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(Download des Buches als pdf: Band 1 Band 2)
Über die Geschichte der Landessynode zur herzoglichen Zeit (1869-1916)Die zweite ordentliche Landessynode 1876
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Kirchlicher Nachwuchs 1829 – 1874 | |||||||
1829-38 | 1839-48 | 1849-58 | 1859-68 | 1869-74 | Insgesamt | ||
1 | Adel | 1 | 0 | 0 | 0 | 1 | 1 |
2 | Pastor | 32 | 45 | 18 | 26 | 12 | 133 |
3 | Lehrer | 17 | 12 | 7 | 6 | 2 | 44 |
4 | Offizier | 1 | 3 | 0 | 0 | 0 | 5 |
5 | Höherer Beamter | 29 | 18 | 6 | 12 | 6 | 71 |
6 | Niederer Beamter. | 11 | 10 | 6 | 8 | 3 | 38 |
7 | Höherer Gewerbetreibender | 16 | 7 | 2 | 1 | 0 | 26 |
8 | niederer Gewerbetreibender | 42 | 8 | 9 | 10 | 6 | 75 |
9 | Oeconom | 5 | 4 | 2 | 0 | 1 | 10 |
10 | Bauer | 7 | 7 | 3 | 5 | 2 | 23 |
Insgesamt | 161 | 114 | 53 | 68 | 33 |
Die gottesdienstliche Praxis
Formal galt im Synodenjahr 1876 noch die Gottesdienstordnung aus der Kirchenordnung von Herzog Anton Ulrich aus dem Jahre 1709. Diese wurde noch 1862 von der Hofbuchhandlung als offizielle Ordnung abgedruckt. Diese Gottesdienstordnung hatte auch nach dem damaligen Verständnis schon ihre Lücken. Ein Schülerchor sollte zu Beginn das Lied „Allmächtiger Vater“ singen. Das konnte mangels Chor aber auch ausfallen. Das erste von der Gemeinde gesungene Lied war das bekannte „Allein Gott in der Höh sei Ehr“. Es folgte ein Gebet des Tages (Kollekte) und eine Lesung. Darauf gab es drei Liedvorschläge: ein Lied passend zum Kirchenjahr, danach „Wir gläuben all an einen Gott“ von Luther, es konnte aber auch „gleich vor der Predigt“ „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ oder „Liebster Jesu, wir sind hier“ gesungen werden. In den Dörfern entfielen wohl die ersten beiden Liedvorschläge, sodass die ganze sog. Eingangsliturgie aus dem Glorialied, Gebet, Lesung und Lied vor der Predigt bestand. Der Gottesdienst lief schnell auf die Predigt zu. Er hieß in der Überschrift der Agende auch „Hauptpredigt.“ Der Pastor verließ bis zum Schluss des Gottesdienstes nicht mehr die Kanzel. Nach der Predigt folgten ein Sündenbekenntnis und Absolution, Fürbittgebet, Vaterunser und Segen, alles von der Kanzel. Nach dem Segen konnte noch eine Schlusskollekte angestimmt und ein „kurzes Loblied“ gesungen werden. In der Regel aber verließen die Gemeindemitglieder spätestens nach dem Segen, meist schon nach der Predigt den Gottesdienst.
Die gedruckte Gottesdienstordnung war das eine, die sonntägliche Gottesdienstpraxis das erheblich andere. Bereits ein Jahr vor Veröffentlichung der Gottesdienstordnung von 1709 hatte Herzog Anton Ulrich bestimmt, dass der Gottesdienst nach der Predigt mit unmittelbar folgendem Vaterunser und Segen geschlossen werden konnte. Er gab damit der üblichen Unsitte in den Gottesdiensten in der Stadt Braunschweig nach.
Das hundert Jahre später eingeführte neue Gesangbuch führte die Lieder „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ und „Liebster Jesu, wir sind hier“ nicht mehr unter diesen Liedanfängen. Nur die Melodien waren geblieben, die Texte stark verändert. Das galt auch für das Eingangslied „Allein Gott in der Höh sei Ehr“.
Der im Laufe der Zeit immer mehr „vereinfachte“ Sonntagsgottesdienst bestand ein gutes Jahrhundert nur noch aus Gesängen vor und nach der Predigt, einer Lesung und dem von der Kanzel gesprochenen Vaterunser und Schlusssegen. Die sonntägliche Gottesdienstgestaltung variierte gewiss von Gemeinde zu Gemeinde nach dem Geschmack und theologischen Standort des Pfarrers, und auf dem Lande mochten einige liturgische Stücke noch länger im Gebrauch gewesen sein, aber insgesamt war der Eindruck eines liturgischen Auflösungsprozesses entstanden. Domprediger Thiele, der Sprecher der liturgischen Kommission, hatte schon 1872 die gottesdienstliche Praxis als „Trümmerfeld“ bezeichnet. In dem historischen Rückblick in den Bemerkungen des Konsistoriums zum neuen Entwurf 1878 hieß es, dass die Prediger des Landes von der gedruckten Gottesdienstordnung „mehr oder weniger abgewichen seien“ und eine „buchstäbliche Anwendung wohl niemals zu fordern gewesen“ wäre (Verhandlungen der ersten ordentlichen Landessynode 1872 Anlage 12 S. 11).
Die agendarische Vorgeschichte - Das Kirchenbuch Thieles
Nach 1817, der Dreihundertjahrfeier der Reformation, hatten die Landeskirchen einen agendarischen Frühling erlebt. 1829 erhielten die preußischen Kirchen eine neue Agende verordnet, die nassauische 1832, die badische 1836, die württembergische 1843, die bayrische 1852.
In diesem Jahr 1852 erschien auch in der Braunschweigischen Landeskirche ein neuer Agendenentwurf. In der Gottesdienstgeschichte der Braunschweigischen Landeskirche war es beispiellos, dass der Hofprediger am Braunschweiger Dom, Heinrich Thiele, 1852 ein „Kirchenbuch zum evangelischen Gottesdienst in Gebeten, Lehre und Liedern nach den Agenden der christlichen Kirchen Augsburger Confession“ von 466 Seiten drucken ließ, am Domgottesdienst einführte und die Kirchenleitung dagegen nicht einschritt. Das mag an der Sonderstellung der Domgemeinde als Hofgemeinde gelegen haben. Der sonntägliche Gottesdienst wurde wieder in eine feste liturgische Form gefügt, wobei die Gemeinde mit zahlreichen Gegengesängen am liturgischen Gesang des Pfarrers beteiligt wurde.
Der Gottesdienst begann mit einem Eingangslied der Gemeinde. Auf den Wechselgesang „Lobe den Herren, meine Seele...“ und der Antwort der Gemeinde „..und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ schloss sich auf die Bitte „Herr, handle nicht nach unsern Sünden“ das Kyrie an, auf das der Pfarrer mit einem Gnadenspruch antwortete und die Gemeinde diesen Teil mit einer Gloria patri Strophe „Gott Vater Sohn und Heilger Geist/ sei hoch gelobet und gepreist/ Von Anbeginn, zu dieser Zeit/ und bis in alle Ewigkeit“ nach der bekannten Melodie „Von Himmel hoch“ schloss.
Es folgte das Gloria in excelsis entweder durch alle vier Strophen von „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ oder vom Pfarrer mit dem folgenden „Wir loben dich, wir beten dich an“ gesungen oder gesprochen.
Auf die Lesungen von Epistel oder Evangelium sollte das apostolische Glaubensbekenntnis gemeinsam gesprochen oder das Glaubenslied Luthers „Wir glauben all an einen Gott“ gesungen werden. Nach dem Predigtlied und der Predigt folgt das allgemeine Kirchengebet, das Vaterunser, ein Kollektengebet und der Segen noch von der Kanzel.
Es war gegenüber der damaligen herkömmlichen schlichten Liturgie der festliche und die Gemeinde in reichem Maße beteiligende Charakter, der diesen Gottesdienst am Braunschweiger Dom auf manche Pfarrer anziehend und beispielhaft wirkte. Das Thielesche Gottesdienstbuch habe sich bereits in vielen Gemeinden eingebürgert, gesteht Konsistorialrat Sallentien vor der Synode.
Als das Herzogliche Konsistorium einen Entwurf für eine neue Agende erarbeitete, bediente es sich der bereits vorliegenden neuen Agenden anderer Landeskirchen und vor allem auch des Thieleschen Kirchenbuches, ohne das Buch des Dompredigers allerdings in den einleitenden Bemerkungen zu erwähnen. Thiele hatte jedoch die Genugtuung, dass seine schon seit zwei Jahrzehnten erprobte und bewährte Gottesdienstordnung zur Vorlage für die neue Braunschweiger Agende verwendet wurde.
Das Konsistorium legte der Synode zwei Entwürfe vor, für eine gesungene und eine etwas längere gesprochene Form der Eingangsliturgie. Sie unterschieden sich nicht inhaltlich. (Wilhelm Rauls sieht m.E. fälschlicherweise zwei verschiedene Agendenentwürfe)
Der Kommissionsentwurf
Die Landessynode von 1872 hatte eine liturgische Kommission gewählt, die diese Konsistorialentwürfe zusammen mit einem Mitglied des Konsistoriums bearbeiten und der nächsten Synode vorlegen sollte.
Die liturgische Kommission legte nun der Synode 1876 eine vereinfachte und textlich verschlankte Gottesdienstordnung vor. (siehe „Bericht der liturgischen Commission Anlage 12) Die Konsistorialvorlage empfahl zwei Formen, eine gesprochene und eine gesungene Form des Hauptgottesdienstes.
Die Synodenkommission strich vollständig die Fassung in der lediglich gesprochenen Form und arbeitete eine Sprechmöglichkeit in die in der Regel gesungene Form ein. Sie legte außerdem der Synode 17 Änderungsvorschläge vor, über die die Synodalen zweieinhalb Tage diskutierten. Außerdem legten jene Kommissionsmitglieder, die mit ihren Anträgen in den Kommissionsverhandlungen gescheitert waren, im Plenum noch einmal ihre Anträge vor. Auch von Seiten der Synodalen gab es eine Reihe von Änderungsanträgen.
Es waren für die Gottesdienstgeschichte der Landeskirche besondere Tage. Die Gottesdienstordnungen von 1569 und 1709 hatten der Herzöge von oben verfügt, Nun sprach zum ersten Mal die Gemeinde mit.
Die Kommission ging von drei Grundgedanken aus: (a) in der Landeskirche sollte wieder eine gemeinsame, verbindliche Liturgie üblich werden und die große „Zerfahrenheit“ beenden. (b) Das Äußere des Gottesdienstes sei „zu nüchtern“. (c) Die Gemeinde habe in den meisten Kirchen nur als Objekt dagesessen“ (Sb 7 S.2) Vortragender der Kommissionsvorschläge war nicht einer der drei Pastoren der Kommission, sondern der Wolfenbüttler Gymnasialdirektor v. Heinemann.
Die Kommission hatte eine völlig überarbeitete Gottesdienstordnung vorgelegt (Anlage 12 a)
Dabei begnügte sie sich nicht mit redaktionellen Änderungen. Die erste wesentliche Änderung betraf die Schlussliturgie. Sie sollte nicht mehr von der Kanzel, sondern vom Altar aus gehalten werden. Von dort aus sollten also das Fürbittgebet und Danksagungen, sowie Vaterunser und Segen gesprochen werden. Weiterhin wurden alle fakultativen Altargebete und Kollektengebete gestrichen, sondern jeweils eine einzige Form empfohlen. Pfarrer Skerl wiederholte seinen in der Kommission gescheiterten Antrag, statt „Lobe den Herrn meine Seele“ das uns heute geläufige Gloria patri „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist“ zu singen und zwar als Wechselgesang zwischen Liturg und Gemeinde. (Liturg: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn“ Gemeinde: „Und dem heiligen Geist“, Liturg: „Wie es war im Anfang jetzt und immerdar“ Gemeinde: „Und von Ewigkeit zu Ewigkeit“). Konsistorialrat Sallentien argumentiert dagegen, die Kirchenregierung habe „sich tunlichst an das Vorhandene“ anschließen wollen, da das Thielesche Kirchenbuch bereits in vielen Gemeinden verbreitet sei“. (Sb 7 S. 5). Der Gandersheimer Generalsuperintendent Stöter nannte die Antiphon eine „seit längeren Jahren in den meisten Kirchen unseres Landes gebrauchte Antiphone“. (ebd. S. 6) Der Abgeordnete Eimecke plädierte für die Vorlage mit dem Psalmwort, es enthalte wohlklingende, altgewohnte Worte und er bitte dringend, diese „nicht gegen unschöne Worte“, gemeint war das gloria patri, einzutauschen. Der Antrag Skerls wurde abgelehnt. Die Thielesche Kirchenordnung hatte beides: das Psalmwort und das gloria patri.
Thiele beantragte, das Kyrie nicht nur in deutscher Fassung sondern auch in griechischer Form (Kyrie eleison) auszudrucken. Das Kommissionsmitglied v. Heinemann sprach sich dagegen aus: „Weshalb solle und wolle man überhaupt die alten Trümmer aus fremden Sprachen neben der unsrigen noch festhalten?“ (Sb 7. S. 7). Ein anderer Antrag Thieles, zum Vaterunser die Betglocke anzuschlagen, wurde angenommen (Sb 11 S. 2).
Die dramatische Debatte um die Einführung des apostolischen Glaubensbekenntnisses
Eine stürmische Debatte löste der Antrag Skerls aus, das apostolische Glaubensbekenntnis in die Gottesdienstordnung aufzunehmen. Er begründete den Antrag mit einer Übereinstimmung mit den anderen Landeskirchen, die das Glaubensbekenntnis aufgenommen hätten, und die Gemeinde sollte durch die Verlesung ihre Antwort auf das Evangelium geben. Skerl hatte bereits in der Kommission diesen Antrag gestellt, aber keine Mehrheit erhalten. Der Antrag bedeutete gottesdienstgeschichtlich eine Revolution. Denn seit 1569 war das Apostolikum noch nie im Gottesdienst gebetet worden. Es war zwar aus dem Konfirmandenunterricht den Gemeindemitgliedern bekannt und hatte seinen festen Sitz im Taufgottesdienst, aber eben noch nie im sonntäglichen Hauptgottesdienst. Die Meinungen gingen im Plenum daher weit auseinander. Generalsuperintendent Stöter nannte die im Apostolikum genannten Tatsachen „unnütz“ und zwar „wenn sie nicht erklärt, schädlich, wenn sie erklärt würden“. (Sb 7 S. 9) Generalsuperintendent Steinmeyer, Braunschweig, sprach sich ebenfalls gegen den Antrag aus,. „Man müsse sich hüten, etwas zu tun, was sehr bedenklich wäre und schädlich wirken könnte.“ (ebd S. 10) Auch der Eitzumer Pfarrer Lerche lehnte den Antrag ab, weil das Apostolicum nicht erbaulich wirke, zumal die Lehre von der Erlösung Jesu Christi bei der Aufzählung der Äußerlichkeiten des Lebens Jesu gar nicht zum Ausdruck komme.
Nach diesen Wortführern der liberalen Seite sprachen sich Eggeling und Thiele für den Antrag aus, obwohl Thiele zugab, dass er auch in seinen Domgottesdiensten die Verlesung des Bekenntnisses noch nicht eingeführt habe. Auch bei Thiele gingen also die schriftliche Gottesdienstordnung und die sonntäglich Praxis auseinander.
Der Blankenburger Generalsuperintendent Rose hingegen rühmte das Apostolikum, er habe die Verlesung in seiner Gemeinde bereits vorgefunden. (Sb 8 S. 2) Von den Laien sprachen sich v. Cramm für und Staatsanwalt Ude gegen den Antrag aus. In einem Grundsatzbeitrag begründete Konsistorialrat Ernesti, warum das Konsistorium das Glaubensbekenntnis nicht in seinen Entwurf aufgenommen habe. Das Bekenntnis sollte nicht vom Pfarrer allein, sondern wenn überhaupt von der ganzen Gemeinde gesprochen werden, man wolle aber nur „langsam und allmählich“ vorgehen, obwohl eine gesetzliche Grundlage bisher fehle. Jene Gemeinden, in denen es bereits verlesen werde, sollten es allerdings beibehalten dürfen. Er empfehle daher einen fakultativen Gebrauch. Nach einer Sitzungspause modifizierte Skerl daher seinen Antrag, dass der Pfarrer das Glaubensbekenntnis im Einverständnis mit dem Kirchenvorstand verlesen könnte. (ebd. 8. Sitzung S. 6) Damit war aus der obligatorischen Vorschrift eine Kann-Vorschrift geworden, die den Gemeinden Rechnung trug, die das Apostolikum bereits eingeführt hatten und ebenfalls denen, die sich dazu noch nicht entschließen konnten. Dieser Kompromissvorschlag wurde von der Synode angenommen. Das war ein Kompromiss, der beiden Seiten gerecht wurde.
Umso erstaunlicher war es, dass bei der zweiten Lesung die liturgische Kommission scheinbar von sich aus diesen Beschluss zurückzog. „Nach reiflichem Nachdenken“ erscheine der fakultative Vorschlag „als ein sehr schlechter Ausweg zur Beseitigung der vorhandenen Differenzen“, (v. Heinemann Sb 14 S. 8) der Antragsteller Skerl meinte gar, ihm sei „durch ferneres Nachdenken klar geworden“, dass sein Antrag „nur zum Verderben führe“ (ebd. S. 9). Stattdessen schlug die liturgische Kommission nun vor, das apostolische Glaubensbekenntnis an allen hohen Festtagen vom Pfarrer sprechen und an allen Sonntagen folgendes „Bekenntnislied“ singen zu lassen: „(Nach der Melodie: Es ist das Heil uns kommen her) Du treuer Gott sein hoch gepreist/ Hast uns dein Wort gegeben/ Gott Vater, Sohn und Heilger Geist/ Du unser Licht und Leben/ Wir glauben und bekennen Dich/ Und unsre Seele hofft auf dich/ Stärk uns den Glauben. Amen“. Erstaunlicherweise gab es zu diesem Text keine einzige Wortmeldung. Aber die Abgeordneten Rohde und Wolff kämpften um den Erhalt des Glaubensbekenntnisses an jedem Sonntag in den Gemeinden, wo es bereits seit 21 Jahren üblich sei und durch den Beschluss nun hinfällig würde. v. Heinemann erwiderte kühl, die Verlesung sei bisher ungesetzlich gewesen, „man müsse der Willkür ein Ende machen und zu verhüten suchen, dass unter Angabe von Gewissensbedenken Unregelmäßigkeiten in den Gottesdienst eingeführt würden“ (ebd. S. 10).
Wem noch nicht klar war, wie es zu diesem Stimmungsumschwung gekommen war, wurde durch den Diskussionsbeitrag von Staatsminister Geheimrat Dr. Trieps aufgeklärt, der als den Standpunkt der Kirchenregierung, also des Herzogs und des Staatsministeriums ausführte: eine fakultative Einführung sei für ihn „sehr bedenklich“ und „kaum annehmbar“. Er begrüßte den Kommissionsvorschlag und setzte hinzu, der Landesherr habe nach dem Augsburger Bekenntnis „mit seiner Synode“ „die Gebräuche zu bestimmen und diesen Bestimmungen müsse sich Jedermann, der zur Kirche gehören wolle, willig unterwerfen“. (ebd). Das war nun eine offene Drohung und für jeden Synodalen klar, dass die liturgische Kommission auf Grund dieses Druckes auf die Idee des Glaubensliedes gekommen war. Trieps forderte zudem eine einstimmige Annahme des neuen Kommissionsantrages. Das war faktisch ein schwerer Eingriff in die Selbständigkeit der Landessynode, der für innerkirchliche Angelegenheiten Entscheidungsfreiheit zugesichert und dem Staat nur in staatlich/kirchlich „gemischten“ Angelegenheiten ein Einmischungsrecht zugestanden war. Trieps vermied den Eindruck einer Einmischung, indem er sich erst am vermeintlichen Ende der Diskussion zu Worte gemeldet hatte.
Die Diskussion war aber nicht am Ende, denn unbeeindruckt meldete sich der Abgeordnete Bode zu Wort und trug im Namen zahlreicher Laien in der Synode als Antrag vor, dass der neue Kommissionsantrag anstößig sei und die Synode beschließen solle, dass durch die Verlesung des Apostolikums im Gottesdienst kein Protestant genötigt wäre, die dort aufgezählten Tatsachen auch zu glauben. Bode hatte diesen Antrag schon in der ersten Lesung gestellt. Um die massierte liberale Laienfront zu beruhigen, gab Konsistorialrat Ernesti die Erklärung ab, dass aus der Aufnahme des Apostolikums in die Gottesdienstordnung „nach Ansicht des Kirchenregiments eine Berechtigung zur Bedrückung der Gewissen nicht abgeleitet werden“ könne. „Das Bekenntnis ist überhaupt norma normata, nicht normans credendorum“. (ebd. S. 11) Das war theologisch eine sehr problematische Antwort, denn die theologische Wendung von norma normans und norma normata bezog sich auf das Verhältnis von Schrift und Bekenntnis. Die Heilige Schrift sei norma normans und das Bekenntnis im Verhältnis zur Bibel eben nur eine abgeleitete Norm, eine norma normata. Mit dem Glauben der Gottesdienstgemeinde hatte diese theologische Wendung nichts zu tun. Aber Ernesti behauptete nun auf lateinisch, das Bekenntnis binde nicht den Gläubigen, sei keine „Norm der Gläubigen“. Das blieb von den überzeugten Lutheranern ungerügt, aber diese Erklärung hob noch nicht den Antrag des Abgeordneten Bode auf, der nach wie vor die vom Staatsminister erwünschte Einstimmigkeit gefährdete. Daher bat der Staatsminister Trieps erneut ums Wort und warnte „dringend“ vor einer Beschlussfassung im Sinne von Bode. Es war der auch sonst vermittelnde Abgeordnete Oesterreich, der Ernesti fragte, ob er seine Erklärung zu Protokoll geben könne, und als dieser bejahte, den entsprechenden Antrag stellte, der angenommen wurde, woraufhin Bode seinen Antrag zurückzog. Nun mehr wurde der Kommissionsantrag einstimmig, wie das Protokoll im Druck gesperrt hervorhob, und von Staatsminister Trieps gefordert war, von der Landessynode angenommen.
In der folgenden Literatur wurde sowohl der Beschluss der ersten Lesung und die problematische Rolle von Staatsminister Trieps übergangen und die Einfügung des Bekenntnisliedes als Ausweg einer Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Lutheranern dargestellt, was die Synodenverhandlungen reichlich schief darstellt. (so Beste, Geschichte der Braunschweigischen Landeskirche, 1889 S. 671; Wilhelm Rauls, Die Ordnung des Hauptgottesdienstes o.D.S.10).
In zwei Lesungen wurden die Gottesdienstordnungen auch für Gründonnerstag, Karfreitag und den Bußtag angenommen.
Die Aussprache über den künftigen Hauptgottesdienst wurde am 6. Dezember unbegründet unterbrochen und eine Denkschrift der Kirchenregierung vorgelegt.
Die Denkschrift der Kirchenregierung
Die Landessynode hatte auf ihrer ersten Sitzung die Kirchenregierung um eine grundsätzliche Stellungnahme zum Verhältnis der staatlichen Einwirkung auf die synodale Gesetzgebung gebeten. Dazu legte der Kirchenkommissar Trieps der 2. Landessynode eine Denkschrift vor (Anlage 11), zu der die Landessynode gutachterlich gehört werden sollte. In seiner Eröffnungsrede hatte Trieps die Thematik dieser Denkschrift ausdrücklich als einen für die Kirche „doch sehr wichtige(n) Gegenstand“ genannt, nämlich die Beseitigung der Zweifel, welche über das Verhältnis der staatlichen und kirchlichen Gesetzgebung erhoben sind.“ (Sb 1 S. 3)
Die neun Seiten lange Denkschrift hatte den Titel „Pro Memoria über das Verhältnis der Landes- und Kirchengesetzgebung“. Die Denkschrift ging von der Landschaftsordnung von 1832 aus, in der die selbständige Bedeutung der Kirchengewalt anerkannt worden war und unterschied drei verschiedene Sachgebiete: die rein staatlichen, die rein kirchlichen und die sog. „res mixta“, also Gegenstände, die beide Bereiche betreffen würden. Die rein geistlichen Angelegenheiten blieben der Kirchengewalt überlassen. „Positive Bestimmungen über Lehre und Cultus dürfen daher n u r (in der Denkschrift gesperrt gedruckt) von der Kirchengewalt ausgehen. (Anlage 11 S. 3) Im dritten Bereich der gemischten Angelegenheiten bemerkt die Denkschrift entgegenkommend: „Sicher handelt derselbe (der Staat) nur dann im Sinne und Geiste der Landesverfassung, wenn er sich auf die im staatlichen Interesse erforderlichen absoluten Normen gebietenden und verbietenden Inhalts beschränkt, die Regulierung der inneren kirchlichen Verhältnisse hingegen der Kirche und Kirchengewalt überlässt. Bezüglich staatlicher Eingriffsmöglichkeiten gab sich auch im Folgenden die Denkschrift zurückhaltend. Der Staat müsse „sich mäßigen und ohne Noth der Kirche nicht vorgreifen“, wenn sich die Kirche „glücklich entfalten“ solle. (Anlage 11 S. 5) Die Denkschrift verwies sogar auf die kirchliche Tradition, dass „im Bezug auf die rein geistlichen Angelegenheiten die Kirchengewalt gegenüber dem Staat bereits vor 1871 selbständig gewesen sei. (Anlage 11 S. 4) Andere Bemerkungen verwiesen dagegen auf eine einseitige Behauptung ausschließlich staatlicher Hoheit und Rechte auch in kirchlichen Angelegenheiten. Es sei nämlich ein Irrtum anzunehmen, „dass sich mit Leichtigkeit und Sicherheit erkennen ließe, welche Bestimmungen von der Staatsgewalt, welche andere hingegen von der Kirchengewalt ihren Ursprung herleiten.“ (Anlage 11 S. 7) Bei näherer Erwägung werde man sich leicht überzeugen, so die Denkschrift, dass überall landesgesetzliche Vorschriften in Frage stünden. (Anlage 11 S. 6) Danach gab es überhaupt keine „gemischten“ Angelegenheiten, nicht einmal „rein“ geistliche. Bei der historisch engen Verflechtung von Staat und Kirche war diese Behauptung auch zutreffend, sie ließ allerdings nicht erkennen, dass sie die der Landschaftsordnung von 1832 zugrunde liegende Absicht der Entflechtung nachkommen wollte. Der von der Landessynode erhofften Regelung, dass sie selber Kirchengesetze beschließen und auch in einem eigenen Organ publizieren könne, erteilte die Denkschrift eine klare Absage. Dazu berief sich die Denkschrift auf die in der Landschaftsordnung von 1832 festgeschriebene „Oberaufsicht der Kirchengewalt“, und definierte sie als „Oberaufsicht der Landesregierung“. Es ist zweifelhaft, ob damit Geist und Absicht der Landschaftsordnung getroffen worden war.
Wieder einmal war an dieser Denkschrift besonders wichtig, was nicht beschrieben worden war, nämlich: Wer ist Inhaber der Kirchengewalt und was bedeutet sie für die Selbständigkeitsbestrebungen der Landessynode. Die Kirchengewalt lag nämlich ungeteilt und unangefochten beim Herzog. Es wäre zukunftsweisend gewesen, bei innerkirchlichen Gesetzen, die Lehre und Kultus betrafen, die Kirchengewalt zu teilen und einen Teil der Synode zu überlassen. Die Denkschrift behauptete nun faktisch, dass die Kirchengewalt vom Herzog auf die Landesregierung übergegangen sei, was eine juristisch überaus zweifelhafte Überlegung war und eine lebhafte Debatte in der Synode hätte auslösen können, wenn die Synodalen auf S. 9 der Anlage lasen: „Damit die staatlichen Oberaufsichtsrechte keine Schmälerung erleiden können, ist es sachgemäß und notwendig, die bis jetzt übliche Publikationsweise für die Kirchengesetze beizubehalten“. Es sollte sich also in diesen Kleinigkeiten überhaupt nichts ändern.
Am 6. Dezember 1876, der 10. Sitzung berichtete der Synodale Staatsanwalt Ude von den Beratungen in der synodalen Kommission, der noch die Synodalen Bode, Braunschweig, Oesterreich, Skerl und Thiele angehörten. Die Kommission vertrat nun nicht, wie zu erwarten gewesen war, entschlossen die reformerischen Absichten der Synode, sondern schloss sich ohne einen einzigen kritischen Einwand den problematischen Ausführungen der Denkschrift an. Von den zahlreichen Anregungen und Fragestellungen aus der Debatte der vorhergehenden Synode war keine Rede mehr. Die Synode verzichtete auf eine Debatte. Das hing weithin damit zusammen, dass der Synodale Schmid, der energische Wortführer für eine weitgehende Selbständigkeit der Synode gegenüber der Regierung, fehlte. Das Protokoll vermerkte keine Abmeldung und keinen Abwesenheitsgrund. Lediglich der Synodale Bode meldete sich als einziger zu Worte und spießte, obwohl Kommissionsmitglied, das Verhältnis Staat und Kirche an dem denkbar nebensächlichsten Gegenstand, der Diätenregelung, auf. Seine Behauptung, die freie Selbstbestimmung der Kirche stünde „so ziemlich in der Luft“ war zwar eine spitzfindige Schlussfolgerung, mochte aber die Synodalen nicht zu weiteren Wortmeldungen provozieren, auch nicht als Kirchenkommissar Trieps sich in seiner Erwiderung zu dem Satz verstieg, der Kirche seien in der Denkschrift „die weitesten Befugnisse eingeräumt und sie könne sich gewiss nicht beklagen, aber der Staat müsse immer das letzte Wort und das Recht haben, auch die Statuten der Kirche beseitigen zu können.“ (Sb 10 S. 5). Diese spontane Erwiderung gab die präzise Meinung des Staatsministeriums und des Kirchenkommissars wieder und hätte die streckenweise langatmigen Ausführungen der Denkschrift ersetzen können. Während der Synodalberatungen gab Kirchenkommissar Trieps ein deftiges Beispiele für eine Einmischung des Staates selbst in die Angelegenheiten der Liturgie der Kirche, nämlich bei der Diskussion über die Einfügung des apostolischen Glaubensbekenntnisses in den sonntäglichen Hauptgottesdienst.
Die Evangelische Kirchenzeitung bedauerte in ihrem Synodalkommentar, dass der Staatsgesetzgebung durch die Denkschrift „gar keine Schranken“ gezogen wären (Sp. 101) und keine Bedenken von der orthodoxen Rechten geäußert worden seien. „Auch wer in der Zwangsjacke steckt, könne die Augenlider frei bewegen.“ (Ev. Kirchenzeitung 1877 Sp. 97-102; Sp.143-147, hier Sp. 102)
Mit einem schönen versöhnlichen Bild beendete Kirchenkommissar Eduard Trieps die Verhandlungen und gab den Synodalen ein Zeugnis seiner persönlichen Frömmigkeit. Wie ein Licht nach allen Seiten strahle, so strahle auch Christus, das „Zentrallicht“ der Kirche nach allen Seiten, also nicht nur nach der lutherischen-orthodoxen. Trieps zu den Synodalen:
„Sie verdanken den glücklichen Erfolg dem hohen Ernste, von welchem alle Mitglieder dieser hochwürdigen Synode durchdrungen waren und dem dadurch allseitig hervorgerufenen Bewusstsein, dass die Genossen einer kirchlichen Gesammtheit sich ja wohl zu der ihnen gemeinsamen Leuchte des Evangeliums in verschiedenen Stellungen befinden mögen, ohne schon deshalb wirkliche oder feindliche Gegner zu sein. Das Centrallicht, auf welches sämmtliche Glieder ihre Blicke richten, damit das Auge erhellt werde, sendet seine Strahlen nach allen Seiten aus und jeder Sterbliche wird sich sagen müssen, dass es gerade die ergänzende Gemeinschaft ist, welche die so leicht möglichen Mängel der individuellen Standpunkte zu beseitigen mag. Sie, meine hochgeehrten Herren, haben demgemäß in treuer Hingebung an die Sache sich gegenseitig die brüderliche Hand gereicht und die auf Ihrem einstimmigen Beschlusse beruhende Gottesdienst-Ordnung ist das erfreuliche Resultat Ihrer Tätigkeit.“ (Anlage 25)
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