste Synode zurück. Kirchenregiment und Synode hätten sich die Hand gereicht. „Möge im übrigen das lebendige Wort, welches die Kirche nach langem Schweigen aus dieser Versammlung herausgesprochen hat in das Land und zu ihren Angehörigen, den Boden finden, auf dem es weiter keimt und seine Früchte trägt!“ (Sb 20. Sitzung S. 161)

Das außerordentliche Presseecho
Die Braunschweiger Bevölkerung wurde über die Verhandlungen in der Landessynode durch die Regionalpresse intensiv informiert. Die Braunschweigische Anzeigen als das Staatsorgan, veröffentlichten die Sitzungsprotokolle ein bis drei Wochen später. Das Braunschweiger Tageblatt berichtete schneller, meist am Tag nach der Sitzung von den Verhandlungen am Vortrag, insgesamt ca 20 Berichte; das bedeutete für die Öffentlichkeit eine enorme Informationsdichte, immer ohne Wertung.
Wertend und typisch hingegen für die Einstellung des Braunschweiger Tageblattes war eine am 9. und 10. Sitzungstag veröffentlichte Buchbesprechung des neusten Buches von David Friedrich Strauss „Der alte und der neue Glaube“. Ich halte diese Buchbesprechung typisch für das nachchristliche, bürgerliche Lesepublikum in Braunschweig und lasse im Folgenden eine lange Passage der Buchbesprechung folgen.
Besprechung zu David Friedrich Strauss „Der alte und der neue Glaube“ in BT 8.11.1872 und 9.11.1872

„David Friedrich Strauss hat soeben das deutsche Volk mit einer neuen literarischen Gabe beschenkt, deren es sich von ganzem Herzen freuen darf. Der kühne Denker und unbestritten bedeutendste Prosaiker der Gegenwart tritt mit eine Male unter sein Volk, in welchem ein verworrenes Getümmel von theologischen Zänkereien herrscht – ein muthvoller Mann, der den Religionsmachern aller Art gegenüber sein nichtconfessionelles Bekenntnis wie ein in Vergessenheit gekommenes Stück väterlichen Hausrathes in Erinnerung bringt. Da tummeln sich auf der Schaubühne Deutschland die Bischöfe mit ihrem infallibilistischen Credo, die altkatholischen, ehemals ultramontanen Bischöfe, die ihren Glauben anpreisen, der dem der Bischöfe völlig gleicht bis auf das fehlende i-Tüpfelchen der Infallibilität; die Protestanten mit Consistorial-Verfassung und daneben die mit Synodal Verfassung, an ihrer Spitze gleichfalls Professoren; im Hintergrunde Dissidenten, Mennoniten, Baptisten, für die jetzt eigene Gesetze gemacht werden müssen, Juden reformierter und orthodoxer Richtung. In diese buntbewegte Menge von Gläubigen aller Art, die wie auf einem Jahrmarkte laut und aufdringlich ihre Waare anpreist, tritt, in den Stahlpanzer der Philosophie, der historischen Kritik und der modernen Naturforschung gekleidet, Strauss in die Scene, sein Buch emporhaltend: „Der alte und der neue Glaube“. Es hat ihn nicht mehr geduldet, den alten Vorkämpfer des freien Gedankens, hinter der Coulisse des Theatrum mundi; heraus muß er, um sein Bekenntnis vorzutragen.“ (BT 8.11.1872)

Wie Lessing, sein Vorbild und Meister in vielen Dingen, besteigt auch er „noch einmal seine Kanzel“, welche er vor vierzig Jahren so hoffnungsvoll betreten, jetzt ein Greis, aber jung und frisch an Geist. Ist dies das Resultat des 19. Jahrhunderts, scheint diese Schrift zu fragen, dass ihr darüber streitet, ob der Papst fehlbar oder unfehlbar, ob der Hallesche Kirchentag oder der Protestanten-Verein im Rechte u.dergl. mehr? (...) Habt ihr wirklich kein geschichtliches Bewußtsein mehr, dass ihr vergessen konntet, dass eure Cultur sich auf Locke und Newton aufgebaut, durch Kant weitergeführt, durch Hegels Prüfung der kirchlichen Dogmen gekrönt wurde? Haben wir nicht schon vor vierzig Jahren den Supra-Naturalismus durch den Rationalismus erlegt gehabt? Wie konntet ihr eigentlich Lessing feiern, Kant Gedenkreden halten, vor Darwin den Hut ziehen, wenn ihr in solchen Streitigkeiten befangen seid? So betrachtet ist es ein seltsam schönes Schauspiel, einen Greis auf religiösem Gebiete unter einem halbschlächtigen und halbschürigen Geschlechte der Jungen als einen Radicalen auftreten zu sehen, der am Abende seines Lebens sich und seinen Anhängern die Beichte abhört, sich und ihnen die beiden Fragen vorlegt: „Sind wir noch Christen?“ (S. 13-92) und „Haben wir noch Religion?“ (S. 9-145) und dieselben mit einem kräftigen und entschiedenen Nein laut und öffentlich beantwortet...
Wie uns der Anblick dieses alten Wanderers erquickt, den es labt, über den vollbrachten Gang seines den höchsten Problemen geweihten Lebens nachzudenken, so entzückt uns die Klarheit und Fasslichkeit einer wahrhaft bewunderungswürdigen Darstellung, welche die Resultate einer durchdringenden, scharfsinnigen Kritik und einer stupenden Gelehrsamkeit in der schlichten Ausdrucksform wiedergibt, in einer kerndeutschen Lessingschen Prosa zu uns spricht, die sich mühelos Voltairschen Witz und Schalkhaftigkeit aneignet.“
(BT 8.11.1872)

Die Besprechung ging dann auf die Widerlegungen der drei Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses ein, auf die „Zersetzung des Gottesbegriffes“.
„Noch schlimmer erging es dem Unsterblichkeitsglauben, dessen Zersetzung des weiteren ausgeführt wird. So ergiebt sich, dass der persönliche Gott und die Fortdauer nach dem Tode aufgegeben sind, die beiden wesentlichsten Dinge der „Religion“, deren Entstehung Strauss wie Feuerbach aus der Abhängigkeit des Menschen und seinem Bedürfnis, gegen sie zu reagiren, erklärt.“

Der Artikel setzt sich später sehr kritisch mit der Befürwortung der Todesstrafe durch Strauss auseinander.
Der Artikel schließt ironisch über die Lösungsversuche von Strauss:
„Kehren wir in den reinen, wolkenlosen Aether der Speculation der Straußschen Schrift zurück: den Menschen, dem er die Kirche und den Glauben genommen hat, weist er zum Schlusse, nachdem er ihn in der stärkenden Luft, worein unsere großen Dichter uns erheben, athmen, in der Harmonie, welche unsere großen Tonsetzer verbreiten, ihn Zweifel und irdisches Weh vergessen ließ, auf die reichen Quellen des Trostes in seinem Innern: Wenn es nicht genügt, die ewigen Gedanken des Universums, des Entwicklungsganges, und der Bestimmung der Menschheit in sich beleben zu können: wer neben der Tätigkeit für die Seinigen, der Arbeit in seinem Berufe, der Mitwirkung zum Gedeihen seines Volkes und seiner Mitmenschen und dem Genusse des Schönen in Natur und Kunst es nicht über sich gewinnt, schließlich mit Dank dafür, dass er eine Welt hat mitwirken, mitgenießen, und mitleiden können, aus dem Leben als ein Losgebundener zu scheiden – dem ist nicht zu helfen, der ist an Mose und die Propheten zurückzuweisen, die zwar von einer Unsterblichkeit auch Nichts gewusst haben und doch Mose und die Propheten gewesen sind.“ (N.fr.Pr.) (B.T. 9.11.1872)

Dieser Artikel des Braunschweiger Tageblattes, ob übernommen oder aus der Feder eines Braunschweiger Redakteurs, gibt anschaulich die Geisteslage des damaligen liberalen Braunschweiger Bürgertums wieder. Es liebte Lessing, Kant und die rationalistische Bibelkritik. Gemeinde und Kirche kamen im Alltag nicht vor. Genuss an schöner Kunst und bei Spaziergängen im Grünen, Befriedigung bei sozialer Arbeit, von großer innerer Harmonie erfüllt. Zu viel Spekulation musste nicht sein. Der Artikel ist ein hervorragendes Beispiel für die längst eingesetzte Säkularisierung und viele Bemerkungen und Anschauungen von Strauss sind heutzutage Allgemeingut des öffentlichen Bewusstseins.

Über die Synodaltagung berichtete auch die damals für zwölf Monate zweimal täglich erscheinende Braunschweiger Zeitung, deren Redaktion am Ziegenmarkt saß. (Britta Berg Zeitungen) Die Berichte waren aktuell, meist bereits am nächsten Tag, ausführlich, oft zweispaltig und gaben breit die Wortbeiträge der Abgeordneten wieder. (BZ 25.10./ 26.10./ 31.10./ 3.11./ 6.11./ 9.11./ 10.11./ 12.11./20.11./21.11./ 22.11./ 23.11./ 24.11./ 27.11.//)

Am 19. November zog der Redakteur aber eine höchst kritische Bilanz. „Was hat sie (die Synode) zur Lösung ihrer Aufgabe, der evangelischen Kirche neues Leben einzuhauchen, bis jetzt getan? Wir müssen bekennen: so viel wie nichts. Die Debatten schleppen sich in selbstgefälliger pastoraler Breite träge dahin und bewegen sich fast ausschließlich auf dem Gebiet eines steifen Formalismus“. Obgleich man der Kirchenregierung schwerlich den Vorwurf machen könne, dass dieselbe in die neuen Bahnen mit übertriebener Dampfkraft hineingefahren sei, so hielten sich doch mehrere geistliche Abgeordnete sofort für berufen, die Funktion der Bremser zu übernehmen. „Fast systematisch wird das Geschäft des Bremsens von dem Abgeordneten Wolff betrieben“. „Das aber ist nicht zu verkennen, dass viele Anträge von Geistlichen bloß deshalb gestellt werden, um die ganze Idee zu verneinen, auf der das Synodalgesetz basiert ist.“

Nach Beendigung der Synode resumierte jedoch die BZ versöhnlich: „Im Allgemeinen kann man die durch diese Synode erzielten Resultate als für das kirchliche Leben förderlich bezeichnen, insbesondere insoweit, als der Gemeinde eine erhöhte und regere Teilhabe an den kirchlichen Angelegenheiten verschafft worden ist.“ ( BZ 1.12.1872)
Die Berichte der BZ unterschieden sich von denen im Tageblatt und in den Anzeigen durch die zusammenfassende Frische des Besuchers, der die Verhandlungen von der Tribüne des Plenarsaales der Landesversammlung aus beobachtete.

Im sozialdemokratischen Volksfreund (siehe Britta Berg Zeitungen S. 46), der gerade ein Jahr bestand, wurde von Anfang an eine scharfe antikirchliche Klinge geführt. Im Artikel „Die religiösen Bewegungen“ (Vf 9.10.1872) polemisierte der Redakteur: „Während der religiöse Glaube mit jedem Tag abnimmt, nimmt die Stärke der sozialen Frage mit jedem Tag zu. Deshalb ist es geradezu lächerlich, wenn gewisse Staatsleute sich einbilden, dass sie vermittelst der Pfaffen die soziale Frage aus dem Wege räumen können.“

Im Oktober /November 1872 war das kirchlich Terrain des Volksfreunds völlig von der „Affaire Degering“ besetzt, die am Eröffnungstag der Synode, dem 24.10., mit der gleichnamigen dreiteiligen Artikelserie begann (Vf 24.10. 1872 Affaire Degering 1. Teil/ 25.10.1872 Affaire Degering 2. Teil/ 27.10. Affaire Degering 3. Teil/ 8.11.1872 „Die runde Summe“/ 12.11. „Die runde Summe“.) In der Landessynode war darüber geklagt worden, dass bei Beerdigungen ärgerliche Reden am Grabe gehalten würden. Zu den Ersuchen an den Herzog gehörte auch jene, „mit der Hohen Landesregierung über Bestimmungen, durch welche Ärgernisse bei Begräbnissen vermieden werden, in Communication zu treten“ (Anlage 18 S. 2). Der Michaelispfarrer Degering war von den Angehörigen zweier am 30. Juni 1872 tödlich verunglückter Eisenbahner gebeten worden, am Grabe eine Predigt zu halten. Es war damals nicht üblich, dass ein Braunschweiger Stadtpfarrer bei einem Begräbnis in Erscheinung trat, es sei denn, er werde ausdrücklich darum gebeten. Die Sozialdemokraten hatten zur massenhaften Teilnahme an der Beerdigung am 4. Juli auf dem Michaelisfriedhof aufgerufen („Arbeiter Bataillone formiert euch!“ Vf 3. Juli1872) und waren auch in Scharen erschienen. Nach der Ansprache, Vaterunser und Segen Degerings wandte sich ein sozialistischer Redner propagandistisch an die Versammlung und endete seine Ansprache mit der Bitte: „ Es möge der Tag bald erscheinen, wo man die Toten nicht mehr bis ins Grab mit priesterlichem Glaubensfanatismus verfolgt“.

Die Ansprache war im Volksfreund wiedergegeben und löste höchste Verärgerung aus. In der Michaelisgemeinde fand eine Visitation statt, Degering wurde krankheitshalber für einige Wochen beurlaubt und sollte einen Bericht über den Vorgang abfassen, das herzogliche Konsistorium verklagte Wilhelm Bracke als Herausgeber des Volksfreundes und Bracke wurde vom Kreisgericht Braunschweig unter dem Vorsitz von v. Pawel am 10. Oktober wegen grober Beleidigung eines Kirchendieners und Vergehens gegen das Pressegesetz zur Zahlung von 100 Talern Strafe verurteilt. Der Volksfreund dokumentierte in seiner Artikelserie die Anklageschrift (24.10.), das Urteil (25.10), ein versöhnliches Antwortschreiben von Pfarrer Degering an Bracke, er fühle sich durch dessen Schreiben vom 20.10.1872 „befriedigt“,(27.10.) ein längeres Schreiben Brackes an das Konsistorium unter der Überschrift „Die runde Summe“ (Vf 8.11.), in dem sich Bracke u.a. für die von ihm redaktionell missbilligte Veröffentlichung entschuldigte, sowie eine Bitte um Erlass der 100 Taler, die Bracke bereits bezahlt hatte, und den abschlägigen Bescheid des Herzogs. (Vf 12.11.1872).

Am letzten Synodentag erschien im Volksfreund ein anderer Bericht unter der Überschrift „Ein socialistisches Leichenbegängnis“ (Vf 26.11.1872) diesmal ohne Pfarrer aber mit Musikkorps, Fahnen, 3-4.000 Besuchern auf dem Friedhof vor dem Wendentor und scharfen Parteireden. Den Bericht benutzte der Volksfreund zur Nachricht über die Landessynode, wo der hoffentlich fruchtlose Versuch gemacht worden sei, eine Übertretung des Redeverbotes auf kirchlichen Friedhöfen unter Strafe zu stellen. Bisher war es Brauch, dass der Redner beim Ortspfarrer angemeldet werden sollte, diese Anmeldung jedoch unterblieb, aber eine Bestrafung der Übertretung allerdings auch. „Wir haben früher kein großes Vertrauen in die Freiheitsliebe unserer Landessynode, aber trotzdem bleibt es für uns fraglich, ob sie dem Antrag zustimmen wird.“ (Vf. 26.11.) Eine neue Ordnung der Begräbnisfeier wurde bald zum Hauptthema einer der nächsten Landessynoden.



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Impressum  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Synode/, Stand: August 2020, dk